Der Aufschneider: Prozess gegen Wiener Urologen
Anfangs wollte es nicht recht klappen. Das Missgeschick trat beim Sex mit neuen Partnerinnen auf, wenn der junge Niederösterreicher dabei ein Kondom benutzte: In solchen Situationen hatte er Erektionsprobleme. Diese verflüchtigten sich zwar stets, dennoch suchte der Mann, 1984 geboren, ärztlichen Rat. Google empfahl ihm einen Urologen: Ralf Herwig, der sich gerne mit einem Professorentitel und bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen schmückt. Wer nach seinem Namen sucht, gewinnt den Eindruck, mit einer weltläufigen Persönlichkeit konfrontiert zu sein, die ihr Wirken auch extensiv auf Websites und in YouTube-Videos bewirbt. Man findet Adressen in Wien, in Baden, und selbst in Dubai ordiniert er als Experte für Urologie, Andrologie und männliche Infertilität.
So einem Fachmann vertraut man gerne, und das tat auch der Niederösterreicher, der Herwigs Privatordination in der Wollzeile am 30. November 2016 aufsuchte. Es war der Beginn einer folgenreichen Geschichte: für den Patienten, der nun als 36-Jähriger statt an gelegentlicher Erektionsschwäche an lebenslanger Impotenz leidet; und für Ralf Herwig, der sich ab Freitag dieser Woche einem Strafprozess in Wien stellen muss - nicht nur wegen dieses Patientenfalles, sondern wegen der Geschichten von fünf Geschädigten. Zwei dieser Personen können nicht mehr aussagen: Sie haben nach Behandlungen durch Herwig Selbstmord begangen. Die Staatsanwaltschaft Wien legt Herwig nun zur Last: das Verbrechen der Körperverletzung mit Dauerfolgen, das Verbrechen der schweren Körperverletzung, das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung sowie das Vergehen des schweren Betruges.
profil liegen Anklageschrift, Stellungnahmen von Gutachtern und Urteile aus anderen Verfahren vor. Die Dokumente gewähren Einblick in einen Fall, der weit über den typischen Kunstfehlerprozess hinausgeht: in Bezug auf die Tragweite der Anschuldigungen sowie auf die Eindeutigkeit der Einschätzung der Sachverständigen; im Hinblick auf jahrelange Untätigkeit der Ärztekammer, die seit 2014 von tragischen Patientenfällen weiß; und in Bezug auf Herwigs beachtlichen Aktionsradius, der über die Jahre wuchs - parallel zu und lange unbeschadet von sich häufenden Vorwürfen über grob fehlerhafte Operationstechniken.
Ralf Herwig, geboren 1965 in Deutschland, verheiratet, vier Kinder, Medizinstudium, Facharztausbildung in Urologie, Andrologie und Chirurgie in Münster, arbeitete ab dem Jahr 2000 in Innsbruck, ab 2005 am Wiener AKH, zunächst als Oberarzt, ab 2012 als assoziierter Professor und Leiter der andrologischen Ambulanz. Nebenher ordinierte er privat, war zudem an Spitälern wie dem Wiener Rudolfinerhaus und dem evangelischen Krankenhaus tätig. Außerdem betreibt er eine Firma namens HG Pharma, über deren Webshop Nahrungsergänzungspräparate verkauft werden. Manche davon versprechen sogar Nutzen bei gravierenden Erkrankungen wie Krebs, ALS und Autismus. Im Herbst des Vorjahres hat Herwig noch ein weiteres Betätigungsfeld erschlossen, das Kenner des Falles staunen ließ: Da bot er mit einem "Lab Truck" seiner Firma HG Pharma mobile Covid-Tests in Kooperation mit dem Land Tirol an, trat in Medien als Pandemieexperte auf und absolvierte gemeinsame Pressetermine mit Landeshauptmann Günther Platter - zu einem Zeitpunkt, als die Staatsanwaltschaft Wien bereits an der Anklageschrift tippte.
