Biomediziner Jacob H. Hanna programmiert Körperzellen neu
Stammzellen sind Zellen im Urzustand, die sich zu verschiedenen Arten von Körperzellen entwickeln können. Eines ihrer Charakteristika ist die Fähigkeit, Tochterzellen zu bilden, die ihrerseits wieder Stammzell-
eigenschaften aufweisen. Seit Langem bekannt sind die blutbildenden Stammzellen, die im Knochenmark gebildet werden. Sie dienen seit mehr als vier Jahrzehnten dazu, um bei Leukämiepatienten nach einer erfolgreichen Krebsbehandlung das Blut zu regenerieren. Zudem verfügt der Körper über eine Reihe von Stammzelldepots, die für lokale Regenerations- und Reparaturmaßnahmen abgerufen werden können. Sie wurden bisher in etwa 20 Organen nachgewiesen, darunter in der Haut, der Leber, im Herzen und im Gehirn. All diese körpereigenen Vorläuferzellen heißen auch adulte Stammzellen. Sie sind für ein begrenztes Aufgabenspektrum vorprogrammiert, im Gegensatz zu den pluripotenten embryonalen Stammzellen, die sich zu jeder Art von Körperzelle entwickeln können. Einzige Ausnahme: die embryonalen Anteile der Plazenta.
Im Jahr 1981 wurden erstmals embryonale Stammzellen aus der Blastozyste (Embryo im frühesten Stadium) einer Maus isoliert. Der britische Genetiker Martin Evans nutzte diese Zellen zur Entschlüsselung des Mausgenoms und zum Studium von Krankheiten. Für seine Forschungen wurde Evans 2007 zusammen mit Mario Capecchi und Oliver Smithies mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichnet. 1998 veröffentlichte der US-Zellbiologe James Thomson eine erste Studie über die erfolgreiche Kultivierung von Stammzelllinien aus sieben Tage alten humanen Blastozysten und markierte damit den Beginn der Forschungen an embryonalen Stammzellen. Die Embryonen waren bei In-vitro-Fertilisationen im Labor entstanden, aber den Spenderinnen nicht eingepflanzt worden. Seither rankt sich um diese überzähligen Embryonen, die bei der Gewinnung von embryonalen Stammzellen vernichtet werden, eine ethische Debatte.
Bisher ist es Forschern nicht gelungen, diese Stammellen auf effiziente Weise in ihrem Ursprungszustand zu bewahren. Die Alternative zu embryonalen Stammzellen die induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) stößt auf ähnliche Beschränkungen. Obwohl sich diese Zellen in viele verschiedene Zelltypen differenzieren können, zeigen sie Anzeichen eines primings einer Festlegung auf einen bestimmten Zelltyp. Forschern des israelischen Weizmann Instituts gelang es kürzlich, dieses Hindernis zu beseitigen.
Seit es dem Japaner Shinya Yamanaka 2006 gelang, iPS-Zellen aus Hautzellen der Maus und im Jahr darauf auch eines Menschen zu züchten, werden die pluripotenten Stammzellen als ethisch vertretbarer und praktischer Ersatz für embryonale Stammzellen gepriesen. Yamanaka konnte die biologische Uhr der Hautzellen bis nahe an den embryonalen Startpunkt zurückdrehen aber nicht ganz. Jacob Hanna vom israelischen Weizmann Institut gelang es nun, iPS-Zellen zu entwickeln, die embryonalen Stammzellen in allen Eigenschaften völlig ebenvürtig sind. Dies könnte unter anderem den Weg für die künftige Züchtung von Transplantationsorganen auf Bestellung bereiten. Inzwischen macht das Forschungsfeld neue Schlagzeilen: Ende Jänner berichteten japanische Forscher im Wissenschaftsjournal Nature von einer neuen, besonders einfachen Methode der Reprogrammierung. Sie konnten nachweisen, dass sich Körperzellen der Maus allein durch Stressfaktoren in ihrer Umwelt, wie etwa durch einen niedrigen pH-Wert, in ihren embryonalen Urzustand zurückversetzen lassen.
profil: Sie und Ihre Forschungsgruppe haben im Wissenschaftsjournal Nature viel beachtete Arbeiten publiziert, die zeigen, wie man Stammzellen wesentlich leichter und effizienter gewinnen kann. War dieser Prozess bisher so schwierig?
