Das iberische Impfwunder: Die Impfung als Bürgerpflicht
Von Manuel Meyer, Madrid
Wer das Madrider Prado-Museum besuchen möchte, muss sich lediglich die Hände desinfizieren und die Temperatur messen lassen. Sonst gibt es keine Auflagen. Ähnlich problemlos gestaltet sich der Zutritt ins Kino, Theater, in Konzerte oder Restaurants: Nirgendwo verlangt jemand negative Covid-Tests oder einen Impfnachweis. Warum auch? Es sind ja praktisch alle Menschen geimpft.
In Spanien und Portugal ist die Lage entspannt. Zwar steigen auch hier die Infektionszahlen wieder leicht an, doch sehen sich die beiden Länder nicht gezwungen, Impfwerbekampagnen zu starten oder gar mit 2G-Regeln Druck auf noch ungeimpfte Personen aufzubauen. 89,2 Prozent aller über zwölfjährigen Spanierinnen und Spanier sind bereits vollständig geimpft. Ein Grund dafür, dass die 7-Tage-Inzidenz in Spanien mit derzeit 81 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner ziemlich niedrig ist (Stand: 24. November).
Auch die Lage auf den Intensivstationen ist noch entspannt. Der Anteil der Covid-Patienten macht gerade einmal 6 Prozent aus.
Woher kommt die hohe Impfbereitschaft? „Dafür gibt es mehrere Gründe, die vom staatlichen Gesundheitssystem bis hin zum gesellschaftlichen Solidaritätsprinzip reichen“, erklärt der renommierte spanische Epidemiologe Manuel Franco. Anders als in Österreich haben die Spanier keinen Hausarzt, sondern lassen sich in öffentlichen Gesundheitszentren behandeln, berichtet der 47-jährige Wissenschafter. „Unser Gesundheitswesen ist somit stark zentralisiert und funktioniert sehr gut.“ Trotz einiger Startschwierigkeiten sei das staatliche Gesundheitssystem bestens auf eine zügige und gut durchstrukturierte Covid-Impfkampagne vorbereitet gewesen.
Besonders wichtig war die weitreichende Digitalisierung des Gesundheitssystems. „Kaum jemand fiel durchs Raster. Die Gesundheitsbehörden wussten genau, wo wie viele Menschen eine Dosis brauchten. So mussten die Spanier auch keinem Impftermin hinterherlaufen. Sie wurden per Telefon oder SMS über ihren persönlichen Impftermin direkt informiert“, sagt Franco. Diese Praxis räumte praktisch jede Hürde aus dem Weg.
Nicht weniger wichtig für die hohe Impfbereitschaft sei aber das „gesellschaftliche Solidaritätsprinzip“ in Spanien, so der Epidemiologe von der Universität von Alcalá de Henares, der auch als Gastprofessor an der US-amerikanischen Johns Hopkins University lehrt. Nicht umsonst sei Spanien jedes Jahr beispielsweise weltweiter Rekordhalter bei Transplantationen. „Während in Österreich Gesundheit oft als Privatsache angesehen wird, steht in Spanien der gesellschaftliche Aspekt im Mittelpunkt“, erklärt Franco. In dem katholisch geprägten Land, in dem oftmals viele Generationen heute noch unter einem Dach leben, habe die gesellschaftliche Solidarität vor allem mit älteren Menschen vielleicht einen größeren Stellenwert als in Zentraleuropa.
Das Trauma der ersten Corona-Welle spielte allerdings auch eine nicht unbedeutende Rolle, dass sich so viele Spanier gegen das Coronavirus impfen ließen. Nach Italien wurde Spanien im Frühjahr 2020 als eines der ersten EU-Länder von der Pandemie erfasst. Gleich zu Beginn starben über 30.000 Menschen an den Folgen einer Covid-Erkrankung. Besonders schlimm wütete das Virus in den Altenheimen. Mittlerweile sind es 87.000 Todesfälle. Das ist selbst für ein Land mit 47 Millionen Einwohnern eine sehr hohe Zahl.