"Seit der OP leide ich an kompletter Impotenz"
Im Kern sind die darin enthaltenen Vorwürfe in allen Fällen annähernd deckungsgleich und lassen sich beispielhaft anhand der Geschichte des 36-jährigen Niederösterreichers erzählen. Er berichtete Herwig beim Erstbesuch Ende November 2016 von seinen Erektionsproblemen. Der Doktor äußerte rasch eine Verdachtsdiagnose und brachte einen Begriff ins Spiel, der sich in den Akten nun häufig findet: "venöses Leck". So etwas gibt es tatsächlich: Für eine Erektion muss das Blut über Arterien in den Penis fließen, der venöse Abfluss jedoch gedrosselt werden. Werden die Venen nicht hinreichend durch die blutgefüllten Schwellkörper abgedrückt, spricht man von einem venösen Leck. Dies hätte permanente Erektionsstörungen zur Folge - und nicht nur situative. Eine operative Behebung gilt als antiquiert und nicht sinnvoll, weshalb internationale Fachgesellschaften die Methode nicht im Behandlungsrepertoire führen. Spitäler wie das AKH nehmen den Eingriff niemals vor - anders als Herwig.
Am 21. Dezember 2016 bestellte er den jungen Patienten zu einer CT-Untersuchung, die er selbst durchführte. Dabei bestätigte er die eigene Diagnose: venöses Leck, eindeutig. Herwig riet zur OP, sie sei ohne Risiko und minimalinvasiv, dauere nicht mehr als 20 Minuten, bei mehr als 200 Patienten sei es nie zu Beschwerden gekommen. Dann ging es sehr schnell: Nur wenige Tage später erhielt der Patient einen Anruf, wonach "kurzfristig" ein OP-Termin freigeworden sei: bereits am 4. Jänner 2017. Der Mann kam ins evangelische Krankenhaus, bezahlte 3500 Euro in bar, ließ sich mehrfach die Unbedenklichkeit des Eingriffs bestätigen und unterzog sich der OP. Schon in der ersten Nacht kamen die Schmerzen. Herwig war nicht erreichbar. Er weile in Dubai, hieß es. Die Schmerzen nahmen zu, am 6. Jänner fuhr der Patient in die Notaufnahme des AKH. Dem Gerichtsgutachter gegenüber gab er später an: "Seit der OP leide ich an kompletter Impotenz." Er unterzog sich einer Psychotherapie, um seinen Zustand akzeptieren zu lernen. In den Akten ist vermerkt, sollte der Mann je wieder Sex haben wollen, benötige er Hilfsmittel wie eine Penispumpe. Daher handle es sich bei dem Eingriff um "Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen".
Was Herwig praktiziert, heißt Sklerosierung. Am Penis wird unter örtlicher Betäubung ein Schnitt vorgenommen und ein Mittel zur Venenverödung gespritzt. Die Beschreibung in der Anklageschrift klingt unheimlich: "Das Wirkungsprinzip einer solchen Operation ist eine Kontaktdenaturierung (nämlich eine Zerstörung) der Gefäßinnenwand und Thrombosierung." Der venöse Blutfluss soll derart gedrosselt werden. Abgesehen davon, dass dies eine grundsätzlich nicht anerkannte Methode sei, unterstellt die Staatsanwaltschaft auch, weder Diagnose noch Eingriff seien "lege artis", also fachgerecht, erfolgt: Das Sklerosierungsmittel habe der Beklagte über einen Katheter injiziert, "den er in die freipräparierte Penisvene einführte, jedoch ohne Kontrastmittel, sodass die Injektionen blind erfolgten".
Die mögliche Konsequenz wird in einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom vergangenen November ausgeführt, das über eine Schadenersatzklage des Niederösterreichers gegen Herwig zu befinden hatte: Das Sklerosierungsmittel könne so erheblichen Schaden verursacht haben, "dass eine für penetrativen Geschlechtsverkehr erforderliche Erektion nicht mehr erreichbar" sei. Das Gericht sprach dem Geschädigten "für diese katastrophale Dauerfolge eines ärztlichen Kunstfehlers" die für österreichische Verhältnisse enorm hohe Summe von 70.000 Euro zu.
Was hatte es aber mit dem ominösen venösen Leck auf sich? Das gab es gar nicht, sind die beigezogenen Sachverständigen überzeugt. Der Gutachter Walter Kozak hält dazu fest: "Aus urologischer und radiologischer Sicht (...) wurde (...) die Diagnose venöses Leck nicht korrekt gestellt."
Dabei ist der Fall des jungen Mannes gar nicht der schlimmste.
