Evolutionsforscher Meyer: "Wir sind ein Zufallsprodukt"
INTERVIEW: TILL HEIN
profil: Sie sagen, dass Charles Darwin manchmal schludrig gearbeitet hat. Wie kommen Sie denn darauf? Meyer: Als Darwin 1835 auf Galapagos Vogelbälge sammelte, notierte er nicht genau, welches Exemplar von welcher Insel stammte. Ein Schiffsjunge von der HMS Beagle hat genauere Aufzeichnungen gemacht als er.
profil: Wird Darwins Bedeutung überschätzt? Meyer: Das berühmte Bonmont vom "survival of the fittest", dem Überleben der Bestangepassten, stammt nicht von ihm, sondern vom britischen Sozialphilosophen Herbert Spencer. Darwin benutzte diese Formulierung erst 1869, Jahre nach Spencer, in der fünften Auflage seines Grundlagenwerks "The origin of Species", und gab die Quelle nicht an. Dennoch war Darwin der wichtigste Pionier der Evolutionsforschung. Seine Erkenntnisse haben die Welt verändert. Er brachte das Dogma von der Sonderstellung des Menschen zu Fall: Darwin machte deutlich, dass auch der Mensch ein Tier ist, wenn auch ein besonders intelligentes.
profil: Stimmt es, dass Darwin in "Der Ursprung der Arten" nicht wirklich erklärt, wie Arten entstehen? Meyer: Er hielt die kontinuierliche Anpassung an veränderte Umweltbedingungen für die wichtigste Triebfeder der Evolution: dass Tieren etwa über Jahrmillionen längere Hälse wachsen, wenn sie mangels Gras ständig Blätter von hohen Bäumen fressen. Darwin hat aber keinen genauen Mechanismus vorgeschlagen, wie auf diese Weise neue Arten entstehen. Und er hat auch nicht definiert, was eine Art überhaupt ist.
profil: Was ist eine Art genau? Meyer: Die kurze, ehrliche Antwort lautet: Ich weiß es auch nicht.
profil: Wie bitte? Sie sind einer der führenden Evolutionsforscher. Sie müssen das wissen! Meyer: Unter Fachleuten sind etwa 30 Definitionen geläufig. Besonders griffig und einflussreich ist das biologische Artenkonzept, das mein Mentor, der renommierte Harvard-Professor Ernst Mayr, gemeinsam mit Theodosius Dobzhansky von der Columbia University bereits in den 1940er-Jahren formulierte: Arten sind Gruppen von Individuen, die sich ausschließlich untereinander fortpflanzen.
Gerade die USA sind in vielen Regionen und Milieus sehr religiös und antiwissenschaftlich geprägt.
profil: Klingt gut. Aber dann würden Löwe und Tiger zur gleichen Art gehören. Meyer: Ja, auch dieses Konzept kann nicht alles erklären. Löwen und Tiger können tatsächlich Nachwuchs miteinander zeugen. Das geschieht zwar nur in Gefangenschaft, und die sogenannten Liger sind unfruchtbar. Aber es gibt auch Hybride zwischen einigen Gänse- und Entenarten, die sich fortpflanzen können. Humangenetiker haben nachgewiesen, dass es zwischen dem frühen Homo sapiens und dem Neandertaler zu Geschlechtsverkehr kam, bei dem fruchtbarer Nachwuchs gezeugt wurde. Auch wir tragen etwas Neandertaler-DNA in unserem Erbgut. Dennoch gelten Homo sapiens und Neandertaler bislang als unterschiedliche Arten.
profil: Sollten wir uns vom Begriff der Arten verabschieden? Meyer: Nein. Arten voneinander abzugrenzen, ist in der Praxis jedoch oft schwierig. Sehr viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: das Aussehen, das Verhalten bei der Balz sowie Unterscheidungen auf genetischer Ebene. Aber wir lernen ständig mehr über Arten und deren Entstehung.
profil: Viele Menschen halten die Evolutionstheorie für eine Irrlehre. "34 Prozent aller Amerikaner glauben, dass Adam und Eva auf Dinosauriern zur Kirche geritten sind", schreiben Sie in einem Ihrer Bücher. Meyer: Das war eher als bitterer Scherz gedacht. Aber ich habe fast 20 Jahre in Nordamerika geforscht und kann sagen: Gerade die USA sind in vielen Regionen und Milieus sehr religiös und antiwissenschaftlich geprägt: Viele Amerikaner nehmen die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich und glauben, dass die Welt in sieben Tagen geschaffen wurde.
profil: Wie gut ist die Evolutionstheorie abgesichert? Wichtige Bindeglieder wurden nie gefunden. Meyer: Gerade in den letzten Jahrzehnten haben wir durch Fossilfunde sehr viel Neues gelernt. Im Nordosten von China entdeckten Forscher 2009 das Fossil eines Dinosauriers mit vier Flügeln: das entscheidende Bindeglied zwischen den Dinos und den Vögeln, das neue Einblicke in die Entwicklung der Federn und Flügel gibt.
profil: Der letzte gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Affe ist aber noch ein Missing Link. Meyer: Das bereitet mir kein Kopfzerbrechen. Um ein solches Fossil zu finden, braucht man viel Glück, zumal diese "Affenmenschen" vielleicht nicht besonders zahlreich waren. Und die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass evolutionäre Prozesse mitunter sprunghaft und sehr viel schneller vonstatten gehen können, als lange geglaubt wurde.
profil: Geht es bei der Evolution nicht immer um Hunderte Jahrmillionen? Meyer: Nein. Im Victoriasee in Ostafrika konnte ich nachweisen, dass die 500 Buntbarscharten, die ausschließlich dort vorkommen, unglaublich schnell entstanden sind: ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Fantasie der Evolution in Bezug auf Artendiversität. Im Bodensee etwa gibt es gerade mal 30 unterschiedliche Fischarten, in ganz Europa keine 500. Und der Victoriasee war noch vor rund 14.000 Jahren völlig ausgetrocknet. Ziemlich sicher sind diese 500 Buntbarscharten also keine 14.000 Jahre alt.
Selbstverständlich arbeitete die Evolution nicht auf die Entwicklung des Menschen hin. Wir sind ein Zufallsprodukt, wie jede andere Tierart auch.
profil: Was regt die Fantasie der Natur zur Artenbildung an? Meyer: Da ist noch vieles ungeklärt. Ernst Mayr hielt geografische Barrieren für den entscheidenden Faktor: Verändert sich beispielsweise ein Flusslauf aufgrund eines Erdbebens und trennt den Lebensraum von, sagen wir, Mäusen in zwei ökologisch unterschiedliche Gebiete, etwa in ein Moor und eine Savanne, können sich nur noch die Individuen links und diejenigen rechts des Flusses untereinander fortpflanzen. Und irgendwann werden die beiden Teilpopulationen aufgrund der Anpassung an ihre Lebensräume so unterschiedlich sein, dass sie sich nicht mehr miteinander paaren wollen, selbst wenn die natürliche Barriere wieder wegfällt.
profil: Okay. Aber wo gibt es im Victoriasee solche Barrieren? Meyer: Der See ist riesig, größer als die Schweiz. Und er ist ein sehr heterogener Lebensraum, der viele unterschiedliche lokale Ökosysteme umfasst. Sandige Habitate finden sich direkt neben steinigen. Unsere Forschung hat gezeigt, dass die Buntbarsche sehr standorttreu sind: Sie bleiben meist dort, wo sie geboren werden. Wenn es da viele Algen gibt, spezialisieren sie sich aufs Algenraspeln, in Gebieten mit Seeschnecken dagegen auf das Aufknacken von Schneckenhäusern. So wurden sie immer unterschiedlicher. Manche entwickelten einen großen zweiten Kiefer, ähnlich wie Außeridische in Horrorfilmen. Und sie paarten sich jeweils nur noch untereinander, obwohl keine klaren natürlichen geografischen Barrieren vorhanden waren.
profil: Vielleicht folgt die Evolution ja einem übergeordneten Plan? Der britische Fossilienforscher Simon Conway Morris behauptet: "Der Mensch war schon im Moment des Urknalls angelegt." Meyer: Conway Morris ist ein sehr angesehener Paläontologe. Aber dass er sich in diesem Punkt irrt, ist unter fast allen Fachleuten Konsens. Selbstverständlich arbeitete die Evolution nicht auf die Entwicklung des Menschen hin. Wir sind ein Zufallsprodukt, wie jede andere Tierart auch.
Auch das 'Design' des Menschen hat Schwächen: Die enge Verbindung zwischen unserer Luft- und Speiseröhre begünstigt Erstickungstode.
profil: Morris argumentiert: "Im Gehirn des Menschen sind Gene aktiv, die schon in der Hefe enthalten sind, obwohl diese kein Gehirn hat." Und das Land ist in der Evolutionsgeschichte drei Mal unabhängig voneinander erobert worden: Es sei also programmiert, dass Lebewesen aus dem Meer früher oder später an Land gehen und immer größere Gehirne entwickeln würden. Meyer: Schon das Argument mit der Hefe überzeugt mich nicht. Die Evolution beginnt ja nicht mit einem weißen Blatt Papier, sondern muss mit dem vorliebnehmen, was als Ausgangsmaterial da ist. Die Evolution ist ein Bastler, kein Ingenieur. Organismen müssen in jeder Generation funktionieren, und dies bedingt, dass sie auf Funktionierendem aufbaut. So werden Zufälle eingefroren und Bedingtheiten weitergegeben.