Jacob H. Hanna: Ja, und zwar sowohl bei embryonalen als auch bei den sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen, kurz iPS-Zellen, die durch Reprogrammierung normaler Körperzellen gewonnen werden. Beide Zelltypen haben ein enormes Potenzial für die Behandlung oder Heilung vieler Krankheiten und für die Züchtung von Transplantationsorganen.
profil: Gegen die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus menschlichen Embryonen gibt es in vielen Ländern ethische Bedenken, weil dabei Embryonen vernichtet werden, die in den Augen der Kritiker menschliches Leben darstellen.
Hanna: Deshalb war die Entwicklung von iPS-Zellen durch den Japaner Shinya Yamanaka eine willkommene Alternative, die 2012 mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichnet wurde.
profil: Aber warum ist es so schwer, zu brauchbaren Stammzellen zu kommen?
Hanna: Bei der Gewinnung von embryonalen Stammzellen besteht die Schwierigkeit darin, dass sich diese Zellen im Labor rasch verändern und ihren Status der Pluripotenz verlieren. Das ist die Fähigkeit, sich zu jeder Art von Körperzelle zu entwickeln.
profil: Und bei den künstlich entwickelten iPS-Zellen?
Hanna: Da läuft der Prozess der Reprogrammierung von normalen Körperzellen frustrierend langsam, ineffizient und nicht synchron ab, sodass nur wenige Zellen den Status der Pluripotenz erreichen. Und die dabei gewonnenen Stammzellen sind noch nicht für medizinische Zwecke einsetzbar.
profil: Wie ist es Yamanaka gelungen, normale Hautzellen zu reprogrammieren und in den Status von Stammzellen zurückzuversetzen?
Hanna: Er hat vier Kontrollgene identifiziert, welche die Reprogrammierung dieser Zellen bewerkstelligen können. Die mittels Retroviren in die Zell-DNA eingeschleusten Gene greifen in die Epigenetik der Zelle ein, also in den Schaltapparat der Gene.
profil: Eine Art Reprogrammierung gab es ja schon 1996 beim Klonschaf Dolly.
Hanna: Nur wussten die beteiligten Wissenschafter damals nicht, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, dass aus dem Zellkern eines erwachsenen Schafes neues Leben entstand. Die Forscher hatten den Kern einer Euterzelle in die entkernte Eizelle eines anderen Schafes transferiert. Das Fachmagazin Science schrieb damals von magischen Kräften. Heute weiß man dank Yamanaka, welche Kräfte das waren, aber wir wissen noch nicht, wie der Prozess genau abläuft.
profil: Dolly war das erste geklonte Säugetier, aber es gab doch schon davor ähnliche Experimente?
Hanna: Ja, solche Kerntransfers gelangen dem britischen Entwicklungsbiologen John Gurdon schon 1962, weshalb Gurdon gemeinsam mit Yamanaka den Medizinnobelpreis erhielt. Er hatte seine Experimente an Fröschen durchgeführt und später nachgewiesen, dass prinzipiell eine Rückprogrammierung der meisten Körperzellen möglich ist. Aber durch Yamanakas Entdeckung der induzierten pluripotenten Stammzellen ist die Technik des Zellkerntransfers obsolet geworden.
profil: Obwohl die iPS-Technik so ineffizient ist, wie Sie sagen?
Hanna: Das ist derzeit so. Aber meiner Forschungsgruppe ist in diesem Bereich eine dramatische Verbesserung gelungen. Wir haben eine Art Bremse entdeckt, welche die Produktion von Stammzellen behindert. Und wir haben herausgefunden, dass man durch Lockerung dieser Bremse erstens den Prozess der Reprogrammierung synchronisieren und zweitens seine Effizienz von derzeit höchstens einem auf 100 Prozent steigern kann. Diese Entdeckung könnte die Produktion von Stammzellen für medizinische Anwendungen erheblich erleichtern und unser Verständnis von dem rätselhaften Prozess erweitern, durch den normale, ausgereifte Körperzellen in ihren embryonalen Urzustand rückversetzt werden.
profil: Wie sind Sie auf diese Bremse gestoßen?
