Wie krank machen Tiefkühl-Pizza, Kekse, Snacks und Softdrinks?
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Die Forschenden wühlten sich durch eine gewaltige Datenmenge: Sie sichteten Aufzeichnungen zu beinahe zehn Millionen Menschen, deren Gesundheitsstatus für eine Reihe großer Studien erhoben worden war. Auf Basis von Patientenakten und Fragebögen war für all diese Arbeiten ermittelt worden, ob Lebensstil und Ernährung mit chronischen Erkrankungen einhergehen. Nun erstellte ein Wissenschafterteam amerikanischer, australischer und europäischer Universitäten eine „Umbrella-Review“, eine Zusammenschau all dieser vorherigen Studien. Die zentrale Frage lautete: Haben Menschen, die häufig hochverarbeitete Lebensmittel konsumieren, ein höheres Risiko für chronische Leiden und einen frühzeitigen Tod?
Die Antwort, die vergangenen Februar im Fachjournal „British Medical Journal“ erschien, lautete: Ja, es sieht tatsächlich so aus. Menschen, die sich bevorzugt von hochverarbeiteten Lebensmitteln ernähren – zum Beispiel von Fertiggerichten, Dosensuppen, Schokoriegeln, Würsten oder abgepackten Backwaren – laufen offenbar eher Gefahr, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, psychische Leiden oder Krebs zu entwickeln. Und die Lebenserwartung dieser Personen scheint leicht verkürzt zu sein.
Die Studie passt zu einer Reihe ähnlicher Arbeiten, die in jüngerer Zeit erschienen. Im November des Vorjahres publizierte eine Forschergruppe, der auch die Universität Wien angehörte, im Medizinjournal „The Lancet“ ebenfalls eine Auswertung riesiger Datensätze. Sie berücksichtigte Angaben zu mehr als 260.000 Personen aus sieben europäischen Ländern über gut elf Jahre. In diesem Fall wollten die Forschenden wissen: Erkranken Menschen, die oft hochverarbeitete Lebensmittel essen, eher an Krebs, Herz- und Stoffwechselleiden? Ergebnis: Der Konsum solcher Nahrung korrelierte tatsächlich mit „Multimorbidität“ – mit dem Risiko, mehrere chronische Leiden zugleich zu entwickeln, etwa Krebs, Bluthochdruck oder Stoffwechselerkrankungen.
Die Fertigpizza als Gesundheitsrisiko
Mittlerweile liegt ein gutes Dutzend vergleichbarer Studien vor, deren Kernaussage stets ähnlich ausfällt: Wer lieber die Fertigpizza in den Ofen schiebt, als selber zu kochen, wer Softdrinks frischem Obst vorzieht oder Süßigkeiten mit langer Zutatenliste nicht widerstehen kann, riskiert, sich mit der Zeit chronische Erkrankungen wie Herzleiden, Adipositas oder Diabetes Typ 2 anzuzüchten, die womöglich die Lebenszeit verkürzen.
Die gesundheitlichen Effekte solch hochverarbeiteter Lebensmittel – auf Englisch „Ultra-processed foods“ – beschäftigen die Wissenschaft seit einigen Jahren intensiv. Das steigende Interesse erklärt sich zum einen aus der zunehmenden Bedeutung solcher Nahrungsmittel. Je nach Weltgegend beziehen Menschen inzwischen bis zu 60 Prozent ihrer Kalorien daraus. Besonders hoch ist der Anteil in Australien, England und den USA, sehr niedrig dagegen zum Beispiel in Italien mit 14 Prozent der Energiezufuhr. Im europäischen Schnitt besteht der Speiseplan derzeit zu knapp einem Drittel aus hochverarbeiteten Lebensmitteln.
Zum anderen und parallel dazu registrierte die Medizin zuletzt eine auffällige und vielfach rätselhafte Zunahme bestimmter Krankheitsbilder. Anlass zur Sorge gibt vor allem der Anstieg bestimmter Krebsarten speziell bei jüngeren Menschen. Mehrere Studien zeigten heuer, dass um das Jahr 1990 geborene Personen zwei- bis dreimal öfter an Dünndarm-, Nieren oder Bauchspeicheldrüsenkrebs erkranken als Menschen des Jahrgangs 1955, als diese im selben Alter waren.
Das heißt: Heute wird bei jüngeren Menschen öfter Krebs diagnostiziert als bei Gleichaltrigen früherer Generationen – obwohl eigentlich die Medizin, Lebens-, Hygiene- und Ernährungsbedingungen viel besser sind als in den Jahrzehnten davor. Der Trend ist sowohl in den USA als auch in Europa feststellbar, eine Studie wies einen Anstieg bei rund der Hälfte von mehr als 30 untersuchten Krebsarten nach.
