Fische: Was wir von Gräten lernen können

Forscher schwärmen von den fantastischen Vorzügen von Fischskeletten. Diese lösen nicht nur Rätsel der Menschheitsgeschichte, sondern dienen Ingenieuren auch als Vorbild: für Robotik, Umwelt- und Antriebstechnik.

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Was die Gourmets unter den Fischfreunden hassen, ist Peter Bartschs Passion: Gräten. Der Zoologe versteht seine Arbeit als Knochenjob und hält sie gerade deshalb für einen Traumberuf. "Fischskelette sind nicht nur wunderschön", sagt der Kurator des Berliner Naturkundemuseums. "Sie können helfen, die größten Rätsel der Menschheit zu lösen."

Der quirlige, kleine Mann Mitte 50, Vollbart und Glatze, deutet auf den Kiefer eines Zackenbarschskeletts. Zwei Zahnreihen prangen in der oberen Maulgegend. Und zwei Oberkieferknochen sind erkennbar. Alle Knochenfische weisen im Grundplan diese Skelettstruktur auf, die Landwirbeltiere ebenfalls. "Der Kirche diente das bis ins späte 18. Jahrhundert als zentrales Argument dafür, dass der Mensch als Krone der Schöpfung außerhalb der Tierwelt steht", erzählt er. "Denn wir haben bekanntlich nur einen Oberkiefer."

Goethe war in den 1780er-Jahren einer der Ersten, die den vermeintlichen Beweis anzweifelten. Der Dichter entdeckte am Kiefer eines Kinderschädels eine verräterische Naht. Ist beim Homo sapiens auch ein doppelter Oberkiefer angelegt, der erst später verwächst? Bald stellt sich heraus, dass es sich während der Embryonalentwicklung in der Tat so verhält. Der Mensch sei "aufs Nächste mit den Tieren verwandt", notierte Goethe im Winter 1784 - ein halbes Jahrhundert, bevor Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte. Bartschs Augen blitzen triumphierend: Knochen als Schlüssel zur Erkenntnis.

Den Begriff "Gräten" benutzen auch Ichthyologen wie er. Mit diesem Fachterminus bezeichnen sie aber nur jene Skelettteile von Fischen, die keine direkte Verbindung zur Wirbelsäule aufweisen, sondern als dünne, längliche Knochenspangen zwischen den Muskelsegmenten des Rumpfs liegen. "Etwa die Hälfte aller Fischarten hat Gräten", schätzt der Evolutionsbiologe Sven Gemballa von der Universität Tübingen. Wozu sie allerdings gut sind, war der Wissenschaft lange ein Rätsel.

Verknöcherte Sehnen

Inzwischen zeichnet sich ab, dass Gräten sowohl bei der Stabilisierung des Gewebes als auch bei der Kraftübertragung der Muskeln eine wichtige Rolle spielen. "Sie wirken ähnlich wie Stützgürtel, die Gewichtheber um die Hüfte tragen", sagt Gemballa. Letztlich seien Gräten verknöcherte Sehnen. Und das biete weitere Vorteile. "Eine gewöhnliche Sehne kann Energie speichern, wenn sie auf Zug beansprucht wird, wie ein Gummiband, das man auseinanderzieht", erklärt der Wissenschafter. "Gräten aber haben auch das Potenzial, Energie zu speichern, wenn sie unter Druck gesetzt werden, ähnlich wie Sprungfedern." Und gerade beim Schlängelschwimmen, das Grätenfische wie Sardinen perfektioniert haben, leistet diese Kombination gute Dienste. Forscher greifen das Prinzip bereits auf: Dem Roboterfisch "Wanda" etwa, den Robotiker der Universität Zürich entwickelten, verhelfen zwölf extrem biegsame, künstliche Gräten beim Schwimmen zu schlangenartiger Eleganz.

Bodensanierer wiederum machen sich die Fähigkeit von Fischknochen zunutze, allerlei Substanzen zu absorbieren. Selbst hoch toxische Schwermetalle können sie binden. Und zwar so stark, dass Experten davon träumen, gemahlene Fischskelette im großen Stil zur Reinigung verseuchter Böden einzusetzen. Fischknochen enthalten das Mineral Hydroxylapatit (HA) in nanokristalliner Form. Das Kristallgitter dieses Minerals ist so variabel und seine spezifische Oberfläche so groß, dass es sehr leicht mit Metallionen reagiert. Daher können Fischknochen Schwermetalle quasi aus feuchten Böden saugen. In Nordamerika haben Feldversuche gezeigt, dass die Beimischung von nur fünf Prozent Knochenpulver in einen belasteten Boden Blei innerhalb von einem Jahr so stark bindet, dass dessen Gefährlichkeit für Menschen und Tiere um 99 Prozent sinkt.

