Ernährungsexpertin Susan B. Roberts

Ernährungsexpertin Roberts: "Sport macht uns zuallererst hungrig"

Die Ernährungsexpertin Susan B. Roberts erklärt, warum wir trotz Bewegung nicht abnehmen, welche Rolle die Psyche beim Essverhalten spielt und was man gegen den Jo-Jo-Effekt tun kann.

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INTERVIEW: FRANZISKA DZUGAN

profil: In der Weihnachtszeit sein Gewicht zu halten, ist schwer. Nun erklärt uns die Wissenschaft auch noch, dass eine Extrarunde Sport nicht hilft, um den Feiertagsspeck wieder loszuwerden. Wie das? Roberts: Tatsächlich sagen uns alle Studien, dass Sport und Bewegung bei der Gewichtskontrolle wenig helfen. Zuallererst macht uns Sport hungrig. Eine Stunde Bewegung kostet einen durchschnittlichen Menschen höchstens 100 bis 200 Kilokalorien. Zwei bis vier kleine Weihnachtskekse reichen aus, um die verbrannte Energie wieder aufzunehmen. Zudem bewegt man sich nach dem Sport weniger, weil man müde ist, und spart damit wieder Kalorien ein.

profil: Verbrennen wir durch Bewegung nicht die meiste Energie? Roberts: Nein. Für die physische Aktivität verbrauchen wir nur ein Drittel unserer Energie. Zwei Drittel kostet uns der Grundumsatz des Körpers, also die Versorgung aller Lebensfunktionen im Ruhezustand. Gehirn, Herz und andere innere Organe verbrauchen deutlich mehr als die Skelettmuskeln. Bei Spitzensportlern ist das etwas anders, aber sie sind Ausnahmen.

profil: Wie ist das bei Menschen, die sich mehr bewegen als ein Büroangestellter? Roberts: Eine gesunde, erwachsene, durchschnittlich große und schwere Frau aus Europa benötigt etwa 2000 Kilokalorien pro Tag, ein Mann 2500. Mein Kollege Herman Pontzer vom Hunter College hat sich mit indigenen Völkern beschäftigt. Er ging davon aus, dass Jäger und Sammler mehr essen müssten, um ihren täglichen Bedarf an Nahrung zu stillen. Umso überraschter war er von dem Ergebnis seiner Untersuchung: Ein Mann aus dem Stamm der Hadza in Tansania, der körperlich viel aktiver ist als ein Durchschnitts-Europäer, braucht trotzdem nicht mehr als 2600 Kilokalorien täglich. Eine Hadza-Frau verbraucht sogar nur 1900.

profil: Woran liegt das? Roberts: Wahrscheinlich sind Botenstoffe dafür verantwortlich, welche die aktiven Muskeln ausschütten. Sie signalisieren dem Körper: Du musst ab jetzt so viel Energie einsparen wie nur möglich.

profil: Ein Paradoxon, über das derzeit in der Fachwelt weltweit diskutiert wird. Roberts: Genau. Bisher dachten wir, dass der Kalorienverbrauch linear mit der Bewegung steigen würde. Tatsächlich schwächt sich dieser Effekt deutlich ab, indem der sportliche Körper im Ruhezustand seine Funktionen weiter herunterfährt als jener eines Bewegungsmuffels. Darauf deuten alle neueren Studien hin. Laut einer Untersuchung des American College of Sports Medicine müsste man wöchentlich vier bis sieben Stunden exzessiv trainieren, um signifikant an Gewicht zu verlieren. Da ist noch keine Rede davon, das Gewicht dann auch zu halten. Das ist im Alltag für die meisten Menschen nicht umzusetzen.

profil: Gibt es eine Erklärung, warum wir trotz Sport dick bleiben? Roberts: Der menschliche Körper ist sehr effizient gebaut, effizienter als jener der meisten Tiere. Man hat zum Beispiel den Verbrauch von Rothirschen untersucht. Sie nehmen zwei bis drei Mal so viel Kilokalorien pro Kilo Körpergewicht zu sich wie wir Menschen und andere Primaten. Die Genügsamkeit des Menschen war in der Vergangenheit ein großer evolutionärer Vorteil. Für uns heißt das aber heute: Wir können uns relativ wenig Nascherei erlauben, ohne zuzunehmen.

Wenn es ums Abnehmen oder das Halten des Gewichts geht, ist zuallererst entscheidend, was und wie wir essen.

profil: Stört diese Effizienz auch beim Abnehmen? Roberts: Natürlich. Wenn jemand seine tägliche Kalorienzufuhr um 1000 reduziert, verliert er trotzdem nur 700 Kalorien an Körperfett. Auf das Abnehmen reagiert der Körper damit, seine Ressourcen besser einzuteilen. Er fährt den Stoffwechsel herunter. Später, wenn man bereits abgenommen hat, braucht man noch weniger Kalorien, weil weniger Masse da ist, die versorgt werden muss. Zu diesem Zeitpunkt kann der Sport helfen: Der Verschlankte kann seinen gesunkenen Kalorienbedarf damit etwas kompensieren.

profil: Die Studien, wonach Sport wenig beim Abnehmen hilft, sind also keine Aufforderung zum Dasein als Couchpotato? Roberts: Absolut! Jeder sollte mindestens zweieinhalb Stunden pro Woche Sport treiben, um generell gesund zu bleiben und auch im Alter fit zu sein. Darin sind sich alle Experten einig. Wenn es aber ums Abnehmen oder das Halten des Gewichts geht, ist zuallererst entscheidend, was und wie wir essen.

profil: Was halten Sie von Diäten? Roberts: Die meisten Diäten sind Blödsinn. Bei vielen verliert man Wasser und Muskelmasse statt Körperfett, und die Waage schlägt nach oben aus, sobald man wieder normal isst. Das tut man, weil man spätestens nach zwei Wochen immensen Hunger bekommt. Oft werden ganze Lebensmittelgruppen, zum Beispiel Kohlenhydrate, aus dem Speiseplan gestrichen. Das setzt unbewusste Überlebensmechanismen in Gang, gegen die man sich unmöglich wehren kann.

profil: Sie sind nicht nur Ernährungswissenschafterin, sondern auch Psychiaterin. Welche Rolle spielt die Psyche beim Essverhalten? Roberts: Wir sind evolutionär darauf programmiert, uns auf alles Essbare zu stürzen, um für schlechte Zeiten gerüstet zu sein. Nun sind wir täglich überall von Essen, Süßigkeiten und verführerischen Düften umgeben. Unser Gehirn sagt uns dann, wir hätten Hunger, auch wenn wir gerade den Mittagstisch verlassen haben. Diesen Instinkt zu unterdrücken, führt selten zum Erfolg. Besser ist es, mit ihm zu arbeiten.

profil: Was also tun, um nicht sofort in die Süßigkeitenlade zu greifen? Roberts: Zunächst ist es wichtig, möglichst wenig Süßes zu Hause, im Auto und am Arbeitsplatz herumliegen zu haben. Bei vielen Menschen schleichen sich Rituale ein, etwa, sich mit Kalorienbomben zu belohnen. Wie wir in Studien feststellten, lassen sich die Belohnungszentren im Gehirn durch gesunde Ernährung umprogrammieren. Jene Probanden, die mehrere Monate einer Vollkorndiät folgten, reagierten bei Untersuchungen im Magnetresonanztomografen immer stärker auf Bilder von Vollkornbrot, Müsli und Hühnerfleisch. Fotos von Schokolade, Chips und Braten ließen ihr Belohnungszentrum zunehmend kalt.

Zwei kleine Kekse täglich können in einem Jahr ein bis drei Kilo mehr auf der Waage bedeuten. In zehn Jahren können sich so zehn bis 30 Kilo ansammeln.

profil: Wie funktioniert diese Vollkorndiät? Roberts: Das Wichtigste ist, so wenig Hunger aufkommen zu lassen wie möglich. Die Diät darf sich nicht wie eine Diät anfühlen. Seit 20 Jahren erforsche ich, wie man sich möglichst lange satt fühlt. Die richtigen Lebensmittel sind dabei extrem hilfreich. Ein Beispiel: Für eine Studie teilten wir unsere Probanden in zwei Gruppen, wobei wir der ersten über sechs Monate einen Speiseplan mit viel Eiweiß und Ballaststoffen verordneten. Sie aß Hühnerfleisch, Fisch, Bohnen, Obst, Gemüse und Vollkornweizen. Drei Mahlzeiten täglich, dazwischen zwei Snacks. Die Kontrollgruppe konnte essen, was sie wollte. Nach einem halben Jahr berichtete die erste Gruppe, weniger Hunger zu verspüren als am Anfang.

profil: Haben die Teilnehmer abgenommen? Roberts: In der Testgruppe hatte jeder durchschnittlich acht Kilo abgenommen, in der Kontrollgruppe hatten die meisten ein knappes Kilo zugelegt. In Österreich gibt es herrliches Vollkornbrot und Pumpernickel. Das hilft, sich länger satt zu fühlen. Es wird auch weniger gut verdaut als Weißbrot, der Körper zieht also weniger Energie daraus. Vollkorn kurbelt außerdem den Stoffwechsel an, wodurch man mehr Kalorien verbrennt.

profil: Sind Sie gegen Süßigkeiten? Ist das realistisch? Roberts: Zwei kleine Kekse täglich können in einem Jahr ein bis drei Kilo mehr auf der Waage bedeuten. In zehn Jahren können sich so zehn bis 30 Kilo ansammeln. Trotzdem bin ich dagegen, Süßes zu verbannen. Aber wir sollten es wieder, wie früher, als etwas Besonderes ansehen. Es ist völlig in Ordnung, zu Weihnachten Kekse und Kuchen zu schlemmen, aber den Rest des Jahres sollte es weniger sein. Den Menschen in unseren Diätprogrammen empfehlen wir sogar kleine Desserts nach dem Abendessen. Zum Beispiel eine kleine Portion Erdbeeren, deren Spitzen man in Bitterschokolade taucht, dazu vier Esslöffel Schlagobers. Ich bin selbst leidenschaftliche Köchin. Der Genuss beim Essen ist unabdingbar beim Erfolg einer Ernährungsumstellung.

profil: Sie raten Ihren Klienten zu Nüssen und Parmesan. Warum? Roberts: Rohe, ganze Erdnüsse sind schwer zu verdauen und liefern ein Drittel weniger Kalorien als die gleiche Menge Erdnussbutter. Sie machen zudem lange satt. Parmesan und Schinken peppen Gemüse oder Vollkornbrot auf und verhindern, dass gesundes Essen fad schmeckt.

profil: Was kann man tun, um sich an den Feiertagen nicht ständig zu überessen? Roberts: Lassen Sie in den Tagen davor keine Mahlzeiten aus, das macht sie umso gieriger. Setzen Sie sich an der Festtafel so hin, dass Sie nicht ständig nach den köstlichen Happen greifen können. Lassen Sie die Finger von jenen Speisen, die Sie nicht besonders mögen.

Verschlankte müssen sich für den Rest ihres Lebens regelmäßig wiegen. Sie müssen sich eine Grenze setzen, die sie nicht mehr überschreiten wollen.

profil: Welche Rolle spielt das Mikrobiom, die individuelle Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaft im Darm, in der Ernährung? Roberts: Das ist noch sehr wenig erforscht. Man weiß allerdings, dass Fettleibige ein anderes Darm-Mikrobiom besitzen als Normalgewichtige. Im Tierversuch hat man festgestellt, dass dicke Mäuse Gewicht verlieren, wenn man ihnen Darmbakterien von schlanken Mäusen implantiert. Ich glaube aber, dass man das nicht auf den Menschen übertragen kann. Menschen können ihr Mikrobiom ganz einfach verändern, indem sie mehr Joghurt essen und sich ballaststoffreich ernähren. Das Darm-Mikrobiom wird automatisch gesünder, wenn man gesünder isst.

