Corona-Forschung: Große Unbekannte
Manchmal fühlt sich Herwig Kollaritsch in diesen Tagen leicht genervt, und zwar dann, wenn Infektionsexperten wie er konkrete Zahlen, solide Prognosen und harte Evidenz liefern sollen. „Wir haben aber fast keine wissenschaftliche Evidenz“, sagt Kollaritsch, Professor für Tropenmedizin an der Medizinischen Universität Wien und derzeit Berater im Krisenstab der Regierung. „Es handelt sich eben um ein neues Virus. Was wir heute wissen, kann in sechs Monaten widerlegt sein.“
Ähnlich äußert sich Barbara Friesenecker, Anästhesistin und Intensivmedizinerin an der Medizinischen Universität Innsbruck sowie Vorsitzende der ARGE Ethik: „Es ergeben sich täglich neue Sichtweisen. Man muss ständig damit rechnen, dass bisheriges Wissen überholt ist, weil wir dazulernen.“
Die Welt lernt zurzeit sogar recht schnell dazu, wie die rapide wachsende Zahl der Fachpublikationen zu SARS-CoV-2 und Covid-19 zeigt. Woche für Woche schickt das deutsche Science Media Center, das wissenschaftliche Studien für Journalisten aufbereitet, eine Liste mit Titeln und kurzen Zusammenfassungen der jüngsten Artikel aus. Diese Übersicht umfasste vorige Woche 37 Seiten.
Wissen in unablässigem Wandel
Das Wissen ist in unablässigem Wandel begriffen, bestenfalls vorläufig, und alle, die mit dem Thema befasst sind – Politiker, Ärzte, Journalisten oder Forscher –, müssen einräumen, bereits Fehlannahmen getroffen und ihre Meinungen mehrfach revidiert zu haben. Es ist gerade ein paar Wochen her und wirkt doch wie aus einer anderen Welt, dass wir erkennen mussten, was exponentielles Wachstum im realen Leben bedeutet; dass wir die damals noch leicht überschaubaren Erkrankungszahlen leichthin mit vertrauten Risiken des Alltags verglichen; dass wir Parallelen zur saisonalen Grippe zogen.
Niemand, der ernsthaft auf die Fakten blickt, macht das heute noch: „Alle Kollegen, die am Krankenbett stehen, merken längst, dass Covid-19 ganz anders ist als Influenza“, sagt Friesenecker. Denn anders als jene Zeitgenossen behaupten, die sich gerade im trotzigen Verkünden alternativer Meinungen gefallen, sind die Todesraten eben nicht annähernd gleich, sondern im Falle von Covid-19 bei moderater Schätzung zumindest um das Fünffache höher. Zudem trifft das Virus das Immunsystem einer Weltbevölkerung, die damit noch nie Kontakt hatte – ähnlich indigenen Gruppen in Nord- und Südamerika, denen die Europäer einst grippale Infekte als Gastgeschenk mitbrachten. Letztere husteten ein wenig, Erstere starben daran.
Je massiver die Pandemie über den Globus schwappt, desto rascher zerrinnen anfangs scheinbar klare Muster. So tritt immer deutlicher zutage, dass keineswegs nur alte Menschen mit chronischen Erkrankungen von schweren Verläufen oder tödlichem Ausgang bedroht sind. Nun werden immer mehr Fälle von Patienten mit ganz anderem Profil bekannt: keine 50 Jahre alt, im Wesentlichen gesund. Dennoch leiden sie tagelang an hohem Fieber oder landen sogar auf der Intensivstation. Mitunter sind sogar Geschichten innerhalb einer Familie krass verschieden: Ein Mann, Mitte 50, muss an die Herz-Lungen-Maschine, während seine Frau keinerlei Symptome zeigt. US-Daten belegen, dass etwa sieben Prozent der 19- bis 64-Jährigen in Kliniken behandelt werden müssen.
Variation der Symptomatik
Darunter muss sich eine nennenswerte Zahl von Menschen befinden, die nicht in die klassische Risikogruppe fallen. Woran liegt das? Man kann nur spekulieren: Vor ein paar Wochen gab es 10.000 Erkrankte, heute ist es etwa eine Million. Allein die massiv gestiegene Zahl bedingt, dass auch atypische Verläufe öfter vorkommen. Mehr Fälle bedeuten zwangsläufig mehr Variation der Symptomatik. Zudem laborieren auch jüngere Menschen an Grunderkrankungen, die manchmal eine Supprimierung des Immunsystems erfordern. Ein neuartiges Virus könnte ihnen besonders zusetzen, ähnlich wie solchen Personen, die vielleicht nur einen grippalen Infekt verschleppt haben. Weiters dürfte starkes Übergewicht auch bei Jüngeren ein Risikofaktor sein, berichtet Kollaritsch. Eventuell könnten überdies Koinfektionen mit der saisonalen Grippe auftreten und Patienten doppelt belasten. Dagegen spricht indes, dass zum Beispiel in Innsbruck Patienten gezielt darauf getestet werden. In jedem Fall verbietet die Tatsache, dass auch Jüngere schwer getroffen werden können, die mitunter geforderte Strategie, nur alte Menschen zu isolieren und sonst dem Leben seinen gewohnten Lauf zu lassen.