Anderen Wissenschaftern hat es die knöcherne Grundstruktur der Schwanzflossen angetan: die sogenannten Flossenstrahlen (Dermotrichia). Drückt man mit dem Finger dagegen, krümmen die Flossenstrahlen sich nicht weg, sondern biegen sich dem Finger entgegen. Berliner Ingenieure wollen den geheimnisvollen Fin Ray Effect (Flossenstrahl-Effekt) für die Konstruktion hochflexibler Gebäudeüberdachungen nutzen: Sie planen Schwimmbäder, deren Dach bei gutem Wetter einfach beiseite geschoben werden kann, sodass sich das Hallenbad in ein Freibad verwandelt.

"In erster Linie sind Fischskelette geronnene Funktion", sagt Peter Barsch. In seinem Forschungszimmer glotzen, in Alkohol eingelegt, grellbunte, bizarr geformte Fische aus Glasgefäßen. Auf Arbeitstischen liegen Kiemenplatten, Rippenbögen, Wirbelkörperchen und Schädel. Fischknochen sind fragil, bei jungen Sardinen nicht dicker als ein menschliches Haar.

Speckkäferlarven als Präparator-Gehilfen

Die Prachtexemplare in den Naturkunde-und Naturhistorischen Museen sind das Resultat harter Arbeit. So mancher Präparator lässt sich dabei von Speckkäferlarven helfen. Die Insekten brauchen Wochen, um die Knochen großer Fische abzunagen. Es entsteht ein sogenanntes Bänderskelett, das zwischen den Knochen noch Stützgewebe aufweist. "Außer man lässt die Tierchen zu lange futtern", sagt Bartsch. "Dann putzen sie auch diesen Kitt weg, und das Skelett fällt auseinander." Speckkäferlarven können jedoch ausbüxen und Ausstellungsstücke befallen, weshalb sie im Berliner Naturkundemuseum verboten sind. Sicherer ist es, Fische mit kochendem Wasser zu überbrühen und ihr aufgeweichtes Fleisch mit Skalpell und Pinzette abzulösen. Eine Geduldsprobe: Das Skelett eines gewöhnlichen Barschs umfasst rund 1600 Knochen. Und während der menschliche Schädel aus 30 Knochen besteht, sind es bei Fischen bis zu 160.

Warum so viele Einzelknochen? Der Großteil aller Fischarten setzt auf das sogenannte Saugschnappen. Ihre Mundhöhle öffnet sich dabei so weit, dass im Schlund ein Unterdruck entsteht und implosionsartiger Wassereinstrom die Beute hinabreißt. Kieferbezahnungen dienen meist nur als Haltegebiss. Zerkleinert und chemisch aufgespalten wird die Beute oft erst im Magen. Der Trick mit der Implosion funktioniert allerdings nur, wenn sich der Kieferapparat enorm weiten und zu einem Saugrohr formen lässt. Zu diesem Zweck braucht der Schädel möglichst viele bewegliche Teile.

Auch Ernst Mikschi, Direktor der 1. Zoologischen Abteilung am Naturhistorischen Museum Wien, ist von Fischskeletten fasziniert. Der menschliche Körper besitzt knapp über 200 Knochen. Verglichen mit Fischen ist das eine lachhaft kleine Zahl. "Das Skelett einen Knochenfischs kann 2000 oder noch mehr knöcherne Elemente aufweisen." Schon die Anzahl der Wirbel ist bei Fischen enorm unterschiedlich: Einige Kugelfischverwandte haben gerade mal 18, Schnepfenaale hingegen mehr als 750. "Fische sind die erfolgreichste Gruppe unter den Wirbeltieren", schwärmt der Wiener Zoologe. "Sie zeigen eine enorme Variabilität von Form, Größe, Lebensweise und im Hinblick auf die Ausformung ihres Skeletts."