Wie ist dieser Trend zu erklären? Im Zusammenhang mit den steigenden Krebsraten unter jüngeren Menschen (profil berichtete darüber im August) wurde eine Reihe von Hypothesen diskutiert, wobei der Verdacht rasch auch auf hochverarbeitete Lebensmittel fiel. Ist es plausibel anzunehmen, dass der verbreitete Konsum der beliebten Nahrungsmittel besonders in jüngeren Generationen und die vermehrten Krebsraten in denselben Altersgruppen zusammenhängen? Immer wieder bejahen große Arbeiten diese Frage, darunter auch eine Langzeituntersuchung über fast drei Jahrzehnte, die mehr als 200.000 Personen einschloss und Indizien für ein erhöhtes Darmkrebsrisiko fand.
Eine Reihe großer Fragezeichen
Doch so eindeutig ein Konnex zwischen Fertigfutter und chronischen Krankheiten aufgrund solch umfassender Studien und deren Ergebnissen erscheinen mag: Abgesichert ist dieser Zusammenhang längst nicht, weil eine ganze Reihe von Unsicherheiten hineinspielt und klare Aussagen erschwert. Zum Beispiel: Nur weil zwei Umstände gleichzeitig eintreten – etwa viele Portionen Fertigpizza und eine Krebsdiagnose – heißt das keineswegs, dass ein Faktor den anderen bedingt. Falls Pizza plus Limonade tatsächlich Krankheiten begünstigen: Warum genau sollten sie diese Wirkung entfalten? Und außerdem: Was ist überhaupt hochverarbeitete Nahrung?
Dazu gibt es verschiedene Definitionen, wobei die geläufigste die seit 15 Jahren verfügbare NOVA-Klassifikation ist. Sie teilt Lebensmittel in vier Gruppen ein: Die unterste Stufe bilden unverarbeitete Güter, im wesentlichen Zutaten wie Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse, die man selbst zu Hause zu Speisen verarbeiten könnte. Am anderen Ende stehen die „hochverarbeiteten“ Lebensmittel – Produkte, die man selbst nicht ernten oder herstellen könnte, sondern die durch industrielle Prozesse und unter Einsatz zahlreicher Zutaten, maschineller Techniken und Verpackungsmaterialen zustande kommen. In diese Kategorie fallen Fertiggerichte wie tiefgekühlte Pizza oder Lasagne, Instant-Nudeln, Saucen und Margarine, sogenannte „rekonstruierte“ Fleischwaren wie Hühner-Nuggets, ebenso all die gesüßten Softdrinks, Ready-to-eat-Desserts, Cerealien und Kekse.
Die NOVA-Klassifikation
Unverarbeitete Lebensmittel: Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Eier, Milch, Tee, Kaffee, Nüsse, Kräuter, Gewürze
Verarbeitete Küchenzutaten: Salz, Zucker, Honig, Butter, Essig, pflanzliche Öle
Verarbeitete Lebensmittel: Brot, Gebäck, Nudeln, Käse, Marmeladen, Obst- und Gemüsekonserven, Aufstriche, Fleisch und Fisch getrocknet, gesalzen oder geräuchert
Hoch verarbeitete Lebensmittel: Fertiggerichte wie Tiefkühlpizza und Instant-Nudeln, Cerealien, Kekse, Kuchen, Süßigkeiten, Milchprodukte mit Zusätzen, Softdrinks, Würste, Margarine, rekonstruierte Fleischerzeugnisse wie Hühner-Nuggets
Quelle: forum. ernährung heute
Als hochverarbeitet werden, was beinahe paradox klingt, aber auch vegetarische oder vegane Fleischersatzprodukte gewertet. Fruchtjoghurts zählen genauso zu diesem Segment wie vorgeschnittenes Vollkornbrot, wenn dieses in Massenproduktion hergestellt und verpackt wurde. Sollten solche Nahrungsmittel tatsächlich gesundheitsgefährlich sein? Das ist unwahrscheinlich, doch viele der Studien weisen im Einzelnen nicht aus, welche Produkte die untersuchten Personen konsumierten, sondern sprechen pauschal von Ultra-processed foods.
