Feldhase, Ambrosie, Gottesanbeterin: Die Profiteure der Erderhitzung
Von Franziska Dzugan
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Wenn das nur keine Bruchlandung wird: Die Jungstörche stehen wackelig auf den langen rosa Beinen, schlagen nervös mit den Flügeln, hüpfen unsicher auf und ab. Mehrmals torkeln sie reihum im großen Nest. Sich in die Lüfte zu schwingen, traut sich heute noch keiner. Irgendwann klappen sie die scheinbar zu groß geratenen schwarz-weißen Schwingen wieder ein und hocken sich müde klappernd in den Horst.
Es ist eine Freude, die Jungstörche im burgenländischen Rust über eine Livekamera bei den ersten Flugversuchen zu beobachten. Es sind so viele wie noch nie: 86 Küken schlüpften heuer in der Stadt an den Ufern des Neusiedler Sees. Der warme April und der nasse Mai, die anderen Tieren Probleme bereiteten, waren für die Störche ideal. Der viele Regen ließ die Pegel des Sees steigen, es gibt Mäuse und Frösche im Überfluss. Auch die zunehmend warmen Winter kommen den Zugvögeln gelegen. Manche fliegen nur noch ans Mittelmeer anstatt nach Afrika, andere bleiben gleich in Österreich. Wird es ihnen doch zu kalt, sind sie binnen eines Tages an der warmen Adria.
Die Weißstörche zählen eher zu den Gewinnern der Erderhitzung. Während der Großteil von Flora und Fauna darunter leidet, profitieren einige wenige Arten davon. Manche wandern aus dem Mittelmeerraum immer weiter in den Norden, andere breiten sich in den Alpen in höheren Lagen aus, weil es auch in den Bergen immer wärmer wird. Welche Arten können die Klimakrise für sich nutzen? Und wie sehr werden sie Tiere und Pflanzen verdrängen, die sich weniger gut an die neuen Bedingungen anpassen können?
Die Gewinner in den Alpen
Der Schneehase ist einer, der früher oder später von einem Profiteur der Klimakrise überrannt werden wird: dem Feldhasen. Wenn im Winter die Berghänge früher aper werden, kommt der Schneehase mit dem Umfärben des Fells nicht nach. Auf grünen Wiesen sitzt er für Uhu, Adler und Fuchs wie auf dem Präsentierteller. Also wandert der Schneehase wohl oder übel nach oben – im Schnitt drei Meter pro Jahr, wie Jagddaten aus der Schweiz zeigen. Der braune Feldhase ist aber doppelt so schnell: Sechs Meter pro Jahr verschieben sich Feldhasen-Populationen nach oben, wo sie durch die weniger harten Winter immer bessere Bedingungen vorfinden. „Die Überlappungszonen zwischen Schnee- und Feldhasen werden immer größer. Da sich die beiden Arten untereinander paaren, werden die Schneehasen irgendwann verschwinden, weil ihre Gene zu viele Nachteile bringen“, sagt der Wildtierbiologe Klaus Hackländer von der Universität für Bodenkultur (BOKU).
Insgesamt befindet sich aber auch der Feldhase auf dem Rückzug. Wie fast alle Wildtiere in Österreich leidet er an Lebensraumverlust: Täglich verschwinden zwölf Hektar wertvoller Boden unter Straßen, Siedlungen, Gewerbegebieten. Die intensive Landwirtschaft lässt Hasen, Vögeln und Insekten kaum mehr Rückzugsräume, Hecken, Tümpel und Brachen fehlen. Die Folge: Auch Allerweltstiere wie der Feldhase haben es schwer; die Dichte des früher weit verbreiteten Langohrs sinkt stetig. Das kann auch die Eroberung der Berge nicht ausgleichen.
Die Pflanzenwelt der Alpen ist ebenfalls voll im Klimawandel angekommen. In Österreich wurde es in den vergangenen Jahrzehnten um zwei Grad wärmer, damit haben sich auch die Vegetationsgrenzen nach oben verschoben – im Schnitt um bislang 300 Meter. Die Ersten, die das für sich nutzen, sind Lärche und Zirbe. Im Tiroler Ötztal und in Osttirol haben die beiden Baumarten bereits Höhen von 2500 Metern erobert – sind also weit über die dortige historische Baumgrenze von 2200 Metern hinausgewachsen.
