Corona-Impfung: Alles über AstraZeneca

Die Behörden empfehlen die weitere Anwendung des umstrittenen Impfstoffs. Ist das nachvollziehbar? Die wichtigsten Fakten im kompakten Überblick.

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Wann entsteht eine Thrombose?

Wenn sich in einem Blutgefäß ein Gerinnsel bildet – ein Thrombus, der das Gefäß verstopft. Meist sind Venen betroffen: Blutgefäße, die Blut zum Herz zurückleiten. Oft sind Bein- oder Beckenvenen beeinträchtigt, Folge kann eine Lungenembolie sein. Als Risikofaktoren gelten neben genetischen Faktoren Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen, langes Sitzen, etwa bei Langstreckenflügen, sowie Hormonpräparate wie die Pille. Gravierendere Erkrankungen fallen in die Klasse der Thromboembolien. Generell wird deren Häufigkeit (die Hintergrundinzidenz) mit etwa zwei Fällen pro 10.000 Personen beziffert. Zuletzt wurde die Frage debattiert, ob auch Covid-Impfstoffe das Risiko erhöhen, an Thromboembolien zu erkranken. Für eine belastbare Antwort muss man zunächst zwei Varianten dieser Erkrankung unterscheiden.

Wie kam der Verdacht einer Gefahr auf?

Die Sache kam ins Rollen, als vorvergangene Woche Thrombosen verschiedener Schweregrade publik wurden. Die Frage war: Häufen sich solche Fälle unter Geimpften? Oder könnte man ähnliche Fallzahlen auch in Zeiten ohne Impfung erwarten? Bis Donnerstag voriger Woche meldete die Arzneimittelbehörde EMA in Zusammenhang mit AstraZeneca 469 Fälle thromboembolischer Ereignisse: 191 davon betrafen den EU-Raum, der Rest entfiel auf Großbritannien.

Vergleichen wir mit der Hintergrundinzidenz: Rund 500 Fälle bei rund 20 Millionen Geimpften in der EU und England ergeben circa 0,25 pro 10.000 – also viel weniger als generell erwartbar, was eventuell an „Underreporting“ liegt: Es werden längst nicht alle Nebenwirkungen gemeldet. Sicher ist aber wohl: Ein erhöhtes Risiko liegt im Bereich allgemeiner Thromboembolien nicht vor. Daher gab die EMA in der Hinsicht Entwarnung: Die Impfung bedeute kein zusätzliches Risiko.

Warum haben dann viele Länder die Impfung mit AstraZeneca ausgesetzt?

Weil anschließend eine spezielle Variante von Thrombosen bemerkt wurde: die Sinus- oder Hirnvenenthrombose. Dabei verschließt ein Blutgerinnsel eine Hirnvene, wodurch sich Blut in Hirngefäßen staut, was eine zwar sehr seltene, aber schwerwiegende Komplikation ist. Hier sieht die Datenlage  anders aus: Allein Deutschland meldete bis Ende der Vorwoche 13 solche Fälle bei 1,7 Millionen Impfungen. Erwartbar wären zwei bis fünf Fälle pro Million Einwohner und Jahr. Es gibt zwar auch Studien, welche die Häufigkeit mit jährlich 13 bis 15 pro Million angeben, doch Deutschland hat diese Zahlen beinahe in wenigen Wochen erreicht. Sie sind daher auf jeden Fall alarmierend, zumal gewiss weitere Meldungen folgen werden.

Und es gab weitere Auffälligkeiten: Betroffen sind vorwiegend Frauen zwischen 20 und 50 Jahren. Die norwegischen Behörden sprachen von einem neunfachen Anstieg des Risikos bei jüngeren Frauen. Zusammen mit Hirnvenenthrombosen trat außerdem in vielen Fällen Thrombozytopenie auf: ein spontaner Abfall der Zahl der Blutplättchen. Diese Kombination halten Experten für extrem ungewöhnlich. „Da muss man wirklich in die Tiefe gehen und gründlich untersuchen“, meint der Wiener Virologe Norbert Nowotny.

Dasselbe Muster wurde aus skandinavischen Ländern berichtet – und aus Österreich, wo in Zwettl der erste europäische Todesfall nach einer Thrombose erfasst wurde. Auffällig ist hier außerdem der vorläufige Obduktionsbefund: Man fand bei der Krankenpflegerin multiple Thrombosen im ganzen Körper sowie massive Gerinnsel im Bauchraum in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen. Insgesamt wurden in Österreich, wiewohl offiziell nicht publiziert, bis Ende der Vorwoche zehn Fälle ernsthafter Thrombosen registriert, darunter eine Hirnvenenthrombose.

Wieso wurde das bisher nicht entdeckt?