Eine Ausnahme ist die europäische Studie, die gut eine Viertelmillion Menschen einschloss. Hier wurden rund 11.000 einzelne Positionen erfasst und hinsichtlich ihres problematischen Potenzials bewertet. Es stellte sich heraus, dass vor allem zuckerhaltige Getränke und fleischbasierte Fertigkost mit höherem Krankheitsrisiko assoziiert war, nicht aber beispielsweise Brot oder Frühstücksflocken. Ob ein Produkt hochverarbeitet ist oder nicht, dürfte allein also wohl kaum entscheidend für seine potenziell krankmachenden Eigenschaften sein. Vielmehr wird eine Rolle spielen, worum genau es sich handelt – um eine Sauce mit einer Unmenge an Aromen und Geschmacksverstärkern oder um fettarme Milch. Deshalb wird auch mitunter Kritik an der NOVA-Klassifikation geäußert, die recht simpel zwischen unverarbeitet (gleichbedeutend mit gesund) und hochverarbeitet (ungesund) unterscheidet.
Korrelation und Kausalität
Bei den allermeisten großen Arbeiten handelt es sich zudem um sogenannte Beobachtungsstudien. Für diesen Typus durchforsten Forschende medizinische Datenbanken oder die Unterlagen oft multinationaler Langzeitstudien. Sie können darin anonymisierte Informationen über Krankheiten abrufen und diese mit den Angaben in Fragebögen abgleichen, in denen die Personen etwa über ihre Ernährungsgewohnheiten berichten. Dann lässt sich eruieren, ob der Verzehr bestimmter Lebensmittel mit dem Auftreten einzelner Krankheiten einhergeht.
Der Vorteil solcher Arbeiten ist, dass man enorm große Personenzahlen einschließen kann, weil man bereits vorhandene Datensätze auswertet (und daher eine solide Basis hat). Es gibt aber auch Nachteile: Zum Beispiel muss man sich auf die Angaben in den Fragebögen verlassen und in Kauf nehmen, dass sich Menschen falsch erinnern oder schummeln. Außerdem können solche Studien zwar Korrelationen aufzeigen, nie aber kausale Zusammenhänge. Sie können also ein gleichzeitiges und, wie es in der Fachsprache heißt, „statistisch signifikantes“ Auftreten mehrere Faktoren zutage fördern, aber keine Aussage darüber treffen, ob diese ursächlich in Verbindung stehen. So kann sich durchaus zeigen, dass Fans von Fertiggerichten häufiger Darmkrebs bekommen. Ist aber wirklich die Pizza schuld? Oder ein ganz anderer Einfluss, den man noch nicht identifiziert hat?
Überdies muss „statistisch signifikant“ nicht bedeuten, dass der Effekt groß ist. Die Medizinplattform „Medizin transparent“ rechnete die Prozentangaben aus einer dieser Arbeiten in viel besser verständliche Absolutzahlen um. Die Studie hatte ergeben, dass Konsumenten von hoch verarbeiteten Lebensmitteln früher versterben. In absoluten Zahlen zeigte sich: Von 1000 Personen, die kaum Fertignahrung aßen, verstarben über die Studienzeit 119 Menschen. Unter jenen, die viel davon in sich hineinstopften, waren es 121 von 1000, also bloß um zwei mehr. Ein dramatisch erhöhtes Todesrisiko ist das gewiss nicht.
Suche nach der Gefahrenquelle
Dennoch: Wenn viele Studien, zumal mit enormen Personenzahlen, regelmäßig zu sehr ähnlichen Resultaten gelangen und dabei auf Indizien für Gesundheitsrisiken durch hochverarbeitete Nahrung stoßen, muss man diesen Hinweisen nachgehen. Gleichzeitig ist der Anstieg der Krebsdiagnosen in jüngeren Generationen ein Faktum, genau wie jener des Konsums von Fertigessen. Aber wenn nun derartige Kost womöglich der Gesundheit schadet – auf welchen Wegen könnte dies geschehen? Die Forschenden debattieren in den jüngst erschienenen Studien eine Reihe von Mechanismen.
Ein Pfad könnte über einen Umweg führen: Übergewicht. Hochverarbeitete Lebensmittel haben häufig eine stark erhöhte Energiedichte. Pro Portion, Volums- oder Gewichtseinheit bezieht der Konsument besonders viele Kalorien daraus. Zugleich sind viele Hersteller bemüht, ein Esserlebnis zu gewährleisten, das als „Palatability“ bezeichnet wird: als besondere Schmackhaftigkeit – etwa angenehmes Mundgefühl und bequeme Verzehrbarkeit. Eine Folge könnte sein, dass Menschen mehr davon essen als ihnen guttut. Kleine experimentelle Studien zeigen, dass Personen, die über längere Zeit vorwiegend Fertignahrung konsumieren, eher Gewicht zulegen. Und Übergewicht ist ein erwiesener Risikofaktor für Herz- wie auch etwa ein Dutzend Krebserkrankungen.