Hanna: Ich hatte mich schon am Whitehead Institute in den USA mit der Frage beschäftigt, was daran schuld sein könnte, dass der Reprogrammierungsprozess bei der Mehrzahl der Körperzellen so ineffizient abläuft. Mithilfe eines speziellen mathematischen Modells habe ich herausgefunden, dass es nur ein singuläres Hindernis sein kann. Mir war natürlich klar, dass dieses Ergebnis noch eines experimentellen Beweises bedurfte, und den haben wir im vergangenen September in einer Nature-Publikation geliefert.
profil: Was genau behindert den Reprogrammierungsprozess?
Hanna: Zusammen mit Genetikern des Weizmann Instituts haben wir uns ein Protein mit der Bezeichnung MBD3 angeschaut, dessen Funktion unbekannt war. MBD3 hatte die Aufmerksamkeit der Kollegen erweckt, weil es in jedem Entwicklungsstadium von Körperzellen exprimiert ist.
profil: Normalerweise gibt es das nicht?
Hanna: Generell werden die meisten Arten von Proteinen in spezifischen Zellen zu bestimmten Zeiten und für spezifische Funktionen produziert. Die einzige Ausnahme von dieser universellen Regel sind die ersten drei Tage nach der Konzeption. Das ist exakt jene Phase, in der sich die befruchtete Eizelle zu teilen beginnt. Sie bildet eine kleine Blase mit pluripotenten Stammzellen, aus denen sich jede Art von Körperzellen entwickeln kann. Am vierten Tag beginnt die Differenzierung, so dass die Zellen ihr Stadium der Pluripotenz verlieren. Und das ist genau der Zeitpunkt, wo das MBD3-Protein erstmals auftaucht.
profil: Und diese Bremse entfernen Sie?
Hanna: Ja, und das hat enorme Implikationen für die Entwicklung von iPS-Zellen für medizinische Zwecke. Wir konnten zeigen, dass sich die Effizienzrate der Reprogrammierung durch Entfernung des MBD3-Proteins um etliche Zehnerpotenzen vergrößern lässt. Die Produktionszeit verringerte sich von vier Wochen auf acht Tage.
profil: Aber die Frage, die sich stellt, ist doch: Sind diese iPS-Stammzellen von gleicher Qualität wie embryonale Stammzellen, und können sie sich genauso zu jeder Art von Körpergewebe entwickeln?
Hanna: Bei Mäusen können wir Körperzellen in den Urzustand rückprogrammieren, die keinerlei Vorprägung zeigen, also naiv sind, wie wir sagen, und die von embryonalen Stammzellen tatsächlich nicht zu unterscheiden sind.
profil: Auch nicht hinsichtlich ihrer Fähigkeiten?
Hanna: Richtig. Solche Unterschiede gab es in älteren Studien, die unter mangelhaften technischen Bedingungen durchgeführt wurden. Aber seit diese technischen Probleme gelöst sind, gibt es keinen Unterschied.
profil: Und wie ist das bei menschlichen Zellen?
Hanna: Wir können naive, also in keiner Weise vorgeprägte Zellen entweder von menschlichen Embryonen oder von induzierten pluripotenten Stammzellen gewinnen. Diese sind von jenen Zellen, die wir von der Maus gewonnen haben, absolut nicht zu unterscheiden. Beide Zelltypen können sich in jede Richtung entwickeln, deshalb heißen auch die iPS-Zellen pluripotent.
profil: So gesehen bedarf es gar keiner embryonalen Stammzellen mehr?
Hanna: Doch, wir benötigen sie für Forschungen. Unsere neuen Erkenntnisse über die Reprogrammierung von Körperzellen fußen auf dem Studium der natürlichen embryonalen Entwicklung. Wir können enorm davon profitieren, wenn wir besser verstehen, wie embryonale Stammzellen in der Natur produziert werden. Denn am besten und effizientesten macht das noch immer die Natur.
profil: Sie versuchen auch, am Mausmodell humane Krankheiten zu studieren?