Schwerer tun sich da Österreichs Nationalblumen: Edelweiß, Enzian und Almrausch stehen weiter unten nicht nur durch Hitze und Trockenheit unter Druck, sondern bekommen durch Bäume und Büsche nun auch noch Konkurrenz. „Viele klassische Gebirgsblumen brauchen länger, um dem Klima nach oben zu folgen. Außerdem ist ihnen durch die Gipfel eine Grenze gesetzt. Das birgt ein erhebliches Aussterberisiko“, warnt der Ökologe Franz Essl in der aktuellen Folge von „Vorsicht heiß“, dem profil-Klimapodcast.
Edelweiß in Gefahr
Österreichs Berge ohne Edelweiß? Wenn der CO2-Ausstoß und damit die Erderhitzung weiter ungebremst voranschreiten – wonach es aktuell aussieht –, könnte das in den nächsten Jahrzehnten Realität werden.
Ein giftig grüner Klon, der alles um sich herum verschlingt: Die Beschreibung des Japanischen Staudenknöterichs klingt, als sei sie dem Drehbuch eines Alien-Horrorstreifens entsprungen. Für die heimische Flora ist das bis zu drei Meter hohe Gewächs tatsächlich wie eine Invasion. Ein kleines, angeschwemmtes Wurzelstück reicht, um einen neuen Knöterich-Klon zu bilden. Er wächst jährlich mehrere Meter in die Breite und verdrängt fast jedes Kraut, das vor ihm da war. An den Ufern der Donau von Passau bis Hainburg hat sich der Anfang des 19. Jahrhunderts eingeschleppte Japanknöterich ausgebreitet, indem seine Wurzeln und Triebe bei Hochwasser oder durch unsachgemäße Pflege verteilt wurden. Bisher konnten ihn nur strenge Winter etwas bremsen. Nun breitet sich der durchsetzungskräftige Überlebenskünstler bis in die wärmeren Alpentäler aus.
Ebenso die wärmeliebende Ambrosie aus Nordamerika, die heute in Österreich zehn Mal häufiger vorkommt als noch zur Jahrtausendwende. Das ist nicht nur für Allergikerinnen eine schlechte Nachricht, sondern auch für die Landwirtschaft, wo sie mittlerweile ein weitverbreitetes Unkraut ist.
Was aber setzt der heimischen Natur mehr zu: Die schwindenden Lebensräume durch den enormen Bodenverbrauch und die intensive Landwirtschaft – oder der Klimawandel? Immerhin ist in Österreich laut Umweltbundesamt jede dritte Pflanzenart stark gefährdet, mehr als die Hälfte aller Amphibien und Reptilien, knapp die Hälfte aller Fische und ein Drittel aller Vögel und Säugetiere. „Bisher ist am Großteil des Tier- und Pflanzensterbens die Landnutzung schuld. Wir lassen immer weniger intakte Natur übrig. Der Klimawandel ist da noch das negative Sahnehäubchen obendrauf. Insgesamt ist das ein tödlicher Cocktail“, sagt Franz Essl von der Universität Wien.
Renaturierungsgesetz als Chance
Umso wichtiger ist das kürzlich von der EU beschlossene Renaturierungsgesetz, das in Österreich fast zum Koalitionsbruch geführt hätte. Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) hat dafür gestimmt, obwohl der Koalitionspartner ÖVP strikt dagegen war. In der Wissenschaft ist das Gesetz freilich unumstritten. Der Natur mehr Platz einzuräumen, hat einen hohen Nutzen für den Menschen: Es sorgt für Ernährungssicherheit, weil gute Ernten nur dann möglich sind, wenn bestäubende Insekten gute Lebensbedingungen vorfinden. Die Renaturierung kann zudem die Folgen des Klimawandels abfedern: Grüne Oasen speichern Kohlenstoff, reinigen das Trinkwasser, schützen vor Überschwemmungen und kühlen, wenn im Sommer Hitzerekorde gebrochen werden. „Jeder Euro, den wir in Europa in naturnahe Lebensräume investieren, fließt zwölffach zurück“, sagt Franz Essl. Das habe das EU Impact Assessment errechnet, das Folgen und Kosten von Gesetzen abschätzt.