Viele Umstände sind rätselhaft – so auch die Beobachtung, dass sich die Schwere der Erkrankung manchmal sehr schnell drastisch verändert: Binnen eines Tages kann jemand, der nur leichtes Unwohlsein verspürte, zum Fall für die Intensivstation werden.
Warum? Ungewiss. Es handelt sich vermutlich um eine der Eigenheiten des Virus, das somit noch für böse Überraschungen sorgen kann und allein deshalb sehr ernst genommen werden muss. Ebenso setzte sich die Annahme in den Köpfen fest, dass Kinder praktisch geschützt vor ernsten Folgen der Infektion sind. Das trifft leider nicht immer zu: Mittlerweile sind Todesfälle dokumentiert, und auch die Möglichkeit einer Übertragung von schwangeren Frauen auf Kinder erscheint gesichert: In einer Stichprobe von 33 chinesischen Neugeborenen, alle per Kaiserschnitt zur Welt gebracht, waren drei positiv. Zum Glück erholten sich alle.
Zudem werden ständig verlässliche Angaben über die Dunkelziffer an Infizierten eingefordert. Dann werden ganz unterschiedliche Zahlen in die Diskussion geworfen. Sechs von sieben Fällen seien unbekannt, hieß es einmal; andere Berechnungen gingen von einem Faktor 50 oder noch höher aus. Was also stimmt? Muss man die Anzahl der erfassten Infizierten verdoppeln? Verfünffachen? Oder greift sogar der Faktor 20?
Dynamisches Geschehen
„All das ist so sicher wie Kaffeesudlesen“, sagt Kollaritsch. Es fehlen Instrumente, um den Wert auch nur einigermaßen zuverlässig zu bestimmen. Man müsste dafür Querschnittsstudien anstellen und alle ein bis zwei Wochen ein neues Patientenkollektiv untersuchen, wobei stets ein dynamisches Geschehen zu berücksichtigen wäre: Infektion, Inkubationszeit, Erkrankung, die Phase danach – all das ist in Bewegung.
Momentan weiß man, dass etwa eine von vier getesteten Personen positiv ist. Darf man diese Werte auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen? Nein, denn Menschen ohne Symptome sind damit nicht erfasst, weil sie nicht getestet werden, wo doch gerade sie epidemiologisch von Bedeutung wären, weil darunter auch solche sind, die das Virus unwissentlich übertragen. Dass man nun, wie vorige Woche vermeldet, ein Sample von 2000 Personen im Detail studiere, so Kollaritsch, sei „als Idee richtig, aber nicht ausreichend“.
Es ist nicht zu erwarten, dass das Ergebnis eine realistische Vorstellung vom Ausmaß der Dunkelziffer vermittelt. Auch die Hoffnung, dass Antikörpertests das Rätsel lösen, erscheint verfrüht. Oft sind sie zu unspezifisch, um eine vorangegangene Infektion mit SARS-CoV-2 ohne Zweifel auszuweisen. „Wenn nur fünf Prozent falsch positiv getestet werden, ist das Ergebnis grob falsch, wenn man es auf die Gesamtbevölkerung umlegt“, sagt Kollaritsch.
Lassen sich vielleicht wertvolle Erkenntnisse aus dem Geschehen auf der „Diamond Princess“ gewinnen, jenem Kreuzfahrtschiff, auf dem das Virus grassierte? Besatzung und Passagiere wurden unter Quarantäne gestellt und genau beobachtet, sodass man hier eine Situation wie in einem Laborexperiment hatte.
Resultat: Rund 700 von 3711 Personen waren infiziert, also etwa 20 Prozent. 18 Prozent der Infizierten blieben symptomfrei, die Case fatality ratio (Todesrate) betrug 1,1 Prozent. Ist nun eine Verallgemeinerung dieser Daten zulässig? Stecken sich demnach 1,6 Millionen Österreicher an? Und werden in der Folge rund 16.000 sterben? Nicht ausgeschlossen, aber belastbar sind solche Schlüsse nicht.
Die Kreuzfahrtpassagiere waren deutlich älter als der Bevölkerungsschnitt, und durch den engen Kontakt auf dem Schiff kam es vermutlich zu besonders vielen Übertragungen.
