Fehldiagnosen und Einreden: „Ihnen fehlt nichts“
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Von Ruth Eisenreich
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Sonja Kohl ist Anfang 30, als es beginnt. Magen-Darm-Probleme, geschwollene Lymphknoten, Blasenentzündungen, ständiger Muskelkater. Sie geht zum HNO-Arzt wegen ihrer Ohrenschmerzen, er findet keine Erklärung. Der Augenarzt sagt, an den entzündeten Augen seien ihre Kontaktlinsen schuld. Der Umstieg auf eine Brille ändert nichts. Sie macht einen Allergietest, weil sie dauernd niesen muss: negativ.
Die meisten Menschen haben so etwas schon einmal erlebt. Das Knie schmerzt, der Kreislauf schwächelt, die Verdauung spinnt. Man weiß nicht, warum, und dann ist es wieder vorbei. Oder: Irgendwann macht man sich doch Sorgen, geht zur Ärztin, die findet nichts, man ist erleichtert, irgendwann sind die Beschwerden dann auch wieder weg.
Oder eben nicht. Ob unerklärte Beschwerden harmlos sind und bald wieder verschwinden oder ob sie erste Anzeichen einer ernsten Erkrankung sind, kann zunächst niemand wissen. Im Fachjargon gibt es verschiedene Bezeichnungen für Symptome ohne eindeutige Ursache: Medically Unexplained Symptoms (MUS) etwa, Medically Unexplained Physical Symptoms (MUPS), Persistent Somatic Symptoms (PSS), Bodily Distress Syndrome (BDS), Somatoforme Störungen oder Funktionelle Körperbeschwerden. Das Fehlen einer einheitlichen Klassifikation führe in der Fachliteratur auch zu „verwirrend unklaren“ Angaben über die Häufigkeit des Phänomens, schreibt der norwegische Medizinsoziologe Erik Børve Rasmussen in einem 2020 erschienenen Artikel im Journal „Social Studies of Science“. In einem der von ihm zitierten Fachartikel heißt es, dass zehn bis 15 Prozent aller Hausarztbesuche wegen MUS erfolgen, ein anderer spricht von drei bis 39 Prozent, ein dritter von 25 bis 50 Prozent.
Mittlerweile ist Sonja Kohl 40 Jahre alt. Sie erzählt ihre Geschichte vom Bett aus, per Videotelefonat. Sie trägt eine große runde Sonnenbrille, obwohl sie in einem abgedunkelten Raum liegt. Sie schaut nicht auf den Bildschirm, sondern an ihm vorbei. Über die Jahre, so erzählt Kohl, seien ihre Symptome zahlreicher und schlimmer geworden.
Weil sie Schmerzen im Oberbauch hat und nicht lange aufrecht stehen kann, denkt ein Venenspezialist an einen Verschluss einer Ader im Bauchraum. Ultraschall, Magenspiegelung, Darmspiegelung: Er findet nichts.
Die Ärztinnen und Ärzte in der Rheumatologie vermuten die Autoimmunerkrankung Lupus – im Blutbild ist nichts davon zu sehen. Sie sucht sich einen neuen Hausarzt, der sagt: „Sie haben nichts.“ Er empfiehlt einen Vitaminsaft.
Sie sucht noch einen neuen Hausarzt. Der lässt ihr Blut auf Tumormarker untersuchen, weil ihre Nebennierenwerte so schlecht sind: nichts. Ihre Akte wird dicker und dicker. Ein Neurologe sagt, er sehe schon am Umfang ihrer Akte, dass sie ein psychisches Problem habe.
Sie beginnt auf den 200 Metern zur Bushaltestelle zu schwitzen, übergibt sich in der Arbeit, kann ihre Einkaufstaschen kaum noch halten. Ein Kardiologe vermutet einen Herzklappenfehler, auf dem Ultraschall: nichts.