Speziell begeistert Mikschi die relativ kleine Gruppe der Knorpelfische: Haie, Rochen und Chimären . Lange galten diese Arten, die über kein knöchernes Innenskelett verfügen, als primitiv. "Der Grund war, dass Knochen bei Wirbeltieren oft aus knorpeligen Vorstufen gebildet und Knorpel daher oft als Vorstufe im Skelett angesehen wurden", erklärt Mikschi. "Doch durch die Analyse von Fossilien wissen wir heute, dass Knorpelfische eine abgeleitete Gruppe sind." Sie sind also entwicklungsgeschichtlich jünger als die Knochenfische. "Ihr Skelett ist ein fortschrittliches Merkmal." Hinter der Entstehung der Knorpelfische scheint ein cleverer Schachzug der Natur zu stecken: "Knorpel ist deutlich leichter als Knochen", sagt Mikschi. "Haien und Rochen, die keine Schwimmblase besitzen, hilft das, den fehlenden Auftrieb zu kompensieren." Besonders markant ist der Vergleich des Schädels eines Knochenfischs mit einem Haischädel: beim Knochenfisch eine Fülle einzelner Knochen sowie unzählige Nähte und Gelenke, beim Hai ein einziges Stück Knorpel, das laut Mikschi aussieht "wie ein Werkstück aus dem Designstudio: gewichtsoptimiert , hart, aber doch elastisch, höchst funktional und einem Hightech-Produkt absolut ähnlich". Wie der Schädel sei bei Haien das ganze Skelett auf Leichtbauweise für effektives Schwimmen ausgelegt, "von der elastischen Wirbelsäule, die durch Kalkeinlagerungen versteift wird, über die Stützknorpel der asymmetrischen Schwanzflosse bis zu den fast starren Rücken-und Brustflossen".

"Schön, schnell und ohne Rückwärtsgang"

Eine wichtige Rolle spielen feine, bewegliche Zähnchen, Placoidschuppen genannt, die auf der Haut sitzen und ebenfalls zum Skelett gehören. Sie sehen aus wie mikroskopisch kleine Ambosse und lösen Mikroverwirbelungen aus, die den Wasserwiderstand reduzieren. Dadurch sparen Haie Energie - und viele Ingenieure lassen sich von ihnen inspirieren. Doch alles hat in der Natur seinen Preis. Die meisten Fische können rückwärts schwimmen, nicht so die Haie. Der Grund: die durch den Knochenbau bedingte, zu geringe Beweglichkeit ihrer Brustflossen. "Der Hai ist die Harley-Davidson unter den Fischen", sagt Mikschi, "schön, schnell und ohne Rückwärtsgang."

Peter Bartsch gibt noch ein paar Kostproben seiner Virtuosität bei der Skelettanalyse. "Nehmen wir den Thunfisch hier", sagt er und deutet auf ein Exponat. "Charakteristisch ist die sichelförmige Schwanzflosse, die von feinen knöchernen Flossenstrahlen definiert wird." Dazu der stark verengte, wuchtige Rumpf mit weit vorne liegendem Schwerpunkt. Der kurze Schwanzstiel läuft eng zusammen und hat seitliche Kiele, wie man an den Wirbelkörpern sieht. "Tiere mit diesem Skeletttyp sind prädestiniert dafür, als enorm schnell schwimmende Hochseebewohner zu leben." Ihre spezifische Schwimmtechnik: Sie halten den Rumpf starr und vermeiden hydrodynamisch ungünstige Pendelbewegungen, während der Schwanzstiel kraftvoll nach links und rechts ausschlägt. Die Schwanzflosse wird dabei angewinkelt und als Tragfläche durchs Wasser gezogen. So erreicht dieser Skeletttyp Geschwindigkeiten von bis zu 70 Stundenkilometern.

"Oder hier, ein anderer Extremtyp", sagt Bartsch und zeigt auf ein kleines Ausstellungsstück. "Der Schmetterlingsfisch: hochrückig, scheibenförmig und mit kurzer Wirbelsäule." Dieser Skeletttypus deute auf ein gemächliches Schwimmtempo, aber erstklassige Manövrierfähigkeit hin. "Vertreter diese Typs stellen ihre Längsachse ständig in unterschiedliche Winkel", erklärt Bartsch. "Das ermöglichen ihre als Seitenantriebe ausdifferenzierten Brustflossen." Er spreizt einen Ellenbogen ab und ahmt die grazilen Brustflossenbewegungen eines Schmetterlingsfischs nach.