Verwirrender Ländervergleich
Verwirrung stiftet auch der Blick auf die Entwicklungen in anderen Ländern, und das müssen nicht nur Hotspots wie Italien und Spanien sein. Zum Beispiel die Niederlande: kaum mehr registrierte Infizierte als Österreich, aber mit 1175 Toten am Donnerstag der Vorwoche acht Mal so viele Opfer. Oder Schweden: offiziell bloß 5000 Virusträger am selben Tag, aber fast doppelt so viele Tote wie in Österreich.
Verhält sich das Virus dort anders? Kaum, denn es wurden zwar mehrere Stämme nachgewiesen, aber diese sind genetisch so eng verwandt, dass Mutationen noch keine Rolle spielen. Viel wahrscheinlicher ist, dass diese Länder nicht so genau hinsehen, also viel zu wenig testen – und die tatsächliche Zahl der Kranken um ein Vielfaches höher liegt.
Allein die Todesraten sind außerdem ein Indikator dafür, wie klug der in Schweden gewählte Sonderweg war, der auch bei uns manchmal vorgeschlagen wird: kein kompletter Lockdown – die Menschen mögen als vernunftbegabte Wesen selbst für eine Eindämmung sorgen, nur die Alten gelte es speziell zu schützen. „Es ist gar nicht möglich, die vulnerable Population über Monate zu separieren“, sagt Herwig Kollaritsch: „Der Blutzoll wird einfach zu hoch.“ Dabei hat Schweden aufgrund der dünnen Besiedelung außerhalb der Städte wohl noch Glück.
Oder blicken wir auf die Schweiz, die selten erwähnt wird: 8000 erfasste Erkrankungen mehr als in Österreich, gut drei Mal mehr Tote. Und auch die vergleichsweise geringe Anzahl an Infizierten in Ländern wie Kroatien, die an Norditalien grenzen, ist wohl hauptsächlich auf die schwache Testdichte zurückzuführen.
"Wir werden in einem fragilen Gleichgewicht leben müssen"
Insgesamt sind wir mit sehr viel Ungewissheit konfrontiert, was zur Vorsicht mahnt, selbst wenn es letztlich nicht so schlimm kommen sollte. Daher erscheint es angebracht, die Maßnahmen nur behutsam zu lockern und nötigenfalls nachzujustieren, bei gleichzeitig penibler Überwachung der Konsequenzen.
„Wir werden in dieser Hinsicht demnächst in einem fragilen Gleichgewicht leben müssen“, meint Kollaritsch. Freilich hat sich die Welt auch kaum auf eine solche Situation vorbereitet, obwohl Wissenschafter seit Langem vor Pandemien wie der aktuellen warnen. Im Oktober des Vorjahres spielten US-Forscher den Ausbruch einer fiktiven Seuche durch – und zogen dafür just ein Coronavirus heran, das von China ausging. Im Anschluss konstatierten sie, dass wir globalen biologischen Bedrohungen schlicht zu wenig Augenmerk widmen. Die Pharmaforschung hätte sich längst rüsten müssen, so Kollaritsch: So wäre es sinnvoll gewesen, Impfstoffe gegen die verwandten Erreger SARS und MERS so weit zu entwickeln, dass jetzt nur noch letzte Studienphasen vonnöten gewesen wären – genau so, wie es bei der Vogelgrippe geschah. Bei den Coronaviren sei die Forschung jedoch stecken geblieben, sagt Kollaritsch: „Das wird uns hoffentlich eine Lehre sein.“
So befinden wir uns momentan in der verstörenden Situation, dass ein simples Virus, das durch einen dummen Zufall vom Tier zum Menschen gelangt ist, das Leben auf dem Planeten aus der Bahn wirft. Wir sind es nicht gewohnt, die Dinge nicht beeinflussen zu können und nur ansatzweise zu verstehen, was gerade vorgeht. Vermutlich ist genau diese Ratlosigkeit besonders schwer zu akzeptieren,weshalb wir erst recht Gewissheit in Form konkreter Zeitpläne und sofort wirksamer Lösungen verlangen.
Tatsächlich jedoch hantelt sich die Welt von Tag zu Tag und irrt sich beständig, hoffentlich mit der Zeit seltener. Es schwingt wohl auch eine Kränkung des humanen Stolzes mit: Wir sind gerade ziemlich machtlos gegen etwas, das nicht einmal als eigene Lebensform gilt und nur unter leistungsstarken Mikroskopen sichtbar ist. Umso mehr fordern wir ein, was zurzeit nur sehr eingeschränkt zu haben ist: Kontrolle und Klarheit.