Nach zwei Jahren Untersuchung wurde im September 2024 die Sensation verkündet: Es handelt sich um den berühmten französischen Dichter Joachim Du Bellay.
Forschung

Der Knochenleser: Der Anthropologe Eric Crubézy löste das Rätsel um den Toten von Notre-Dame

Gefährliche Schamaninnen, herausgeschnittene Herzen, Foltermethoden aus der Steinzeit: Porträt eines Forschers, der stets gerufen wird, wenn es historische Kriminalfälle aufzuklären gilt.

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Eine unbekannte Leiche mit gespaltenem Schädel, begraben in einem Bleisarg unter dem Vierungskreuz von Notre-Dame: Jahrelang rätselte man in Frankreich, wen Archäologinnen und Archäologen nach dem verheerenden Brand der Kathedrale in Paris 2019 gefunden hatten. Zwar waren zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert viele Menschen begraben worden – aber es handelte sich fast ausnahmslos um alte Männer. Wer also war der mit Mitte 30 ungewöhnlich junge Tote, den die französischen Zeitungen wegen seiner abgenützten Hüfte „le cavalier“, den Reiter, nannten?

Im September 2024 verkündete das Nationale Institut für Archäologie die Sensation: Es handle sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Joachim Du Bellay, einen der bedeutendsten französischen Lyriker des 16. Jahrhunderts, gestorben bekanntermaßen an einem Herzinfarkt in der Nacht vom 1. auf den 2. Jänner 1560. Aber wie hatte man ihn anhand eines Skeletts in einem schlichten Sarg ohne Plakette oder Inschrift identifizieren können?

Die ersten Hinweise lieferten die Knochen

Wenn es knifflige Rätsel und geheimnisvolle Mordfälle der Geschichte zu lösen gibt, wird in Frankreich stets ein Mann gerufen: Eric Crubézy, Mediziner und forensischer Anthropologe an der Universität Toulouse III. Wie akribisch er vorgeht, wird im profil-Gespräch klar. Es dauert fast eine Stunde, bis er Schritt für Schritt erklärt hat, was ihn in zwei Jahren Detektivarbeit auf die Spur des berühmten Poeten gebracht hat. Erste Hinweise lieferten die Knochen: Die deformierten Hüften deuteten auf einen passionierten Reiter hin, wie Du Bellay einer gewesen war. Dieser war einst sogar von Paris nach Rom geritten. „Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass Du Bellay unter Knochentuberkulose litt“, sagt Eric Crubézy. Eine Krankheit, nach der er auch beim Toten aus der Notre-Dame suchte und fündig wurde. Außerdem hatte Du Bellay am Ende seines Lebens immer wieder über unerträgliche Kopfschmerzen und seine Taubheit geschrieben – eine Folge seiner chronischen Meningitis. Auch dazu passt das Skelett: „Der Schädel wurde posthum geöffnet. Bei der Autopsie ging es wohl darum, mehr über die Hirnerkrankung zu erfahren“, sagt Anthropologe Crubézy.

Alles in allem lieferte der Tote eine Indizienkette, die allein aber zu wenig gewesen wäre, um Du Bellay zu identifizieren. Also stürzte sich Crubézy auf die Kirchenarchive. Seit dem 18. Jahrhundert hatte man vermutet, dass der berühmte Dichter in einer der zahlreichen Grabstätten Notre-Dames seine letzte Ruhe gefunden hatte. Viele bedeutende Historiker hatten erfolglos nach ihm gesucht, darunter der Großvater des französischen Präsidenten Charles de Gaulle. Zwar gab es Aufzeichnungen über ein geplantes Begräbnis Du Bellays in Notre-Dame, jedoch mit der Anmerkung, seine Familie müsse erst dafür bezahlen. Das Problem: „Der eine Onkel, der berühmte Kardinal Jean de Bellay, starb kurz nach dem Dichter und war hoch verschuldet. Der andere Onkel konnte seinen Neffen Joaquin überhaupt nicht leiden, wie wir aus seinen Briefen wissen. Die Familie hat also wahrscheinlich nie bezahlt“, sagt Crubézy.

War Du Bellay damals trotzdem in der Kapelle Saint-Crépin von Notre-Dame beerdigt worden, wie im Domregister verzeichnet? Eines steht fest: Bei Bauarbeiten im Jahr 1758 war sein Leichnam dort nicht auffindbar. „Er könnte bereits vorher innerhalb Notre-Dame an den aktuellen Fundort verlegt worden sein, um einer wichtigeren Person Platz zu machen. Das kam damals häufig vor“, erklärt Crubézy. Er habe dazu kurz nach der Pressekonferenz im September neue Dokumente gefunden, die er im kommenden Jänner in einer Studie präsentieren will.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.