Ein Radiologe sucht im MRT nach Entzündungsherden in Gehirn und Rückenmark, die auf Multiple Sklerose hindeuten würden. Ergebnis: nichts. Freundinnen und Bekannte raten zu grünen Smoothies und Meditation. Ihre Beziehung leidet. „Ich habe alles ausprobiert“, sagt Kohl. „Mein Gebiss erneuern lassen, meine Ernährung zig Mal umgestellt, eineinhalb Jahre lang auf Zucker und Getreide verzichtet, mir Heilsteine umgehängt, zu Hause Tee angebaut, Reiki gemacht, Familienaufstellung, Handauflegen. Irgendwann habe ich jeden Abend gebetet: Bitte lass mich morgen tot umfallen, mach, dass es vorbei ist.“
Petra Aurich ist 38, als es beginnt. Schon als Kind habe sie oft Schmerzen in den Händen und Füßen gehabt, erinnert sie sich. Als sie 38 ist, stirbt ihr Mann an einem Herzinfarkt. Am Tag darauf, erzählt Aurich, bekommt sie entsetzliche Zahnschmerzen, der Zahnarzt muss den Zahn ziehen. In den Monaten darauf leidet sie an Kreislaufbeschwerden, Schlafproblemen, Migräne, Schmerzen in Armen und Beinen.
Der Hausarzt vermutet psychische Überlastung. Der Gastroenterologe findet bei der Magen-Darm-Spiegelung ein kleines Magengeschwür, das aber ihren anhaltenden Durchfall nicht erkläre. Die Schmerztherapeutin sucht eine körperliche Ursache für ihre Kopfschmerzen, findet nichts. Der Orthopäde hat keine Erklärung für die Schmerzen in ihren Armen und Beinen, auch im Röntgenbild: nichts.
Irgendwann schlägt der Durchfall um in Verstopfung, wieder eine Magen-Darm-Spiegelung, wieder nichts. Der Hausarzt, so erzählt Aurich, habe ihr irgendwann gesagt: „Wenn die Fachärzte nichts finden, kann da nichts sein.“
Aber was heißt in der Medizin überhaupt „nichts“? Wenn ein Mensch Schmerzen hat und leidet, aber alle Blutwerte, alle bildgebenden Verfahren, alle Befunde darauf hindeuten, dass er völlig gesund ist: Hat er dann nichts?
Das Problem beginne damit, dass der Begriff der Krankheit mehrere Dimensionen habe, sagt Heiner Fangerau, Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uniklinik Düsseldorf. Das sei erstens das Vorliegen von objektiven Befunden, wobei objektiv hier laut Fangerau heißt: „Das, was Ärztinnen und Ärzte nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft erkennen können.“
Das sei zweitens das individuelle Leiden, das Krankheitsgefühl. Und drittens die gesellschaftliche Wahrnehmung, die soziale Akzeptanz, so Fangerau: „Wann wird eine Einschränkung als Krankheit anerkannt, sodass die Gesellschaft einen von bestimmten Aufgaben entbindet?“ Schwierig werde es, wenn es eine Spannung zwischen den drei Dimensionen gibt.
Das Bedürfnis, Krankheiten zu erklären und zu klassifizieren, sei in der Medizin etwas verhältnismäßig Neues, sagt Fangerau: Früher sei es nicht wichtig gewesen, eine Erkrankung benennen zu können, es ging eher um die grundsätzliche Frage, ob jemand krank oder gesund war, und darum, was man unternehmen konnte, um gesund zu bleiben oder zu werden. Seit dem 18. Jahrhundert entstanden einerseits immer mehr große Krankenhäuser, in denen man eine große Zahl von Patienten und Patientinnen systematisch beobachten konnte. Und die Medizin begann andererseits, Verstorbene zu sezieren und organbezogen nach den Todesursachen zu suchen. Erst damit habe eine Wende hin zum Konzept der Diagnostik eingesetzt, sagt Fangerau, also zur Einordnung der Symptome in einen Krankheitskatalog.
Gerade dieses Denken in Diagnosen und Klassifikationen kann aber bei der Patienten- wie auch der Ärzteschaft die unrealistische Erwartung wecken, dass die Medizin jede noch so kleine Beschwerde erklären kann – und somit den Umgang mit Symptomen, für die sie (vorerst) keine Begründung findet, erschweren. Dabei sind die Ordnungssysteme der Medizin keineswegs starr, neue wissenschaftliche Erkenntnisse führen immer wieder zu Änderungen in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation.