Regelmäßig unter Verdacht geraten weiters Zusatzstoffe, die industriell gefertigtes Essen in großer Zahl enthält: Konservierungs-, Verdickungs- und Bindemittel, Farb- und Süßstoffe, Aromen und Geschmacksverstärker. Allerdings ist die Sachlage nicht so simpel: Viele der in den Fertigstraßen verwendeten Stoffe kommen auch in der Natur vor, etwa Ascorbinsäure, Pektin oder Betacarotin in Äpfeln. Das berüchtigte Glutamat steckt nicht nur in Pilzen und Parmesan, der Körper produziert es auch selbst. Doch vielleicht wirken die Substanzen isoliert und künstlich zugesetzt anders als natürlich eingebettet in Obst und Gemüse? Oder es wird ein „Cocktail-Effekt“ schlagend, wenn man viele davon kombiniert?
Konkrete Hinweise auf schädliche Effekte gibt es bei Emulgatoren: Bindemittel, die zum Beispiel dafür sorgen, dass sich ölige und wässrige Zutaten gut mischen lassen. Experimente zeigten, dass diese Stoffe Entzündungen im Darm auslösen können – potenziell eine Vorstufe zu Krebs. Zudem dürften Emulgatoren das Mikrobiom aus dem Tritt bringen, die gigantische, überaus nützliche und noch schlecht verstandene Gemeinschaft aus Mikroorganismen im Darm.
Hauptzutaten: Fett, Salz, Zucker
Eventuell stellt aber nicht nur ein Problem dar, was hochverarbeitete Lebensmittel beinhalten, sondern auch das, was fehlt. Viele Produkte bestehen vor allem aus drei Ingredienzien: Fett, Salz und Zucker. Deutlich unterrepräsentiert sind hingegen meist Vitamine und andere Nährstoffe, die den Körper gesund erhalten. Die Zusammensetzung hochverarbeiteter Nahrung führe „zu reduzierter Aufnahme nützlicher Komponenten“, etwa verschiedener Pflanzeninhaltsstoffe, wie die Autoren der Studie anmerken, für die Profile von fast zehn Millionen Personen ausgewertet wurden.
Aber auch der Verarbeitungsprozess selbst könnte eine Rolle spielen. Forschende sprechen gerne von einer brachial veränderten „Matrix“ solcher Lebensmittel. Die ursprüngliche Struktur von Fleisch, Fisch, Obst oder Gemüse würde aufgebrochen und gewissermaßen neu komponiert, mechanisch wie auch chemisch. Wie beeinflusst das den Körper? Das ist weitgehend unverstanden, wird aber als Einfluss diskutiert.
Negativ könnten sich überdies Substanzen auswirken, die beim Braten, Backen oder Frittieren entstehen. Das sind unter anderem Acrylamid, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe und Acrolein. Sie entstehen durch Hitzeeinwirkung und werden mit Entzündungen, Herzleiden und Krebs in Verbindung gebracht. Freilich: Die Freisetzung dieser Stoffe ist nicht auf industrielle Fertigung beschränkt. Sie werden ebenso beim Grillen oder Backen im eigenen Herd produziert.
Außerdem kommen für Fertigware Unmengen von Verpackungsmaterial zum Einsatz: Folien, Plastikwannen, beschichtete Kartons. Aus Kunststoff können Partikel und Stoffe entweichen und in die Lebensmittel diffundieren. Man spricht von einer „Migration“ teils bedenklicher Substanzen von der Verpackung in die Nahrungsmittel. Dazu zählen Bisphenole und Phtalate, die der Kunststoffherstellung und als Weichmacher dienen und den Hormonhaushalt stören, ebenso wie Mikroplastik, dessen Effekte längst nicht hinreichend erforscht sind.
Eine Kombination von Faktoren
Welcher von den verschiedenen Faktoren stiftet das größte Unheil? Diese Frage vermag im Moment niemand zu beantworten. Vermutlich spielt die Summe der Einflüsse eine Rolle – zumindest als eine von mehreren Ursachen, die die beobachteten Krankheitsbilder erklären können, darunter die steigenden Krebsraten in jüngeren Generationen. Mit Sicherheit braucht es weitere Studien, um all den Vermutungen und Indizien im Detail nachzugehen.
Was tun, bis dichtere Evidenz vorliegt? Die meisten Experten raten zu einer recht pragmatischen Vorgangsweise: Komplett vermeiden lassen sich verarbeitete Lebensmittel ohnehin nicht, weil man sonst auf einen Gutteil des Sortiments im Supermarkt verzichten müsste. Wohl aber lässt sich deren Anteil am Speiseplan einschränken, indem man möglichst viel mit frischen, selbst gewählten Zutaten kocht, die mit freiem Auge als solche erkennbar sind. Dann wird einen ab und zu ein Schokoriegel oder eine Tiefkühlpizza auch nicht umbringen.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft