Corona: Erleben wir gerade eine zweite Infektionswelle?
Erleben wir gerade eine zweite Infektionswelle?
Kein Wissenschafter hört das Schlagwort von der „zweiten Welle“ gerne. Denn es handelt sich nicht um einen klar definierten Begriff, daher existieren auch keine Kriterien, welche Umstände dafür entscheidend wären. Sicher ist jedoch: Zuletzt stiegen die Infektionszahlen empfindlich an, was man durchaus als Beginn einer neuen Welle betrachten könnte. Pro Tag kamen zuletzt im Schnitt rund 650 positiv getestete Personen hinzu, an einzelnen Tagen waren es fast 1000. „Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. In der Bevölkerung zirkulieren derzeit weit mehr SARS-Coronaviren als zu Sommerbeginn“, sagt der Wiener Virologe Norbert Nowotny. Kritisch wird es spätestens dann, wenn die Nachverfolgbarkeit der Fälle nicht mehr gewährleistet ist und die Behörden beim Contact Tracing an Grenzen stoßen – aufgrund der steigenden Fallzahlen sowie systemischer Schwachstellen beim Erfassen und Auswerten der Daten. Wenn Menschen, wie derzeit häufig beklagt wird, tagelang auf Testergebnisse warten müssen und in dieser Zeit womöglich weiterhin infektiös sind, vergrößert dies das Problem noch. Momentan deute daher viel auf regionale Lockdowns oder zumindest verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens hin, so Nowotny.
Wird nicht lediglich mehr getestet?
Oft ist zu hören, es gebe gar keinen realen Anstieg der Infektionen. Stattdessen würden aufgrund höherer Testdichte lediglich viel mehr Fälle registriert. Dieses Argument ist nicht Zutreffend. Zwar wird derzeit deutlich mehr getestet als etwa im Frühjahr; wurden Anfang Mai um die 6000 Tests pro Tag durchgeführt, sind es inzwischen ungefähr doppelt so viele. Doch die Zahl der Tests liegt schon seit einigen Wochen relativ konstant bei täglich 10.000 bis 12.000, dennoch ist jene der Infizierten im selben Zeitraum kontinuierlich gestiegen: von rund 250 Mitte August auf 841 am 18. September. Der jüngste Anstieg ist somit unabhängig von der inzwischen höheren Testdichte und schlicht auf eine stärkere Verbreitung des Virus zurückzuführen. Auch eine mitunter erhobene Forderung ist im Grunde abwegig: Man möge aufhören, symptomfreie Personen zu testen, weil diese Praxis die Zahlen nur künstlich in die Höhe treibe. Wer mit dem Coronavirus infiziert ist, aber keine Beschwerden zeigt, mag eine Spur weniger ansteckend sein als jemand, der schwerer erkrankt ist, weitergeben kann er das Virus dennoch. Wenn das Ziel des Testens darin besteht, die Verbreitung des Virus zu messen sowie die Infektionsketten zu unterbrechen, ist es daher selbstverständlich sinnvoll, auch Infizierte ohne Symptome aufzuspüren.
Wie kam es zum plötzlichen Anstieg der Fallzahlen?
So plötzlich ist der Anstieg gar nicht. Er hat sich über den Sommer allmählich aufgebaut, und das Schlüsselwort lautet: Party – ob am Donaukanal oder im Raum Split. Nach den Lockerungen im Frühsommer dachten wohl viele Menschen, der Spuk sei vorbei, scherten sich nicht mehr besonders um Vorsichtsmaßnahmen und ließen es unbesorgt krachen. Österreichs Politik tat das Ihre dazu, indem sie Großveranstaltungen erlaubte, halbherzige Maskenregelungen einführte, die Partytiger gewähren ließ und bis vorige Woche noch immer tolerierte, dass ausgelassene Feten in privaten Clubs stattfinden – was Experten für nachgerade bizarr halten. Denn es ist sinnlos, neuerlich flächendeckend Masken vorzuschreiben und sperrige Regeln für den Schulbetrieb auszutüfteln, wenn man gleichzeitig just jene Zonen außer Acht lässt, in denen das Gros der Ausbrüche üblicherweise stattfindet. Mittlerweile sollte sich herumgesprochen haben, dass das Virus nicht gleichförmig durch die Gesellschaft wandert und einzelne kurze Kontakte beim Einkaufen oder in der U-Bahn kaum bedeutend sind, wohl aber große Ansammlungen vieler Menschen auf engem Raum und über eine längere Zeitspanne, sei es auf einer Partymeile, sei es in einem Gebetsraum. Brüllen, Singen und die Anwesenheit sogenannter Superspreader sind dabei jene Hebel, die eine Feier flott in ein Cluster verwandeln, wobei sich oft auf einen Schlag Dutzende Menschen anstecken. Das ist das dominierende Ausbreitungsprinzip von SARS-CoV-2. Deutschland beispielsweise war zuletzt deutlich umsichtiger, das Regelwerk für Gastronomie, Einkauf und Veranstaltungen ungleich strenger, was nun im Verhältnis weitaus geringere Infektionszahlen zur Folge hat.
