Jacinda Ardern will die Wirtschaft beleben

Corona-Vorbilder: Warum Finnland, Taiwan und Neuseeland die Pandemie im Griff haben

Staaten wie Neuseeland, Finnland und Taiwan halten die Pandemie erfolgreich in Schach, ohne erneut in den Lockdown zu gehen. Wie schaffen sie das?

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Die Bilder wirken surreal, wie aus einer anderen Zeit: Zehntausende Menschen besuchten die Gay Pride Parade Ende Oktober in Taiwans Hauptstadt Taipeh. Dicht gedrängt schob sich das Partyvolk durch die Straßen der Metropole, viele recken Schilder in die Höhe: "Free hugs" boten sie an, kostenlose Umarmungen für alle. "Die Pandemie hält uns nicht auf",sagte Teilnehmer Chen Yen-shuo in einem Interview mit dem Fernsehsender NBC. Knapp 100 Leute habe er in der vergangenen Stunde umarmt. Masken sah man auf der Regenbogenparade vergleichsweise wenig, stattdessen eng tanzende Menschen, viel nackte Haut und bunt schillernde Gewänder.

Taiwan ist in der von Corona geplagten Welt eine Insel der Seligen. Von den 24 Millionen Einwohnern infizierten sich seit Ausbruch der Pandemie 607, sieben starben nachweislich an Covid-19. "Den letzten, nicht von Reisenden eingeschleppten Corona-Fall gab es im April", sagt Bennis So von der National Chengchi University in Taipeh. Während die Fallzahlen in Österreich und Europa explodieren, geht das Leben in Taiwan, Thailand, Hongkong, Südkorea, Vietnam, China, Australien und Neuseeland relativ normal weiter. Auch deren Wirtschaft hat sich nach dem Ausbruch im Frühjahr erstaunlich schnell aufgerappelt. Aber nicht nur Ostasien und Ozeanien haben das Virus gut im Griff-auch in Europa gibt es eine Ausnahme. Finnland ist das einzige Land der EU, dessen Corona-Ampel nicht rot leuchtet. Mit welchen Strategien haben diese Länder die Pandemie gemeistert?

Mit 46.049 Rugby-Fans war das Eden Stadium in Auckland Ende Oktober voll bis auf den letzten Platz. Die All Blacks, Neuseelands verehrte Nationalmannschaft, gaben dem Publikum allen Grund zum Jubeln: Sie fegten ihre Erzrivalen, die australischen Wallabies, mit einem sensationellen Sieg von 27:7 vom Platz. Die Zuschauer grölten, fielen sich in die Arme, küssten sich. Die Corona-Masken fehlten-ebenso wie die Fans der Wallabies. Neuseeland hat seine Grenzen für Touristen im März dichtgemacht. Heimkehrer und Arbeiter aus dem Ausland müssen ausnahmslos in zweiwöchige Quarantäne, in von der Regierung organisierten Hotels. Einem harten, fünfwöchigen Lockdown im Frühjahr folgten schrittweise Lockerungen, seither verläuft das Leben in dem Inselstaat weitgehend normal.

"Go hard and go early", früh und hart kämpfen, das war von Anfang an das Motto von Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern. Unermüdlich predigt sie dieses Mantra seit Ausbruch der Pandemie. Als im August in Auckland ein Covid-Fall auftauchte, den man nicht zurückverfolgen konnte, sperrte Ardern die größte Stadt des Landes binnen 24 Stunden zu. Bis heute weiß man nicht, woher das Virus kam, das in einer Kirche kursiert war und am Ende 170 Menschen infiziert hatte. Nach drei Wochen war der Spuk vorbei, die Metropole mit 1,6 Millionen Einwohnern wieder coronafrei. Am 13. November wiederholte sich das Spiel: Eine 24-jährige Studentin war positiv getestet worden, aber die Beamten des Contact-Tracing konnten den Ursprung der Infektion partout nicht finden. Ein partieller Shutdown zwang 100.000 Menschen ins Homeoffice. Einen Tag später folgte die Entwarnung: Eine Genanalyse des Virus hatte gezeigt, dass sich die junge Frau bei einem bereits bekannten Cluster aus einem Quarantäne-Hotel angesteckt hatte. Die Konsequenz für die Bewohner Aucklands: Seit vergangener Woche müssen sie in öffentlichen Verkehrsmitteln wieder Masken tragen. "Jede noch so kleine Glut im Keim ersticken, das haben wir Neuseeländer verinnerlicht", sagt die Gesundheitssoziologin Annemarie Jutel aus der Hauptstadt Wellington.

"Jacinda", so nennen alle die Premierministerin, habe durch ihr hartes Durchgreifen keinesfalls an Beliebtheit verloren. Mitte Oktober holte Ardern mit ihrer Labour Partei die absolute Mehrheit im Parlament. Gibt es denn gar kein Murren unter den Kiwis, wie sich das Inselvolk selber nennt? "Gejammert wird hier immer, aber Proteste gibt es keine", sagt Soziologin Jutel. Dazu gibt es auch wenig Grund: Die befürchtete Wirtschaftskrise blieb weitgehend aus, die Arbeitslosenquote stieg im Vergleich zum Vorjahr um einen Prozentpunkt auf überschaubare 5,3 Prozent. Nun ist Neuseeland ebenso wie Taiwan eine Insel, deren Grenzen weitaus besser zu kontrollieren sind als jene in Europa. Doch auch auf unserem Kontinent hat es ein Land geschafft, sich erfolgreich gegen das Virus zu stemmen. Finnland leuchtet als einziger Staat Europas nicht rot auf der Corona-Ampel-manche Regionen sind sogar grün eingefärbt. Shoppen ist erlaubt, Bars und Restaurants haben geöffnet, die Kinder gehen in die Schule. Während Österreich mit mehr als 1000 Infektionen pro 100.000 Einwohner ringt, sind es in Finnland gerade einmal 55. Dabei ist es umringt von Staaten mit hohen Infektionszahlen. Russland und Schweden übertreffen Finnland um ein Vielfaches, und sogar Norwegen hat doppelt so viele Fälle.

