Ernährung: Ist vegane Kost gut für die Gesundheit?
In ihrer Heimatstadt Wien kennt Sarah einen Großteil der öffentlichen Toiletten - im Fall des Falles ihre letzte Rettung. Auch auf der Donauinsel, wo sie am letzten Augustwochenende das vegane Freiluft-Festival "Veganmania" besuchen möchte, hat sie den Überblick über alle zugänglichen Sanitäranlagen. Seit sieben Jahren leidet die 31-Jährige an häufigen Durchfällen, Bauchschmerzen und Blähungen. Die Diagnose: Morbus Crohn, eine chronische Darmentzündung, für die es bisher keine Heilung gibt.
Dennoch lässt sie sich die Vorfreude auf die zahlreichen Essensstände mit veganen Köstlichkeiten nicht nehmen. Mittlerweile hat Sarah gelernt, mit ihrer Krankheit zu leben. Auch in ihrer Arbeitsstelle, einem alternativpädagogischen Kindergarten, haben offenbar alle Verständnis, wenn die Erzieherin mal öfter aufs Klo muss. Um ihre Verdauung zu schonen, achtet sie besonders darauf, was sie isst.
In der ersten Zeit nach der Diagnose informierte sie sich ausführlich über gesunde Ernährung. Im Internet las sie über die gesundheitlichen Vorteile einer veganen, also rein pflanzlichen Ernährung. Da sie schon seit ihrem 16. Lebensjahr vegetarisch lebte, fiel ihr die Umstellung nicht schwer. Zuerst strich sie Milchprodukte von ihrem Speiseplan, später auch Eier.
"Viel weniger Blähungen"
Sarah ist sicher, dass der vollständige Verzicht auf tierische Nahrungsmittel ihrer Gesundheit guttut: "Ich habe bald gemerkt, dass ich dadurch viel weniger Blähungen habe", erinnert sie sich und nickt wie zur Selbstbestätigung. Der Gesundheitsaspekt der veganen Ernährung stand für sie an erster Stelle. Erst später wurde ihr auch wichtig, Milchkühen und Legehühnern Leid zu ersparen.
Nicht nur Sarah ist überzeugt, dass die gesündeste Ernährungsform die vegane ist. Vier von zehn Personen verbinden vegane Produkte mit dem Thema Gesundheit, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Biopinio unter deutschen Biokonsumenten im Jahr 2016. Noch häufiger nennen die Befragten nur das Thema Tierschutz.
Der Verein ProVeg Deutschland listet auf seiner Website über 20 Gesundheitsprobleme und Zivilisationskrankheiten auf, die sich durch eine vegane Ernährung angeblich bessern lassen. Die Spanne reicht von A wie Arthritis bis Z wie Zöliakie. In einer Fernsehdokumentation des Bayerischen Rundfunks behauptet Sportwissenschafterin Katharina Wirnitzer sogar, dass eine vegane Ernährung die sportliche Leistung unseres Körpers steigert. Anfang August hat in Frankfurt Deutschlands erster veganer Kindergarten eröffnet. Dessen Betreiber wollen Kinder unter anderem darin fördern, sich gesund und nachhaltig zu ernähren.
Die anscheinend zahlreichen gesundheitlichen Vorteile befeuern die Popularität der pflanzlichen Ernährungsweise - unterstützt durch Prominente wie Kochbuchautor und Edel-Imbiss-Inhaber Attila Hildmann. In seinem Buch "Vegan for Youth" behauptet er, dass durch vegane Kost "unzählige ernährungsbedingte chronische Krankheitsbilder in nur 30 Tagen abheilen". Der selbst ernannte "Veganerkönig" ist nicht allein damit, den Veganismus zum hippen Lifestyle mit Gesundheitsbonus zu erheben. Auf der Social-Media-Plattform Instagram wetteifern über 170.000 Beiträge allein zum Thema #veganhealth um die Aufmerksamkeit gesundheitsbewusster Follower.
Vegetarier genauso gesund wie Veganer
Doch was ist dran an diesen Behauptungen? Die italienische Wissenschafterin Monica Dinu von der Universität Florenz wollte es genau wissen. Gemeinsam mit ihrem Forschungsteam analysierte sie alle bisher veröffentlichten, aussagekräftigen Studien zu dieser Frage und fasste deren Ergebnisse zusammen. Ihre 2017 veröffentlichte Arbeit scheint den Gesundheitsvorteil auf den ersten Blick zu bestätigen. Demnach erkranken Veganer im Schnitt etwas seltener an Krebs als Menschen, die Fleisch essen. Die zusammengefassten Studiendaten zeigen allerdings auch: Für Vegetarier, die Eier und Milchprodukte zu sich nehmen, ist dies genauso der Fall.
Die vegetarischen Teilnehmer in den Studien sind deutlich gesünder als jene, die Fleisch essen. Beispielsweise erleiden sie weniger häufig einen Herzinfarkt. Dass der Verzicht auf Eier und Milch ein weiteres Gesundheitsplus darstellt, zeigen die Daten jedoch nicht. Es gibt keine Ergebnisse, die der veganen Ernährung eine gesundheitliche Überlegenheit zusprechen. So sieht das auch die Ernährungswissenschafterin Petra Rust von der Universität Wien: "Veganer haben meistens ein geringeres Körpergewicht, einen niedrigeren Blutdruck, niedrigere Blutfettwerte und ein geringeres Diabetesrisiko. Diese Vorteile haben jedoch auch Vegetarier."
Dass tatsächlich der Verzicht auf Fleisch die Ursache dafür ist, ist aber selbst hier nicht völlig gesichert. Der Durchschnitt der Vegetarier ist eher Nichtraucher, trinkt weniger Alkohol und macht mehr Bewegung als Menschen, die Fleisch essen. "All dies wirkt sich ebenfalls positiv auf die Gesundheit aus, lässt sich aber nur schwer vom Effekt der Ernährung trennen", erklärt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Nur wenn regelmäßig große Mengen an rotem Fleisch und Fleischerzeugnissen auf dem Speiseplan stehen, scheint sich das Krankheitsrisiko zu erhöhen. Das zeigt unter anderem eine zusammenfassende Studienanalyse der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2015.
Während vegane Lifestyle-Websites und Kochbücher überschwänglich auf die unbelegten Gesundheitsvorteile hinweisen, erwähnen sie die möglichen Nachteile kaum. Welche das sein können, erlebte Marie vor fünf Jahren am eigenen Körper. Zu dieser Zeit war ihr Schlafbedürfnis so immens, dass sie jede Nacht bis zu 14 Stunden schlief. Dennoch fühlte sich die damalige Studentin tagsüber oft ausgelaugt und kaum in der Lage, sich auf das Schreiben ihrer Masterarbeit zu konzentrieren. "Ich hatte auch starken Haarausfall und so dunkle Augenringe, dass es aussah, als wäre ich geschlagen worden", erinnert sie sich. Mehrere Monate lang quälten sie diese Zustände, bis ein Arzt die Ursache entdeckte: Eisenmangel. Erst mehrere Infusionen mit Eisenpräparaten besserten ihre Beschwerden.
Niedrige Eisenwerte durch Fleischverzicht
Marie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund zwei Jahren vegan, davor hatte sie sich mehrere Jahre vegetarisch ernährt. Weil sie weder Fleisch noch Fisch aß, verzichtete sie auf eine wichtige Quelle für Eisen. Dieser Nährstoff ist ein Bestandteil des roten Blutfarbstoffs und für den Sauerstofftransport im Blut unverzichtbar. Es findet sich zwar auch in pflanzlichen Nahrungsmitteln in theoretisch ausreichender Menge, doch ist es für den Körper schwerer verwertbar als Eisen aus tierischen Quellen.
Aus diesem Grund sind die körpereigenen Eisenvorräte bei vielen vegan und vegetarisch lebenden Menschen niedriger als bei Mischköstlern. Das zeigt eine 2016 an der Universität Wien veröffentlichte Analyse bisheriger Studien. Bei manchen Menschen kann dies zu einem erhöhten Risiko für eine durch Eisenmangel bedingte Blutarmut führen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, weil sie mit der Monatsblutung viel Eisen verlieren. Vermeiden ließe sich das laut Expertin Rust, wenn man gemeinsam mit eisenhaltigen Nahrungsmitteln Vitamin C zu sich nimmt. Dadurch könne der Körper das Eisen aus pflanzlichen Quellen besser verwerten.