Warum waren nur wenige Infizierte krank?
In Österreich gab man sich wochenlang demonstrativ sorglos: Die Zahlen waren über den Sommer eher niedrig, die Infizierten jung, schwere Erkrankungen blieben weitgehend aus. Notorische Skeptiker begannen triumphierend mit Statistiken zu wedeln und zu fragen, wieso es denn kaum noch Kranke und Tote gebe. Die Antwort ist simpel: Der Altersschnitt der Infizierten betrug um die 30 Jahre – es handelte sich eben um jene, die gern feiern gingen und deren Organismus zumeist stark genug ist, um eine Virusinfektion wegzustecken, zumindest kurzfristig. Eine Rolle spielen könnte außerdem, dass mittlerweile Mutationen des Virus in Umlauf sind, die sich vom ursprünglichen Typ unterscheiden. Sie dürften, so die Annahme, zwar ansteckender sein, aber weniger schwere Symptome hervorrufen. Ob diese These tatsächlich zutrifft, wird von Forschern noch diskutiert. Überraschend wäre eine derartige Veränderung eines Erregers grundsätzlich nicht, sondern vielmehr eine typische Anpassung eines Virus an den menschlichen Körper. Denn für den Fortbestand eines Virus ist es von Vorteil, möglichst viele Wirte zu finden, ohne diese aber zu sehr zu schädigen.
Wo ist das Problem, wenn nur Junge betroffen sind?
Eine Konzentration der Infektionen auf die Gruppe der 20- bis 30-Jährigen war zwar über den Sommer zu beobachten, derzeit zeichnet sich aber eine Verschiebung bei den Altersklassen ab: Nun sind wieder vermehrt ältere Menschen betroffen, und das ist keine Überraschung. Denn je höher die Gesamtzahl der Infektionen ist, desto eher finden sich unter den Infizierten,
rein statistisch, auch Personen höheren Alters. Zeigen die Kurven weiterhin nach oben, wird es künftig daher noch mehr Risikopatienten geben, auch solche mit schweren Verlaufsformen – und zwar unabhängig von der Virusvariante. Auch steigt die Zahl derer, die eine Spitalbehandlung benötigen, wieder merklich an. Mehr als 300 Personen wurden vorige Woche in Krankenhäusern versorgt, wobei die Infektionsabteilungen im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital bereits ausgelastet waren und jene im Krankenhaus Nord allmählich an Kapazitätsgrenzen gelangten.
Was ist jetzt zu tun?
Sowenig erfreulich es klingt: Es gilt, all jene Regeln zu beherzigen, die zuletzt eher vernachlässigt wurden: Abstand halten, zusätzlich Masken tragen, Handhygiene, nach Möglichkeit daheim arbeiten, große Menschenansammlungen und wilde Partys meiden. Speziell Kindern und älteren Menschen wird überdies die Grippeimpfung empfohlen – die Altersgruppen dazwischen brauchen sie nicht unbedingt. Für eine Mehrheit der Bevölkerung wäre ohnehin nicht genügend Impfstoff vorhanden; die bestellten Mengen reichen für etwa 14 Prozent der Österreicher. Personen über 65 Jahre sollten prüfen, ob sie bereits gegen Pneumokokken geimpft sind oder nicht. Denn so wie das Coronavirus schädigen auch die Pneumokokken die Lunge, weshalb es sinnvoll ist, sich gegen jene Infektionskrankheiten zu wappnen, gegen die Immunisierungen möglich sind. All dies mag beschwerlich und lästig sein, ist aber zurzeit alternativlos, sagt Virologe Nowotny: „Wir alle haben das Cornonavirus satt, ich ebenfalls. Aber es nützt leider nichts, wir sind mit diesem Virus eben konfrontiert.“