Der Einsatz solcher Sekundärantriebe ist weniger auffällig als Schlagbewegungen mit der Schwanzflosse, erklärt Bartsch. Sie lösen weniger Turbulenzen aus, die Beutetiere oder Fressfeinde wahrnehmen könnten. Vor allem machen sie die Tiere wendig und flink. Schiffsdesigner, die bei Fährschiffen und U-Booten zusätzlich zum klassischen Schraubenantrieb quer orientierte Steuerpropeller einsetzen, nutzen das gleiche Prinzip. Gotteslachse haben ihre Sekundärantriebe sogar perfektioniert, so Bartsch: Schulter-und Beckengürtel sind bei ihnen miteinander verwachsen. Und unter der Brustflosse ist viel Platz für Muskeln. Das deutet darauf hin, dass diese Tiere ihre Brustflosse mit großer Kraft und hoher Frequenz auf und ab bewegen. "Sie fliegen gleichsam unter Wasser", sagt Bartsch.

Seeforelle oder Bachforelle?

Eine Anfrage wird sein Kollege Ernst Mikschi vom Naturhistorischen Museum Wien nie vergessen. Vor wenigen Jahren erreichte ihn ein Brief, dazu eine rosa Papierserviette und, in letztere eingeschlagen, einige Gräten. Bei diesen Gräten handle es sich um Beweismittel, stand darin. Sie sollten belegen, dass ein betrügerischer Wirt auf seiner Karte Seeforelle anbieten, aber stattdessen Bachforelle servieren würde. Erbeten wurde eine Bestimmung der Gräten und die Anfertigung eines Gutachtens zum Zweck der Beweisführung. Mikschi schrieb zurück, dass die Seeforelle keine eigene Art sei, sondern eine in sauerstoffreichen Seen lebende Bachforelle.

Die wohl verblüffendste Erkenntnis der Grätenforschung: Wir scheinen noch immer halbe Fische zu sein. Das menschliche Gebiss etwa, konnten Forscher nachweisen, hat sich aus panzerartigen Platten im Kiefer von längst ausgestorbenen Urhaien entwickelt. Diesen Tieren verdanken wir auch den Steigbügel, eines der Gehörknöchelchen im Mittelohr. Bei den Urhaien verband er den beweglichen Kiefer mit dem Schädel. Erst als die Ära der Landlebewesen begann, übernahm der filigrane Knochen seine heutige Funktion, Schallwellen zu übertragen. Die Evolution habe "mit dem Vorhandenen improvisiert", als sie den Menschen schuf, sagt der renommierte Biologe Neil Shubin von der University of Chicago. "Jedes unserer Körperteile erinnert daran, dass wir von Lebewesen abstammen, die vor 385 Millionen Jahren im Wasser gelebt haben."

Im April 2006 stieß Shubin bei einer Grabung im Norden Kanadas auf ein mehr als 300 Millionen Jahre altes Fischfossil. Das Lebewesen, das die Forscher Tiktaalik tauften, war wohl der erste Fisch, der nicht ausschließlich im Wasser lebte. Es wies bereits die gleichen Merkmale wie die Arme des menschlichen Körpers auf: ein großer Knochen, der an den Rumpf anschließt, dann zwei etwas dünnere, viele Gelenkknöchelchen und schließlich fünf Finger-oder Zehenknochen. Tiktaalik war der erste Fisch mit Handgelenk und Ellbogen, sagt Shubin. "Er hätte Liegestütze machen können."

Wie sehr der Homo sapiens bis heute seinen Ahnen aus dem Meer ähnelt, zeigen auch seine Gebrechen. Mit unserem fischigen genetischen Hintergrund sind wir nicht dafür konstruiert, stundenlang am Schreibtisch zu sitzen, Fußball zu spielen oder Marathon zu laufen. Aus Sicht von Peter Bartsch sind Landwirbeltiere wie Homo sapiens die "Loser, die aus dem erhabenen Medium Wasser vertrieben wurden". Und auch was die Ästhetik des Knochenbaus angeht, kann der Homo sapiens nicht mit der Pracht und Vielfalt der Wassertiere mithalten. "Moderne Knochenfische wie der Gotteslachs sind die eigentliche Krone der Schöpfung", sagt Bartsch. "Der Mensch ist eher primitiv gebaut."