Ende November 2013 suchte ein 56-jähriger Universitätslektor das AKH auf. Sein niedergelassener Urologe hatte ihn wegen chronischer Prostataentzündungen zu einer Ultraschalluntersuchung geschickt. Herwig, damals Leiter der Andrologie im Spital, hatte kurz nach der Anamnese eine Diagnose parat: venöses Leck. Auch hier ging alles flott, weil "überraschend" ein Termin frei war: Schon am 2. Dezember 2013 fand die OP statt, nach Barbezahlung von 3000 Euro, und zwar in einer Privatklinik im 18. Wiener Bezirk. Im AKH hätte Herwig, wie aus internen Unterlagen der MedUni Wien hervorgeht, die OP "mangels wissenschaftlich ausreichender Fundierung" gar nicht durchführen dürfen.
Am nächsten Morgen ertastete der Patient Knoten im Penis. Im Lauf des Dezember stellte er fest, dass er keine Erektion mehr zustande brachte. Der Mann, der schon vor dem AKH-Besuch in einem psychischen Ausnahmezustand gewesen war, schlitterte in immer tiefere Verzweiflung. Tagebucheintragungen dokumentieren dies: "Schlaflos ab drei Uhr vierzig", notierte er am 22. Dezember 2013. "Ohnmacht und Wut über mich, mehr aber über Prof. Herwig und seinen Assistenten, wie sie mich so billig reinlegen konnten."
Wenige Wochen später setzte der Mann seinem Leben durch Selbsttötung ein Ende.
Weil sich in seinen Aufzeichnungen Anschuldigungen gegen Herwig fanden, rückte die Polizei im AKH an. Als bislang einzige Institution reagierte die MedUni prompt und entließ Herwig per 11. Februar 2014, weil er im Rahmen einer unerlaubten Nebenbeschäftigung Patienten zu privaten Operationen umgeleitet habe, die zudem im AKH mangels Evidenz verboten wären. Herwig klagte gegen die Entlassung, man einigte sich auf eine einvernehmliche Beendigung des Dienstverhältnisses. Damit erlosch auch der Professorentitel, der mit dem AKH-Job "assoziiert" war, doch Herwig führt ihn weiter an: Am Anrufbeantwortertext nennt er ihn ebenso wie im Impressum seiner Website, wo auch nach wie vor eine AKH-Tätigkeit angeführt ist.
"Derzeit nicht zur ärztlichen Berufsausübung berechtigt"
Abgesehen vom AKH geschah wenig. Mehrere Geschädigte schrieben an die Patientenanwaltschaft und über die Jahre immer wieder an die Ärztekammer, auch nach dem Suizid 2014. Zuletzt vor zwei Jahren versicherte diese, dass der "Sachverhalt bereits bekannt" sei und "geprüft" werde. Somit ist der Fall und zumindest ein Suizid bei den Ärztevertretern seit rund sieben Jahren dokumentiert. Was sagt man bei der Ärztekammer dazu? Deren Kommentar ist durchaus bemerkenswert: Die Kammer dürfe mitteilen, dass Ralf Herwig "aufgrund einer von der Disziplinarkommission für Wien verhängten einstweiligen Maßnahme (...) derzeit nicht zur ärztlichen Berufsausübung berechtigt ist". Weitere Auskünfte könnten "nicht erteilt werden". Ziemlich sicher handelt es sich bei der Maßnahme um einen Formalismus: Steht ein Strafverfahren im Raum, darf ein Mediziner in dieser Zeit nicht praktizieren - warum all die Jahre davor nicht eingegriffen wurde, bleibt offen.
Hätte jemand interveniert, wären womöglich weitere tragische Schicksale ausgeblieben: zum Beispiel jenes eines Briten, der extra zur Operation anreiste - und im Jahr 2017 Selbstmord beging; oder jenes eines weiteren Mannes, der sich im Mai 2014 einer Penisoperation unterzog und sich nach langwieriger Leidensgeschichte im Vorjahr selbst tötete. Auch auf diesen Fall stützt sich nun die Anklageschrift.