profil: Gibt es aus diesem Grund Fehlkonstruktionen in der Natur wie Albatrosse, die sich beim Landen den Hals brechen? Meyer: Auch das "Design" des Menschen hat Schwächen: Die enge Verbindung zwischen unserer Luft- und Speiseröhre begünstigt Erstickungstode. Die Evolution arbeitet eben nicht wie ein Ingenieur mit einem Plan. Ihre Produkte müssen vielmehr in jeder Generation funktionieren. Es gibt daher Einschränkungen: Manches lässt sich nur sehr langsam verändern, anderes vielleicht gar nicht mehr. Dass wir an den Extremitäten höchstens fünf Finger oder Zehen haben können, ist so ein eingefrorener Zufall. Das wurde vor etwa 420 Millionen Jahren festgelegt, weil die Fische, die damals an Land gingen, zufälligerweise fünf "Finger" hatten. So folgt das Design der Gliedmaßen alle Wirbeltiere diesem Bauplan.
profil: Dabei wären mehr Finger beim Greifen vielleicht von Vorteil. Und bereits Darwin schreibt eben vom "survival of the fittest". Meyer: Moment. Darwin bezieht dieses Prinzip vor allem auf Individuen derselben Art. Und Sie sollten bei fit nicht ans Fitnessstudio denken. Entscheidend ist in der Natur letztlich nur, wie viele Nachkommen ein Individuum hinterlässt im Verhältnis zum Fortpflanzungserfolg seiner Artgenossen. Es geht um das relative Überleben des eigenen Erbguts. Und da können ganz unterschiedliche Strategien zum Erfolg führen. Bei Lachsen gibt es große, dominante Männchen, aber auch kurios aussehende kleine Männchen, deren Körper fast nur aus Hoden besteht. Laicht ein Weibchen ab, kämpfen die stärksten Männchen um das Recht zur Befruchtung der Eier. Wenn der Kräftigste zum Zug kommt, schwimmt manchmal aber blitzschnell ein Winzling heran, gießt seinen Samen einfach dazu und pflanzt sich ebenfalls fort.
profil: Man muss in der Natur also letztlich nur sexuell potent sein? Meyer: So einfach ist es auch wieder nicht. Man muss auch genügend Nahrung finden, Fressfeinden entkommen und Krankheiten überleben. Schon daher sind alle Tiere Kompromisse. Das Entscheidende ist aber in der Tat die Weitergabe der eigenen Gene: Mit wem man sich fortpflanzt, ist die wichtigste Entscheidung im Leben.
profil: Vogelweibchen sollen bei der Partnerwahl besonders wählerisch sein. Meyer: Richtig. Neben der Pracht des männlichen Gefieders spielt zum Beispiel der Caruso-Effekt eine Rolle: Die Weibchen achten sowohl auf den Klang der Stimme der Männchen als auch auf die Variationen in ihrem Gesang, also gleichsam darauf, wie viele Strophen eines Liedes sie beherrschen. Letzteres, vermuten Experten, ist ein Signal für ein gutes Gedächtnis und für gute genetische Qualität, die dann auch an die nächste Generation weitergegeben wird.
profil: Und wenn ein Vogelweibchen sich für den besten Partner entschieden hat, bleibt es ihm ein Leben lang treu? Meyer: Nein. Bei Blaumeisen und vielen anderen Singvögeln sind 25 Prozent der Jungtiere nicht die Kinder des Männchens, das sich das Weibchen ausgesucht hat, sondern wurden von einem Nachbarn gezeugt.
Die Natur funktioniert nach dem Prinzip der Konkurrenz.
profil: Wie absurd. Meyer: Finden Sie? Es geht den Weibchen darum, möglichst für alles gewappnet zu sein: Vielleicht wird das nächste Jahr besonders trocken oder kalt? Dann ist womöglich die genetische Ausstattung des weniger schön singenden Nachbarn zufällig ideal. Man stellt sich als Weibchen am besten genetisch möglichst breit auf: Man wählt einen festen Partner mit möglichst guten Erbanlagen, betrügt diesen aber von Zeit zu Zeit, um genetische Alternativen zu produzieren.