Bei Sinusvenenthrombosen handelt es sich trotz aller Dramatik eben um sehr seltene Ereignisse. Man muss offenbar mehr als eine Million Menschen impfen, um überhaupt darauf zu stoßen. Klinische Studien schließen um die 30.000 Teilnehmer ein – sehr viele, aber statistisch nicht genug, um solche Fälle aufspüren zu können.

Ist der AstraZeneca-Impfstoff nun schuld?

Eine Kausalität lässt sich weder behaupten noch ausschließen. Denkbar sind mehrere Erklärungen: Zum Beispiel traten in England im Vergleich zu Deutschland wenige Hirnvenenthrombosen auf: fünf unter mehr als zehn Millionen mit AstraZeneca Geimpften. Nur deshalb konnte die EMA Ende der Vorwoche von einer Gesamtzahl von 18 Hirnvenenthrombosen bei rund 20 Millionen Geimpften in der EU und England sprechen – und folgern, die Hintergrundinzidenz (zwei bis fünf pro Million) werde nicht überschritten. Statistisch ist das richtig, vernachlässigt aber die enorme Häufung in Deutschland. Womöglich lautet des Rätsels Lösung: In England wurden mit dem Impfstoff vorwiegend ältere Personen geimpft, in Deutschland war AstraZeneca für diese anfangs gar nicht zugelassen. Stattdessen kam schwerpunktmäßig jüngeres Lehr-, Spitals- und Pflegepersonal zum Zug. Dieses ist häufig weiblich, und ausgerechnet Frauen in dieser Altersgruppe haben ein höheres Risiko für Thromboembolien. Hypothetisch könnte die unterschiedliche Häufigkeit der Krankheitsfälle in den beiden Ländern also schlicht an der Zusammensetzung der geimpften Population liegen. Doch auch blanker Zufall kann eine Rolle spielen: Bei so geringen Fallzahlen genügt es, wenn in einem Monat zufällig drei Fälle mehr als im Schnitt auftreten, um die Statistik nach oben zu schieben – ohne dass ein plausibler Grund vorliegt.

Könnte es einen plausiblen Zusammenhang zur Impfung geben?

Ja, aber auch hier handelt es sich um eine Hypothese. Mediziner erinnern die Fälle an ein Phänomen namens HIT: Bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie reagiert der Körper auf das zur Blutverdünnung verabreichte Medikament Heparin mit der Bildung von Antikörpern gegen die eigenen Blutplättchen (Thrombozyten). Dadurch neigt er einerseits zu Gefäßverschlüssen und andererseits zum Verbluten. Auch bei Covid-Patienten wurden solche Immunreaktionen beobachtet. Denkbar wäre, dass die Impfung eine ähnliche Kaskade anstößt: dass ein Bestandteil des Vakzins eine Abwehrreaktion auslöst, die wiederum Thrombosen hervorruft. Vergangenen Freitag berichteten Forscher der Universität Greifswald, den konkreten Mechanismus nachgewiesen zu haben – er sei vergleichbar der Blutgerinnung bei einer Wundheilung.

Was ergibt nun die Risikoabwägung?

Wir sind in sehr seltenen Fällen mit einer gravierenden und bisweilen tödlichen Krankheit konfrontiert, die eine schwere Nebenwirkung des Vakzins sein kann. In Deutschland gibt es eine Häufung, die statistisch das erwartbare Ausmaß übersteigt oder zumindest dessen oberen Rand berührt. Allerdings: Die Gefahr eines schweren oder tödlichen Verlaufs einer Covid-Infektion ist wesentlich größer – und ebenso das Risiko für Thromboembolien. Selbst bei jüngeren Personen, die von den Nebenwirkungen am stärksten betroffen zu sein scheinen, versterben etwa 0,1 Prozent der Infizierten am Virus: 1000 Personen von einer Million, während es zu einer einstelligen Zahl von Hirnvenenthrombosen pro Million kommt. Gezielt jüngere Frauen von der Impfung auszunehmen, hält Virologe Nowotny für keine gute Idee: Besonders von der ansteckenderen und auch gefährlicheren britischen Virusvariante seien vermehrt jüngere Gruppen betroffen.

Wie ist die Entscheidung der EMA nun einzuordnen?

Als prinzipiell nachvollziehbar, zumal die Arzneimittelbehörde nun den Beipackzettel mit einem Warnhinweis versehen hat. Für Patienten heißt das: Wer nach der Impfung unter Atemlosigkeit, Schmerzen in Brust oder Bauch, Schwellung oder Kälte in Armen oder Beinen, lange unter schweren Kopfschmerzen oder verschwommener Sicht leidet beziehungsweise viele kleine blaue Flecken entdeckt, sollte umgehend zum Arzt. Dieser kann testen, ob zu wenig Blutplättchen oder jene Antikörper vorhanden sind, die auf die extrem seltene Sinusthrombose hindeuten – und diese auch behandeln.