Hanna: Wenn wir die humanen naiven Zellen in eine Blastozyste der Maus injizieren, können wir Embryos bekommen, die Elemente für humanes Körpergewebe in sich tragen. Weil die Zellen naiv sind, könnten sie uns eine Plattform bieten, um Krankheiten in anderen Lebewesen zu modellieren und dadurch auch für die Entwicklung von Therapien zu lernen. Das hat, wie wir glauben, großes Potenzial, aber unsere diesbezüglichen Forschungen stehen noch ziemlich am Anfang.
profil: Yamanaka will aus iPS-Zellen eine Stammzellenbank aufbauen. Halten Sie das für einen gangbaren Weg?
Hanna: Sie können von jedem Patienten iPS-Zellen herstellen, also total personalisiert. Derzeit können wir allerdings nicht beantworten, wie viele Tests nötig sind, um diese Zellen zu züchten, und welche davon am besten geeignet für eine Therapie sind. Weil die Zellen sehr heterogen sind, müssen Sie schauen, wie sich die Chromosomen verhalten. Yamanaka sagt, das könnte alles sehr aufwendig und schwierig sein. Daher denkt er an eine Stammzellenbank.
profil: Wie kann man sich das vorstellen?
Hanna: Er sagt, wenn wir eine Stammzellenbank von, sagen wir, 3000 Personen aufbauen, könnten wir vielleicht alle genetischen Backgrounds einer Population abdecken, sodass die Zellen quasi semipersonalisiert sind und statistisch jeder Patient genetische Eigenschaften aufweist, die mit den Zellen in der Bank übereinstimmen. Das ist ein möglicher Zugang, aber ich glaube, dass die Umsetzung schwierig wird.
profil: Haben Sie eine andere Idee?
Hanna: Die beiden Forschungsfelder embryonale Stammzellen und reprogrammierte Zellen haben sich lange parallel entwickelt. Aber jetzt kommt es allmählich zu einer Verschmelzung der beiden Bereiche. Auch embryonale Stammzellen sind nicht perfekt, wir wollen sie verbessern. Meiner Meinung nach sind drei Dinge zu tun: Erstens gilt es, iPS-Zellen sehr effektiv von Patienten zu gewinnen. Zweitens muss man gewissermaßen die Reset-Taste drücken und diese Zellen in ein naives Stadium bringen. Drittens sind Protokolle zu entwickeln, nach denen sich diese Zellen exakt in die gewünschte Richtung entwickeln. Wir sind sicher, dass wir irgendwann dorthin kommen werden.
profil: Erlauben Sie abschließend noch eine politische Frage: Sie sind Palästinenser, arbeiten aber in einem israelischen Forschungsinstitut. Macht Ihnen das Probleme in Ihrer Volksgruppe?
Hanna: Ich bin palästinensischer Israeli, also israelischer Staatsbürger. Ich werde von palästinensischer Seite kritisiert, ich würde das Verhältnis zu einer Besatzungsmacht normalisieren. Ich versuche, mit einem Krankenhaus in den palästinensischen Autonomiegebieten zusammenzuarbeiten, aber das ist nicht leicht. Ich habe hier Forschungsmöglichkeiten, wie es sie nur an wenigen Plätzen der Welt gibt, aber betrachte meine Arbeit nicht als politischen Akt.
Zur Person
Jacob H. Hanna, 34, leitet seit drei Jahren ein Forschungslabor für pluripotente Stammzellen und epigenetische Reprogrammierung am Weizmann Institute for Science in Rehovot bei Tel Aviv, einem der führenden multidisziplinären Forschungsinstitute der Welt. Hanna stammt aus einer Palästinenserfamilie mit Wurzeln im Irak und in Syrien. Er studierte Medizin und Immunologie an der Hebrew University in Jerusalem und absolvierte einen vierjährigen Forschungsaufenthalt beim deutschen Stammzellenforscher Rudolf Jaenisch am Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge, Massachusetts, und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Im vergangenen Herbst publizierte die von ihm geleitete Gruppe im Wissenschaftsjournal Nature Arbeiten über bahnbrechende neue Technologien, welche die Gewinnung von induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) erheblich leichter sowie effizienter machen und einer therapeutischen Anwendung näher bringen können.