Im Jahr 2015, berichtet Petra Aurich, bringen eine Neurologin und ein Physiologe unabhängig voneinander einen für sie damals unaussprechlichen Begriff auf den Tisch. Zehn Jahre nach Beginn ihrer Odyssee durchs Gesundheitssystem hat Aurichs Nichts plötzlich einen Namen: Fibromyalgie, eine chronische, bisher nicht heilbare Schmerzerkrankung, die vermutlich durch eine Mischung aus genetischen, körperlichen und psychosozialen Faktoren ausgelöst wird.
Sonja Kohl wiederum erzählt, dass sie Anfang 2018 ein Medikament verschrieben bekam, das keine Nebenwirkungen haben sollte. Doch nach der Einnahme geht es ihr dreckiger als je zuvor. Sie googelt das Medikament und stößt auf eine Warnung: Man solle nicht mit der sonst empfohlenen Dosis beginnen, wenn man an einer bestimmten Erkrankung leide. Sie klickt sich weiter, liest eine Beschreibung der Erkrankung und denkt: „Das ist exakt meine Geschichte.“ Sechs Jahre nach Beginn ihrer Ärzte-Odyssee hat auch Sonja Kohls Nichts einen Namen: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), eine bisher nicht heilbare neuroimmunologische Erkrankung, die meist in Folge von viralen Infektionen auftritt. Sie äußert sich vor allem in einer körperlichen Schwäche, die sich nach der geringsten körperlichen oder mentalen Belastung stark verschlimmert.
Michael Stingl kennt viele Geschichten wie die von Sonja Kohl. Der Wiener Neurologe ist einer von wenigen Fachleuten in Österreich, die sich auf ME/CFS spezialisiert haben. Dass der Weg zur Diagnose oft so lang ist, habe zum Teil mit der Krankheit an sich und dem Stand der Forschung zu tun, sagt er: Weil ME/CFS bisher nicht im Blutbild oder im MRT nachgewiesen werden kann, müssen zuerst eine Reihe anderer Erkrankungen ausgeschlossen werden. Zum Teil aber liege es auch daran, dass die Medizin ME/CFS über Jahrzehnte ignoriert oder fälschlicherweise als psychosomatisch eingeordnet habe. „Gerade bei jungen Frauen greifen Ärzte und Ärztinnen schnell auf psychologische Erklärungsmodelle zurück, wenn sie auf den ersten Blick nichts Körperliches finden“, sagt Stingl.
Rund drei Viertel aller Menschen, die wegen eines Verdachts auf ME/CFS zu ihm kommen, schätzt Stingl, sei der Begriff bei der Internetrecherche zum ersten Mal untergekommen. Natürlich stimme nicht bei allen die Selbstdiagnose, sagt Stingl, „aber bei bemerkenswert vielen sind die Kriterien für ME/CFS tatsächlich erfüllt“.
Ausgerechnet die Corona-Pandemie führt jetzt zu Verbesserungen bei der Diagnose von ME/CFS. Denn die Symptome vieler Long-Covid-Betroffener gleichen denen von ME/CFS, schwere Long-Covid-Erkrankungen können sich zu ME/CFS entwickeln. „Weil Hausärzte, Neurologen und Psychiater jetzt geballt Leute mit diesen Symptomen sehen und nicht mehr nur vereinzelt, erkennen sie das Muster eher“, sagt Stingl. „Dadurch haben jetzt wesentlich mehr Kollegen und Kolleginnen die Krankheit am Radar.“
Claudia Sommer ist Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Uniklinik Würzburg und ehemalige Präsidentin der Deutschen Schmerzgesellschaft. Zu ihr kommen immer wieder Menschen mit ungeklärten Symptomen. Bei manchen findet sie am Ende eine Erklärung in der psychosozialen Situation. Sie erinnert sich an einen Patienten, der jahrelang mit Schmerzen zu ihr kam. „Dann fiel die Belastung durch eine pflegebedürftige Angehörige weg, und der Patient fand eine neue Lebensgefährtin. Beim nächsten Besuch hatten die Schmerzen stark nachgelassen.“
In anderen Fällen ist es umgekehrt. Etwa beim Stiff-Person-Syndrom, erzählt Sommer: „Das ist eine Autoimmunerkrankung, deren Ursache wir genau kennen, die konkret behandelbar ist, aber so selten, dass nicht jeder Neurologe sie schon mal gesehen hat.“ Wenn sich die Symptome nicht mit Rheuma oder bestimmten Muskelkrankheiten erklären ließen, gingen Betroffenen oft jahrelang zur Psychotherapie – bis endlich jemand die wahre Ursache entdeckt und entsprechend behandelt.
