Als Zeitpunkt des Kippens haben die Niederländer das Jahr 2075 berechnet. Wie realistisch ist das?
Maraun
Durchaus realistisch. Es könnte sogar früher passieren als 2075 – wenn wir nicht schleunigst die Emissionen senken.
Es gibt dauernd neue Klimastudien. Warum wird gerade diese so heiß diskutiert?
Maraun
Weil sie zum ersten Mal mit einem sehr komplexen globalen Klimamodell durchspielt, was passiert, wenn immer mehr Süßwasser in den Atlantik fließt. Sie zeigt, wie die Zirkulation irgendwann anfängt zu kippen und innerhalb weniger Jahrzehnte deutlich schwächer wird.
Die niederländischen Forscher rund um Studienautor René van Westen haben es dramatisch formuliert
Maraun
Die Frage ist, wie weit man die konkreten Zahlen ernst nehmen kann, die hier rauskommen. Es bleibt unklar, bei welchen Temperaturen genau der Kipppunkt überschritten werden könnte. Dass es in Norwegen im Winter bis zu 30 Grad kälter werden könnte, halte ich für zu hoch gegriffen. Modelle sind nicht perfekt. Um wirklich robuste Ergebnisse zu bekommen, müsste man das mit mehreren Modellen rechnen. Aber weil das so teuer ist, konnte man das bisher nur mit einem einzigen Modell durchführen.
Ist das wissenschaftlich überhaupt redlich?
Maraun
Ja. Man darf die Relevanz dieser Studie nicht unterschätzen. Wenn man mit ganz normalen Klimamodellen die nächsten 100, 150 Jahre in die Zukunft rechnet, sieht man, wie sich die Zirkulation abschwächt. Der Kipppunkt liegt hier bei einer Klimaerwärmung zwischen 1,5 und acht Grad. Das ist eine riesengroße Unsicherheitsspanne. Das heißt, wenn wir Pech haben, braucht es nur wenig weitere Erwärmung, bis es zum Kipppunkt kommt. Wenn wir Glück haben, dauert es noch deutlich länger. Die neue Studie hat dieses Verhalten nun sehr detailliert untersucht und gezeigt, dass der Kipppunkt womöglich am gefährlichen unteren Ende des Spektrums liegt.
Nehmen wir an, das passiert tatsächlich so. Was würde das konkret für das Weltklima bedeuten?
Maraun
Die meisten Modelle sagen, das würde den Klimawandel in Europa abschwächen, manche sagen, das würde ihn so kompensieren, dass die Temperaturen nicht weiter ansteigen. Aber es reicht nicht, nur auf die Temperaturen zu schauen. Die Meereszirkulation transportiert Wärme von der Südhalbkugel auf die Nordhalbkugel. Die Regenbänder, die über den Tropen liegen, würden sich weiter nach Süden verschieben. Dann könnte in Afrika und über dem Amazonas der Monsunregen ausfallen, weil er dann über dem Atlantik ins Wasser fallen würde. Das würde im Atlantikraum und den angrenzenden Kontinenten eine Änderung hervorbringen, die sicherlich nicht positiv ist.
Welche Folgen hätte es für Europa?
Maraun
Nach dieser Studie würde sich Europa dramatisch abkühlen, teilweise um 20 bis 30 Grad. Aber ich denke, dass die Zahlen übertrieben sind. Wenn sich jedoch die Temperaturen am Boden tatsächlich sehr stark abkühlen, steigt weniger warme Luft in die Atmosphäre auf.
Das wäre also ein positiver Effekt?
Maraun
Ja. Das würde bedeuten, dass die Gewitterneigung und die Zunahme an extremem Regen, den wir in Europa aufgrund des Klimawandels erwarten, gar nicht so stark eintreten würde.
Wenn die Temperaturen zu hoch gegriffen sind, wie glaubwürdig ist diese Studie dann?
Maraun
Die Zahlen ergeben sich durch das genutzte Klimamodell. Aber wenn es darum geht, diese Zahlen ganz konkret zu interpretieren, muss man noch mal darauf hinweisen, dass sie nur auf einem einzigen Modell basieren. Die Evidenz, die wir aus anderen Studien haben, sagt uns aber, dass dieses Modell am Rand dessen liegt, was plausibel ist. Wenn hier also eine Abkühlung von 30 Grad auftaucht, dann bezweifle ich das. Für Europa insgesamt ergibt sich aus der Studie eine Abkühlung von drei bis fünf Grad, je nach Jahreszeit. Diese würde dem Klimawandel entgegenwirken.
Douglas Maraun
"Wenn wir den Klimawandel in den Griff bekommen, kann es sein, dass dieses Kippen gar nicht passieren wird."
Wien wird in der Studie extra erwähnt. Wie kalt wird es hier?
Maraun
Für die Bundeshauptstadt dürfte es kaum Folgen geben, da geht die Studie von einem Grad Abkühlung im Sommer und von sieben Grad im Winter aus. Wenn man nun annimmt, dass die Zahlen in Wirklichkeit nur halb so groß sind, dann hätten wir drei Grad kältere Winter als im Klimawandel erwartet und im Sommer einen ganz schwachen Einfluss.
Alles eitel Wonne also?
Maraun
Nein. Die Studie hat bestätigt, dass dieser Kipppunkt real ist. Die Vermutung mancher Klimaforscher, dass das vielleicht ein Fehler in den Modellen sei und dieses Kippen gar nicht stattfindet, hat sich als falsch herausgestellt. Aber wir wissen nicht, wann es passiert. Wenn wir Glück haben und die Menschheit den Klimawandel in den Griff bekommt, kann es sein, dass dieses Kippen gar nicht passieren wird.