Forschen in der Hitzekammer: Ab wann droht Lebensgefahr?
Von Franziska Dzugan
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Georgia Chaseling und ihr Kollege Ollie Jay können Menschen das Leben zur Hölle machen. In ihrer 20 Quadratmeter großen Hitzekammer am Heat and Health Research Center der Universität Sydney können die Forschenden die Temperatur pro Minute um ein Grad steigern, bis auf 55 Grad Celsius. Infrarotlampen imitieren gleißende Sonne, die Luftfeuchtigkeit lässt sich in unerträgliche Höhen schrauben; ob es kühlenden Wind gibt oder stickige Flaute, steuern Chaseling und Jay ebenfalls bequem von außen. Durch ein Fenster beobachten sie, wie sich ihre Probandinnen und Probanden plagen. Sie schinden sich am Laufband, arbeiten, essen und schlafen im Labor. Sensoren auf ihren Körpern kontrollieren Herzfrequenz, Atmung, Körperkerntemperatur, Hauttemperatur und Schweißbildung.
Die Menschen in Sydneys Folterkammer schwitzen für die Wissenschaft. Denn man weiß erstaunlich wenig darüber, wie der Körper auf extrem hohe Temperaturen reagiert. Wann droht Lebensgefahr wegen Hitzschlag oder Herzinfarkt? Wie bewältigen Kinder, Alte und Schwangere die Hitzewellen, die in der Klimakrise immer häufiger und heftiger werden? Wie sehr verlangsamt sich die Arbeitskraft in der Hitze? Und wie kühlt man sich am besten ab? All diese Fragen sind überraschend wenig untersucht.
Dabei steigt die Zahl der Hitzetage weltweit an. In Österreich haben sich Tage mit Temperaturen über 30 Grad im Schatten laut GeoSphere Austria vervielfacht. Bis in die 1990er-Jahre gab es in den heimischen Landeshauptstädten im Schnitt pro Jahr zwischen drei und zwölf sogenannte Hundstage, aktuell sind es im Schnitt zwischen neun und 23 – in Rekordjahren steigt ihre Zahl auf über 40.
Mit den Temperaturen steigen auch die Todesfälle. 47.690 hitzebedingte Sterbefälle gab es einer Studie des Barcelona Institute for Global Health zufolge in Europa 2023. Es ist die zweithöchste Sterblichkeitsrate seit Beginn solcher Berechnungen 2015. Im Jahr 2022 lag die geschätzte Zahl mit mehr als 60.000 noch höher. In Südeuropa ist die Lage naturgemäß am schlimmsten: In Italien waren 12.750, in Spanien 8352, in Griechenland 4339 Tote zu beklagen. In Österreich starben 486 Menschen an den Folgen der Hitze.
Wo die Todesschwelle liegt
Aber wie viel Hitze erträgt der menschliche Körper, bevor er stirbt? Die Weltgesundheitsorganisation, der Weltklimarat IPCC und andere richten sich aktuell nach folgender Obergrenze: 35 Grad „wet-bulb temperature“ (WBT), auf Deutsch Feuchtkugeltemperatur. Der Wert gibt neben der Lufttemperatur und anderen Faktoren auch die sogenannte Kühlgrenztemperatur an. Sie beschreibt, wie stark die Luft durch Verdunstung abgekühlt werden kann. Für Menschen heißt das: Je höher die Luftfeuchtigkeit, desto weniger Effekt hat das Schwitzen; im schlimmsten Fall wirkt es gar nicht mehr, der Körper nimmt Wärme aus der Umgebung auf. Maximal sechs Stunden könne ein Mensch in 35 Grad WBT durchhalten, bis seine Kerntemperatur unkontrollierbar entgleise – so die Grundannahme derzeit. Das Problem: „Die Annahme fußt auf einem einzigen mathematischen Modell, veröffentlicht im Jahr 2010“, sagt Forscher Ollie Jay. Das Modell behandle den Körper wie ein Objekt ohne Kleidung und Alter, das weder schwitze, noch sich bewege. Sprich: Es ist zu weit entfernt von der Realität.