Noch gravierender wirkt sich ein Mangel an Vitamin B12 aus. Dieses Vitamin kommt in nennenswerten Mengen ausschließlich in tierischen Nahrungsmitteln vor, Veganer müssen es daher regelmäßig in Form von Kapseln oder Pillen einnehmen. Tun sie das nicht, können über die Jahre Blutarmut und sogar Nervenschäden die Folge sein. Wenn sich werdende oder stillende Mütter vegan ernähren und nicht ausreichend Vitamin B12 zu sich nehmen, kann das besonders dramatische Folgen haben. So sind Fälle dokumentiert, in denen Säuglinge durch den Vitaminmangel bleibende Hirnschäden erlitten. Dies ist einer der Gründe, warum die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in der Schwangerschaft, Kindheit und Jugend von einer veganen Ernährung abrät.
Streichen vegan lebende Menschen Milch und Eier von ihrem Speiseplan, verzichten sie auch auf wesentliche Nährstoffe. Milch etwa ist ein guter Kalziumlieferant und enthält wie auch Eier vollwertige Proteine. Diese bieten eine ausgewogene Mischung all jener Aminosäuren - der Bestandteile von Proteinen -, die der Körper nicht selbst herstellen kann. Auch andere Nährstoffe wie etwa Omega-3-Fettsäuren, Jod, Zink, Selen sowie Vitamin B2 können bei einer rein pflanzlichen Ernährung zu kurz kommen.
Auf die Produkte kommt es an
Ein Mangel muss jedoch nicht zwangsläufig auftreten. Veganer können sich durchaus gesund ernähren, weiß die Wiener Ernährungsberaterin Edith Sichtar. Voraussetzung dafür ist wie bei jeder Ernährungsform ein abwechslungsreicher und ausgewogener Speiseplan. "Wer Pommes isst und Cola trinkt, ernährt sich auch vegan, gesund ist das aber keinesfalls", so Sichtar. Wer regelmäßig Fleischersatzprodukte wie Sojaschnitzel und veganen Wurstersatz verzehrt, lebt ebenfalls kaum gesund. Viele dieser Produkte enthalten große Mengen an Salz und Zusatzstoffen. Sogar Rückstände von potenziell bedenklichem Mineralöl fand die Stiftung Warentest bei Produktkontrollen im Jahr 2016.
Prinzipiell ist es durchaus möglich, auch mit einer rein pflanzlichen Ernährung seinen Bedarf an Mineralstoffen und Vitaminen zu decken. Die einzige Ausnahme ist Vitamin B12. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt vegan lebendenden Menschen außerdem eine ausgewogene Kombination von Vollkorn- und Sojaprodukten, Hülsenfrüchten, Pilzen, Kartoffeln, grünem und anderem Gemüse, Nüssen, Ölsamen und Obst. Damit ist sichergestellt, dass der Körper alle benötigten Aminosäuren, Fette, Vitamine und Mineralstoffe in ausreichender Menge erhält und es zu keinem Mangel kommt.
Marie indes isst seit einigen Jahren wieder Fleisch. Ihre Eisenmangelprobleme gehören damit der Vergangenheit an. Trotzdem ist sie der Überzeugung, dass die vegane Ernährung ethisch gesehen die einzig richtige Ernährung sei. Sie vermeide Tierleid und schone Umwelt und Ressourcen unseres Planeten. "Es gibt aber durchaus Menschen, für die das nicht funktioniert, wie bei mir", räumt sie ein.
Sarah hingegen ernährt sich nach wie vor vegan. Ihre chronische Darmentzündung begleitet sie allerdings weiterhin in ihrem Alltag. Gesundheitliche Nachteile bemerkt sie nicht, auch mit dem Eisen hat sie keine Probleme. Täglich nimmt sie Tabletten mit Vitamin B12 und lässt sich einmal im Jahr gründlich bei ihrer Ärztin durchchecken. Bisher waren ihre Blutwerte immer in bester Ordnung. "Doch egal, wie es mir gesundheitlich geht, tierische Produkte zu essen, würde ich nicht mehr übers Herz bringen", sagt sie und lächelt in der Überzeugung, mit ihrer Ernährung die Welt ein klein wenig besser zu machen.
Bernd Kerschner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems. Er leitet das Medizinportal Medizin-Transparent.at