"Besonders belastet" wird Herwig laut Staatsanwaltschaft durch die Aussage eines Mannes, der den Urologen als "Agent provocateur" aufsuchte. Er wurde auf Ersuchen eines der Geschädigten in der Praxis vorstellig und berichtete von Erektionsproblemen. Tatsächlich hatte er nie darunter gelitten und führte ein sorgenfreies Sexualleben. Herwig diagnostizierte: venöses Leck. Wie oft er diesen Befund insgesamt stellte, ist nicht eruierbar. Er selbst gab im Schadenersatzverfahren an, mit Behandlungen in seiner Praxis in manchen Jahren bis zu 800.000 Euro umgesetzt zu haben.
Die Zusammenschau des Beweismaterials ergebe, so die Staatsanwaltschaft, "dass der Angeklagte, obwohl er wusste, dass bei keiner der ( ...) Personen ein venöses Leck vorlag, diese bewusst über die Diagnose getäuscht hat". Und weiter: "Schließlich führte er die Operationen durch, obwohl diese medizinisch nicht indiziert waren, wozu noch kam, dass er diese auch nicht lege artis ausführte." Er werde deshalb "entsprechend seiner kriminellen Energie schuld - und tatangemessen zu bestrafen sein".
"Zu den laufenden Verfahren keinen Kommentar"
Was sagt Ralf Herwig zu all den Vorwürfen? profil schickte einen umfangreichen Fragenkatalog an vier E-Mail-Adressen. Am vergangenen Donnerstag bestätigte er per Mail den Erhalt der Fragen und sicherte eine Beantwortung bis Freitag Früh zu. Am Freitag jedoch beschied er, "zu den laufenden Verfahren keinen Kommentar" abzugeben.
Das Strafverfahren ist momentan nicht die einzige Front für Herwig. Nach all den Jahren, in denen Vorwürfe weitgehend abprallten, dafür aber in lokalen Medien Loblieder gesungen wurden, wonach er sogar nobelpreiswürdig sei, bricht nun Ungemach von mehreren Seiten herein: Am vergangenen Freitag musste er zu einer Tagsatzung am Wiener Verwaltungsgericht. Grund: Die Arzneimittelbehörde hatte gegen Herwig eine Strafe von rund 3000 Euro wegen des Vertriebs nicht zugelassener Arzneimittel erwirkt, über deren Angemessenheit das Gericht zu urteilen hatte. Dabei ging es um Präparate ohne wissenschaftlich erwiesene Wirksamkeit wie ImmunoD, das HG Pharma unter anderem krebskranken Patienten um 990 Euro empfiehlt. Die Arzneimittelbehörde AGES hatte bereits 2016 vor den Präparaten gewarnt. Einer ihrer Vertreter, der Pharmaexperte Christoph Baumgärtel, hatte im ORF angekündigt: "Wir werden das stoppen." Eine prominente Fürsprecherin für ImmunoD war die deutsche TV-Moderatorin Miriam Pielhau, die jahrelang gegen Brustkrebs kämpfte und wie viele verzweifelte Patienten auch Kuren ohne solide wissenschaftliche Basis probierte. 2016 verlor Pielhau den Kampf.
Auch in Tirol verdunkelt sich der Himmel gerade. Vorige Woche berichtete der ORF über unangenehme Fragen der Tiroler Liste Fritz. Deren Obfrau Andrea Haselwanter-Schneider begehrte von Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg zu wissen, wieso man ohne Ausschreibung einen Vertrag mit Herwig geschlossen habe - und weshalb ein Urologe ein geeigneter Partner für die Covid-Tests sei. Auch profil fragte nach, warum Tirol Verträge mit einem Arzt schließt, der wegen schwerer Körperverletzung angeklagt ist. "Dem Land Tirol war dies nicht bekannt", heißt es dazu in einer Replik. Überdies bestehe der Vertrag nicht mit Herwig als Person, sondern "mit der Firma HG Labtruck GmbH". Zweck sei rein "die Erfüllung der Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber den BürgerInnen im Gesundheitsbereich". Wer bezahlt für die Pflichterfüllung? Antwort: "Die Tests werden vom Bund vergütet."
Demnächst könnte Ralf Herwig zumindest wieder mehr Zeit haben, um sich seinem Strafverfahren zu widmen: Der Vertrag mit Tirol lief Ende März aus.
Update am 5.5.: Ralf Herwig zieht sich vorübergehend aus dem operativen Geschäft der Firma HG Pharma zurück. Tirol stellt die Zusammenarbeit ein.