Dementsprechend radikal und lange war in Spanien auch der Corona-Lockdown. „Das haben die Menschen noch gut im Kopf, und niemand möchte erneut solch drastische Einschränkungen erleben“, glaubt Manuel Franco. Monatelang durften Kinder nicht auf den Spielplatz. In den Straßen patrouillierten Polizei und Militär. Erwachsene durften nur zum Einkaufen raus oder um zur Arbeit oder zum Arzt zu gehen. Zudem war ein großer Teil der Bevölkerung, der seinen Lebensunterhalt im Tourismus- und Gastronomiegewerbe verdient, von vornherein impfbereit. Kaum ein EU-Land wurde wirtschaftlich derart hart von den Folgen der Corona-Lockdowns getroffen wie das Urlaubsland Spanien.
Ein digitalisiertes, zentralistisches Gesundheitssystem, das gesellschaftliche Solidaritätsprinzip, der Schock der ersten Welle – es gibt mehrere Gründe dafür, warum sich nur 2,5 Prozent der spanischen Bevölkerung nicht impfen lassen wollen. Impfverweigerer sucht man in Spanien nahezu vergeblich – organisierte Impfgegnergruppen sowieso. Die Spanier zeigen auch ganz allgemein keine Skepsis gegenüber Impfungen. Ganz im Gegenteil: Laut OECD ließen sich im Jahr 2019 etwa 66 Prozent der über 65-jährigen Bevölkerung gegen Grippe impfen. In Österreich waren es nur 21,3 Prozent in dieser Altersgruppe.
Ähnlich sieht die Situation im benachbarten Portugal aus. Hier sind 86,4 Prozent aller über Zwölfjährigen komplett geimpft. In der Altersgruppe der über 25-Jährigen kann Portugal sogar eine 98-prozentige Impfquote aufweisen. Von solchen Zahlen kann das bevölkerungsmäßig etwa gleich große Österreich nur träumen. Auch in Portugal hat die hohe Impfquote mit einem straff strukturierten, stark zentralisierten und digitalisierten Gesundheitssystem zu tun. Wer nicht selbst aktiv einen Termin anforderte, erhielt wenige Tage später automatisch eine SMS mit einem Datumsvorschlag oder wurde angerufen, um einen Wunschtermin zu bekommen.
Generell waren die Portugiesen schon immer eine impfaffine Bevölkerung. Das liegt womöglich auch daran, dass Portugal im Gegensatz zu zentraleuropäischen Ländern noch bis weit in die 1970er-Jahre mit den dramatischen Folgen von Kinderlähmung und Masern zu kämpfen hatte, die mit sehr erfolgreichen Impfkampagnen besiegt werden konnten. Die Vorteile lebensrettender Impfungen sind in Portugal daher noch sehr präsent. Da Portugal jedoch von der ersten großen Covid-Welle in Europa weitgehend verschont blieb, war auch hier die Skepsis anfangs relativ hoch. Das änderte sich abrupt im vergangenen Winter. Viele portugiesische Gastarbeiter – vor allem Krankenschwestern – leben in Großbritannien und schleppten zu Weihnachten die hoch ansteckende britische Delta-Virusvariante ein.
Nach Weihnachten explodierten die Infektionszahlen. Die Bilder von Krankenwagen, die vor den Notaufnahmen der Krankenhäuser stundenlang Schlange stehen mussten, um Patienten abzuliefern, gingen um die Welt. Im Februar übernahm schließlich der Vizeadmiral Henrique Gouveia e Melo die Covid-Impfkampagne. Generalstabsmäßig organisierte der ehemalige U-Boot-Kommandant den „Kampf gegen das Virus“.
Sein organisatorisches Talent, aber auch sein militärischer Tonfall vermittelten der portugiesischen Bevölkerung großes Vertrauen in die Covid-Impfung. Er tritt stets in Tarnuniform und Kampfstiefeln auf – und Impfgegnern entgegen. Für ihn sind Corona-Leugner die „wahren Mörder“. Wer sich nicht impfen lasse, spiele dem Nationalfeind namens Corona in die Hände, versichert der zackig auftretende Kommandant mit weißem Bart. Die markigen Töne des bereits „Käpt’n Impfung“ getauften Impfkoordinators kommen offenbar gut beim Volk an.
Es ist aber auch hier das gesellschaftliche Solidaritätsprinzip eines sehr katholisch geprägten Landes, welches zu einer derart hohen Impfbereitschaft beiträgt. Laut einer Eurobarometer-Umfrage sehen 80 Prozent der Portugiesen die Impfung als eine „Bürgerpflicht“ an, um vor allem die Alten und Schwachen vor den tödlichen Folgen des Virus zu schützen.