profil: Wie lässt sich der Jo-Jo-Effekt verhindern? Roberts: Verschlankte müssen sich für den Rest ihres Lebens regelmäßig wiegen. Sie müssen sich eine Grenze setzen, die sie nicht mehr überschreiten wollen. Sind sie zwei Kilo darüber, etwa nach den Weihnachtsfeiertagen, sollten sie sofort reagieren und für zehn Tage weniger Kalorien aufnehmen. Das reicht normalerweise, um zum persönlichen Wohlfühlgewicht zurückzukehren.

profil: Wie wichtig ist das Frühstück? Roberts: Beginnt man den Tag mit süßen Cornflakes oder Mehlspeisen, so setzt man eine Spirale des Naschens in Gang. Sie treiben den Blutzuckerspiegel in die Höhe, man bekommt schnell wieder Hunger. In den folgenden Stunden nimmt man dadurch etwa ein Drittel mehr Kalorien auf als nach einem Frühstück, das bei gleichen Kalorien mehr Eiweiß und Ballaststoffe und weniger Zucker enthält.

profil: Was wird die Ernährungswissenschaft in den nächsten Jahren bringen? Roberts: Eine weitere Personalisierung. Den Zuschnitt von Ernährungsplänen auf einen bestimmten Patienten, dessen Stoffwechsel, dessen psychologische Bedürfnisse.

profil: In Österreich sind knapp 15 Prozent der Bevölkerung fettleibig, in Deutschland 24 Prozent, in den USA sogar 38 Prozent. Werden wir es irgendwann schaffen, den Trend zu stoppen? Roberts: Ich fürchte, wir haben den Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Zahl der Übergewichtigen steigt weltweit immer noch an. Regionen in Südamerika und Afrika, in denen gerade eine Mittelschicht entsteht, sind am meisten gefährdet. Ich war vor einiger Zeit in Jamaika. Auf meinem Weg vom Flughafen ins Hotel priesen 50 riesige Werbetafeln Eistee, Chips und Schokolade an. Jede Tankstelle, jeder Lebensmittelladen war überflutet mit billigem, zuckerhaltigem Essen und Getränken. In den USA erwacht langsam das Bewusstsein, dass diese Nahrungsmittel nicht gesund sind, in vielen Regionen ist das leider noch nicht der Fall.

profil: Wie schädlich ist Übergewicht? Roberts: Als fettleibig gilt, wer einen Body-Mass-Index von mehr als 30 Kilogramm aufs Quadrat der Körpergröße hat. Adipöse Menschen haben durchschnittlich eine um 14 Jahre geringere Lebenserwartung. Der Grund ist ihre erhöhte Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Komplikationen, Diabetes, Schlaganfälle und mehrere Krebsarten. Auch Übergewicht (ab einem Body-Mass-Index von 25) hindert den Körper, sich gegen Infektionen zu wehren, fördert Schlaflosigkeit und Bluthochdruck.

profil: Jeder kennt jemanden, der essen kann, was er will, ohne dick zu werden. Wie geht das? Roberts: Das sind meist Menschen, die beim Mittagstisch voll zuschlagen, dafür am nächsten Tag das Frühstück weglassen. Sie überessen sich also nicht ständig.

profil: Sie bezeichnen sich selbst als "enthemmte Esserin". Was machen Sie, um diese Leidenschaft nicht täglich auszuleben? Roberts: Ich war vor 20 Jahren selbst übergewichtig und wog 25 Kilo mehr als heute. Wie viele Menschen nasche ich gern nach dem Abendessen. Das ist eine Angewohnheit, die man durch anderes Verhalten ersetzen kann. Ich putze mir zum Beispiel gleich nach dem Essen die Zähne, mache einen Spaziergang, trinke eine gute Tasse Tee oder erlaube mir noch einen Happen Obst.

Zur Person

Susan B. Roberts ist Ernährungswissenschafterin und Psychiaterin. Sie leitet das renommierte Human Nutrition Research Center on Aging an der Tufts University in Boston. Seit 20 Jahren arbeitet Roberts daran, effektivere Methoden zur Gewichtskontrolle zu entwickeln. Auf der Website theiDiet.com gibt sie Ernährungstipps, kocht in Videos Rezepte aus ihren Studien nach und berät Übergewichtige nach dem neuesten Stand der Wissenschaft.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.