profil: Lässt sich auch menschliches Verhalten aus der Evolution erklären? Meyer: Grundsätzlich ja. Der genetische Verwandtschaftsgrad sagt zum Beispiel voraus, wie groß die Weihnachtsgeschenke für Kinder ausfallen. Eltern schenken mehr als Großeltern. Und die Großeltern väterlicherseits machen weniger große Geschenke als die mütterlicherseits. Denn die väterlicherseits können nicht ganz sicher sein, dass sie wirklich ihre leiblichen Enkel beschenken. Und generell ist die Solidarität mit Verwandten selbstverständlich größer als diejenige mit Fremden. Blut ist eben dicker als Wasser, ob wir das wollen oder nicht.
profil: Manches in der Natur dient aber nicht nur der eigenen Familie, sondern der Arterhaltung: Wird die Population zu groß, stürzen sich ganze Gruppen von Lemmingen von Klippen in den Tod, damit ihre Artgenossen genügend Futter haben. Meyer: Unsinn. Das hat Hollywood 1958 für den Tierfilm "White Wilderness" nur so inszeniert. Aufgrund einer Hungersnot wechseln Lemminge manchmal ihr Gebiet, und es kann sein, dass sie aus Ungeschick irgendwo hinabstürzen. Aber sicher nicht, um sich für ihre Artgenossen zu opfern. Artgenossen sind ja auch keine Genossen, sondern primär die größten Konkurrenten.
profil: Aber Fische schließen sich solidarisch zu riesigen Gruppen zusammen und entwickeln Schwarmintelligenz. Meyer: Auch im Schwarm ist sich jeder selbst der Nächste. Als Hering schwimme ich in einer Großgruppe, damit im Zweifelsfall der andere gefressen wird und nicht ich. Jeder versucht in der Mitte zu sein, wo man am besten geschützt ist. So funktionieren Schwärme. Die Natur funktioniert nach dem Prinzip der Konkurrenz. Und Artgenossen sind die härtesten Konkurrenten, weil sie die gleichen ökologischen Ansprüche haben und die gleichen Paarungspartner suchen.
profil: Und gerade der Egoismus jedes Einzelnen dient Mutter Natur dazu, für ein ökologisches Gleichgewicht zu sorgen? Meyer: Quatsch. Es gibt keine Mutter Natur. Diese seltsam romantische Vorstellung von der Natur hat mit der Realität nichts zu tun. Die Schriftstellerin Thea Dorn hat mich unlängst darauf hingewiesen, dass diese romantische Betrachtungsweise unter anderem auf die Lyrik von Friedrich Hölderlin zurückgeht.
profil: Sie als Biologe glauben nicht an eine Tendenz der Natur zum ökologischen Gleichgewicht? Meyer: Das hängt ganz vom betrachteten Zeitraum ab. Bekannt ist der Raubtier-Beute-Zyklus: Viele Beutetiere lassen die Raubtierpopulation anwachsen, bis nur noch wenig Beute da ist, die Räuber also zu wenig zu fressen finden und wieder weniger werden. Daraufhin regeneriert sich die Population der Beutetiere, und das Spiel beginnt von vorn. Die Natur pendelt sich also ein.
profil: Genau. Meyer: Aber über größere Zeiträume kommt es zu gewaltigen Einbrüchen, durch Eiszeiten, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge. Man darf sich nichts vormachen: Die große Mehrzahl der Arten auf dieser Erde ist längst wieder ausgestorben. Das ist das Schicksal von Arten. Ich fürchte, auch von uns.
Axel Meyer, 58,
ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz und einer der einflussreichsten und meistzitierten Experten für vergleichende Genomik und molekulare Evolution. Schon im Volksschulalter sammelte er leidenschaftlich Käfer und hielt eine zahme Elster als Haustier. Mit zehn Jahren bekam er ein Aquarium geschenkt, und Fische wurden zu seinen Lieblingstieren. Bald standen die Wände seines Zimmers bis zur Decke voller Fischbecken. Sein Vater, ein Ingenieur, installierte einen Stromzähler vor dem Kinderzimmer: "Damit ich sehe, wie viel Strom ich verbrauche ." Auch als Student wollte sich Meyer nicht von seinen Fischen trennen, selbst dann nicht, als eine Vermieterin drohte, ihm zu kündigen, nachdem sie entdeckt hatte, dass er in seiner Bude nicht allein, sondern mit 80 selbst gebastelten Glaskästen voller Flossentiere lebte. Meyer studierte in Marburg, Kiel, Boston und Miami Biologie. 1988 promovierte er an der University of California in Berkeley über die Evolution von Buntbarschen. 1990 wurde er Professor an der State University of New York. Seit 1997 lehrt und forscht er an der Uni Konstanz. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und wurde für seine Forschung unter anderem mit dem Ernst Mayr Award der Harvard University sowie dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.