Oft spielen Körper und Psyche auch zusammen und es ist unklar: Sind die Schmerzen der Patientin Symptom einer Depression oder ist sie depressiv geworden, weil sie unter unerklärten Schmerzen leidet? Die Medizin geht heute ohnehin davon aus, dass Körper, Psyche und soziales Umfeld keine voneinander getrennten Systeme sind, sondern sich wechselseitig auf verschiedenste Arten beeinflussen.
In einer 2015 im „Journal of Psychosomatic Research“ erschienenen Übersichtsarbeit analysierten Hamburger Forschende 42 Studien zu diesem Thema. Sie gibt einen systematischen Überblick über die vielen Hindernisse, die der Diagnose und Behandlung von unerklärten Symptomen im Weg stehen können (siehe Kasten links). Manche davon haben mit dem Wissensstand und den Einstellungen des Gesundheitspersonals zu tun, andere mit denen der Betroffenen, wieder andere mit der Interaktion zwischen beiden oder mit externen Faktoren wie der begrenzten Zeit in der Sprechstunde oder den sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen.
Auch der Stand der medizinischen Forschung und der Diagnose-Techniken kann mit schuld daran sein, dass nichts diagnostiziert wird, obwohl etwas da ist. „Gestürzten Motorradfahrern wurde früher gesagt, sie bildeten sich ihre Schmerzen in den Händen nur ein, weil man im Röntgenbild nichts gesehen hat“, berichtet Medizinhistoriker Fangerau. „Als Computertomografien sich verbreiteten, konnte man plötzlich kleine Brüche in bestimmten Handwurzelknochen nachweisen.“
Die Psychologin und Versorgungsforscherin Nadine Pohontsch vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf forscht zum Umgang von Hausärzten und -ärztinnen mit unerklärten Symptomen. „In der Öffentlichkeit wird relativ häufig über einzelne Leidensgeschichten berichtet“, sagt sie. „Andererseits tauchen Menschen, die sich gut behandelt fühlen, denen eine Psychotherapie hilft oder deren Symptome nach einem halben Jahr von allein weggehen, nicht in den Statistiken auf und auch nicht in den Selbsthilfegruppen.“ Sie vermutet, dass Fälle wie die von Petra Aurich und Sonja Kohl verhältnismäßig selten sind. „Aber es gibt diese Patienten und Patientinnen, und ihr Leid ist sehr groß.“
Das Leid entsteht aus der Unklarheit darüber, was mit einem los ist – und es wird verstärkt, wenn die Betroffenen den Eindruck bekommen, dass sie nicht ernst genommen werden, ihnen nicht geglaubt wird, sie zu Hypochondern erklärt werden. Die Zeit kurz vor ihrer Diagnose sei die schwierigste gewesen, sagt Sonja Kohl im Rückblick. Nie habe sie sich so allein und unverstanden gefühlt. „Sie haben nichts“ sei das Schlimmste, was man einem kranken Menschen sagen könne. Ihr bestes Arztgespräch in all den Jahren, erzählt Kohl, sei das mit einem Rheumatologen gewesen. Dessen Untersuchungen hatten zwar nichts ergeben, er konnte ihr nicht helfen – aber er glaubte ihr, dass da etwas war.