"Jede noch so kleine Glut im Keim ersticken." Annemarie Jutel, Victoria University, Wellington



Die Finnen machen vieles richtig: Mit der jungen Ministerpräsidentin Sanna Marin haben sie eine exzellente Krisenmanagerin. Pandemiepläne werden in Finnland seit dem Zweiten Weltkrieg sehr ernst genommen, weshalb das Land im Frühjahr besser vorbereitet war als der Rest Europas-so fehlte es zum Beispiel nie an Schutzausrüstung. Im Sommer haben die Finnen ihre Hausaufgaben gemacht: "Wir haben unsere Testkapazitäten stark ausgeweitet und können nun bei Bedarf 20.000 Menschen pro Tag testen", sagt der Pekka Nuorti, Epidemiologe an der Universität in Tampere. Er hat mehr als 2700 Menschen über Online-Kurse im Contact-Tracing geschult, die Virusjäger sind über das ganze Land verteilt und jederzeit einsetzbar (siehe Interview im aktuellen profil).


Warum hat man sich in Österreich und dem Rest Europas nicht an diesen Vorbildern orientiert? Diese Frage stellt sich Christoph Steinhardt seit dem Frühjahr. Der Sozialwissenschafter forscht am Institut für Ostasienwissenschaften der Uni Wien und wunderte sich, wie schnell es in Europa hieß, man müsse mit dem Virus leben. "Falls das heißen soll, es wäre unmöglich, die großflächige Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung zu verhindern, so ist diese Aussage nachweislich falsch." Anstatt sich ein Beispiel an Asien zu nehmen und das Virus soweit als möglich zu eliminieren, sei ständig über den "schwedischen Weg" diskutiert worden, kritisiert Steinhardt. Die Schweden liebäugelten anfangs tatsächlich mit einer Herdenimmunität, verzichteten auf einen Lockdown und ließen das gesellschaftliche Leben relativ normal weiterlaufen. Die Rechnung kam prompt: Die Sterberaten schnellten in die Höhe. Es folgte eine Kurskorrektur mit teils strengeren Maßnahmen als in Österreich. So waren in Schweden auch über den Sommer Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen verboten, die Altersheime waren bis in den Herbst hinein für Besucher geschlossen, die Schüler ab 16 Jahren lernen zu Hause.

In Madrid wagte man indes ein riskantes Experiment. "Geht ruhig draußen einen trinken", forderte Bürgermeister José-Luis Martínez Almeida die Bewohner kürzlich auf. Rappelvolle Gastgärten und Bars bis Mitternacht waren die Folge-trotzdem sanken die Infektionszahlen in der einstigen Corona-Hochburg deutlich. Gibt es das "Wunder von Madrid",das die spanischen Medien preisen, tatsächlich? Die Epidemiologen trauen sich noch kein Urteil zu. Dem Partyruf des Bürgermeisters durften freilich nicht alle Madrider folgen. Die spanische Hauptstadt hatte Ende September mehrere Millionen Antigen-Schnelltests gekauft und in Problemvierteln systematisch getestet. Bezirke mit hohen Infektionszahlen werden seitdem abgeriegelt und dürfen nur zum Arbeiten verlassen werden, bis die Zahlen deutlich sinken. Großflächiges Testen erwies sich weltweit immer wieder als sinnvoll, weil man gezielter eingreifen kann. Der langfristige Erfolg der Madrider Strategie bleibt freilich abzuwarten.

Ein essenzieller Punkt im Kampf gegen das Virus bleibt die Solidarität. In den erfolgreichen Staaten ist sie nach wie vor groß. Während die Stopp-Corona-Apps in den meisten Ländern floppten, verwendet die Hälfte der 5,5 Millionen Finnen dieses Instrument. Die Neuseeländer können beim Betreten eines Restaurants, eines Geschäfts oder eines öffentlichen Gebäudes an der Eingangstür mit dem Mobiltelefon einen QR-Code scannen, um sich zu registrieren. Ein Großteil tut das aus freien Stücken.

Und während Virologen in Europa immer wieder offen angefeindet werden, avancierte der Chef von Neuseelands Gesundheitsbehörde zum Superstar. Ashley Bloomfield wird auch "The Curve Crusher" genannt, weil er die Infektionskurve nicht nur abgeflacht, sondern sie gleich völlig zerstört hat. Die Leute tragen T-Shirts mit dem Konterfei des Mannes mit der Hornbrille.

Buchtipp zum Umgang mit der Corona-Krise in verschiedenen Ländern, erhältlich ab Dezember: Linda Chelan Li (Hg.): "Facts and Analysis: Canvassing Covid-19 Responses." City University of Hong Kong Press

 

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.