Sauwohl fühlen sich jedenfalls die Wildschweine, wenn die Temperaturen steigen. Denn was ihre Populationen bisher am meisten dezimierte, waren strenge Winter. Wenn über Wochen hinweg Frost und Schnee herrschen, können die Tiere den Boden nicht mehr aufbrechen, um nach Fressbarem zu suchen. Hohe Temperaturen im Frühling ermöglichen ihnen hingegen eine frühe Fortpflanzung, die Bachen bringen dann auch schwächere Frischlinge durch, weil das Nahrungsangebot früher schon sehr hoch ist. Wie die Feldhasen arbeiten sich auch die Wildschweine in den Bergen immer weiter nach oben. „Mittlerweile graben sie auch steile Almwiesen auf 2500 Meter Seehöhe um“, sagt Wildtierbiologe Hackländer. Und während Gams und Steinbock unter der Hitze leiden, weil sie ihr dichtes Winterfell nicht rechtzeitig loswerden, können sich die Wildschweine beim regelmäßigen Suhlen gut abkühlen.
"Jeder Euro, den wir in Europa in naturnahe Lebensräume investieren, fließt zwölffach zurück.“
Franz Essl, Uni Wien
Einwanderer aus dem Süden
Die Holzbiene ist ein beeindruckender, blau schimmernder Brummer. Mit zwei bis drei Zentimeter Körperlänge ist sie die größte Wildbienenart Europas. Vor 20 Jahren war sie noch eine Ausnahme auf Österreichs Wiesen, heute ist sie bis nach Norddeutschland hinauf weitverbreitet. Neben der Holzbiene sind weitere mediterrane Insekten auf dem Vormarsch: Feldgrillen, viele Heuschreckenarten, die Feuerlibelle und nicht zuletzt die Gottesanbeterin.
Auch die Singvögel des Südens drängen nach Norden. Im Osten Österreichs gibt es mittlerweile keine Sandsteilwand mehr, die nicht von einer Bienenfresser-Kolonie bewohnt wird. Die türkis-rot schimmernden Vögel fühlen sich durch die höheren Temperaturen zunehmend wohl, ebenso der Wiedehopf mit seinem auffälligen Schopf. Und während sich heimische Forellen oder Äschen in heimischen Gewässern mit Hitze und zu wenig Sauerstoff plagen, gefällt es Fischarten wie der Schwarzmeergrundel immer besser in Österreich.
Könnten wir uns nicht einfach zurücklehnen, weitermachen wie bisher und beobachten, wie die Umwelt in Österreich der Italiens immer ähnlicher wird? „Auf keinen Fall, denn wir Menschen sind keine unbeteiligten Beobachter. Für eine Gesellschaft, die von einer intakten Natur abhängig ist, ist das Artensterben ein Alarmsignal, das bereits auf Rot steht. Darüber helfen ein paar Einwanderer aus dem Süden nicht hinweg“, warnt Ökologe Essl im profil-Klimapodcast.
Wenn aus Gewinnern Verlierer werden
Denn die Gewinner können schnell zu Verlierern werden, wenn ihnen nicht genug Lebensraum und Ressourcen zugestanden werden. Den Störchen in Rust mag es heuer wunderbar gehen, doch dem feuchten 2024 werden auch wieder sehr trockene Jahre folgen. Im Sommer 2022 wateten die Wasservögel in zähem Schlamm. Der Neusiedler See hatte den tiefsten Wasserstand seit 60 Jahren erreicht, die benachbarten Lacken waren versandet, tonnenweise Fische verendet. Mitschuld an dem Desaster waren nicht nur fehlende Regenfälle, sondern auch die Entnahme von Grundwasser für die Bewässerung der Kukuruz- und Kartoffelfelder im Seewinkel. „Es liegt an uns, wie stabil die künftigen Ökosysteme sind“, sagt Biologe Klaus Hackländer.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.