Deshalb steckten Jay und Chaseling Menschen verschiedenen Alters in die Hitzekammer, testeten ihre Belastungsgrenzen (natürlich ohne jemanden tatsächlich zu gefährden) und rechneten sie bis zur Lebensgefahr hoch. Das neue Modell unterscheidet zwischen Schatten und praller Sonne, ob die Betroffene läuft, geht oder ruht und ob sie groß oder klein, alt oder jung ist. Und Jay setzte einen anderen Endpunkt als das Vorgängermodell: Liegt die Körperkerntemperatur über längere Zeit bei 43 Grad, ist ein tödlicher Hitzschlag unausweichlich. Dieser kann freilich bereits bei Umgebungstemperaturen von weit unter 35 Grad WBT auftreten. „Die Überlebensgrenzen liegen bei jungen Menschen zwischen 26 und 34 Grad WBT, bei Menschen über 65 zwischen 21 und 34 Grad WBT“, schreibt Jay in der in „Nature“ veröffentlichten Studie. Wie eingangs beschrieben, handelt es sich bei diesen Werten nicht um die Lufttemperatur allein, sondern um die sogenannte Feuchtkugeltemperatur. „Die Überlebenschancen sinken durch direkte Sonne und höhere Luftfeuchtigkeit – am dramatischsten sinken sie aber durch das Alter.“ Die meisten Hitzetoten sind über 60 Jahre, 80 Prozent von ihnen sterben an Herz-KreislaufProblemen.
Hitzewellen mit Nachwirkungen
Das Hauptproblem der Älteren ist: Sie schwitzen deutlich weniger als Junge. Die Schweißdrüsen altern mit, wodurch die äußerst wirksame körpereigene Klimaanlage nur noch eingeschränkt arbeitet. „Für Ältere ist es besonders wichtig, sich mit Wasser abzukühlen“, sagt Justin Lawley vom Labor für Bewegungs- und Umweltphysiologie an der Uni Innsbruck. Sprühsprays, nasse Tücher, kalte Fußbäder, duschen oder schwimmen – durch Wasser kann der Körper am effektivsten Wärme abgeben.
Dass sich aber auch die Jungen mit der Hitze plagen, hat ein Experiment von Igor Mekjavić und Justin Lawley am slowenischen Jožef-Stefan-Institut 2022 gezeigt. Neun Tage lang ließen die Forscher sieben männliche, gesunde Studenten um die 20 im Labor Fabrikarbeit verrichten. In den ersten und den letzten drei Tagen arbeiteten die Männer unter normalen Sommertemperaturen um die 25 Grad und schliefen bei etwa 22 Grad. In den Tagen vier bis sechs simulierte Lawley eine Hitzewelle: Die Tagestemperaturen stiegen auf 35 Grad, in der Nacht hatte es im Labor zwischen 25,5 und 27 Grad.
Die Hitze setzte den Studenten gehörig zu. Ihr Herz-Kreislauf-System lief auf Hochtouren, die Körpertemperatur stieg, während ihre Leistungsfähigkeit sank. Kein Wunder: Um Wärme abzugeben, pumpt der Körper Blut in die Haut – wodurch es in den Muskeln und im Gehirn fehlt. Überraschend war für Lawley aber vor allem eines: „Der Hitzestress hielt auch nach dem Rückgang der Temperaturen an, die Probanden erholten sich nur langsam“, sagt Lawley im profil-Gespräch. Man könne sich ausmalen, wie schnell solche Bedingungen bei älteren Menschen mit kardiovaskulären Grunderkrankungen zu Hitzschlag, Bewusstlosigkeit, Unfällen oder schweren medizinische Komplikationen führen können.
Schwangere in der Hitzekammer
Werdenden Müttern wird gemeinhin von Anstrengung in der Hitze abgeraten. Belege dafür gab es keine – bis Georgia Chaseling 15 Schwangere im zweiten und dritten Trimester ins Labor bat. In zwei Versuchen sollten sie jeweils 45 Minuten bei 32 Grad Lufttemperatur und 45 Prozent Luftfeuchtigkeit gemütlich auf dem Ergometer radeln, während Chaseling ihre Körperfunktionen peinlich genau überwachte. Der Vergleich mit der nicht schwangeren Kontrollgruppe brachte erstaunlich unspektakuläre Resultate: Die Körpertemperatur ergab keinen Unterschied zu jener der Kontrollgruppe; keine der Schwangeren zeigte Anzeichen von Überhitzung (diese beginnt bei einer Körperkerntemperatur von 39 Grad). Chaselings Fazit: „Schwangere Frauen haben kein erhöhtes Risiko, wenn sie sich bei heißen Temperaturen moderat bewegen.“
Good News: Wir passen uns an
Auch die Epidemiologin Elisa Gallo vom Barcelona Institute for Global Health hat, trotz ihrer eingangs erwähnten Berechnung der Hitzetoten, Erfreuliches zu berichten: Die Europäerinnen und Europäer haben sich den höheren Temperaturen angepasst. Die minimale Sterblichkeitstemperatur – also die Temperatur mit dem geringsten Sterberisiko – habe sich seit dem Jahr 2000 im Durchschnitt sukzessive erhöht, so Gallo im Magazin „Nature“. Und zwar von 15 Grad Celsius im Zeitraum 2000 bis 2004 auf 17,7 Grad zwischen 2015 und 2019. Elisa Gallos Fazit: „Das ist wahrscheinlich auf den sozioökonomischen Fortschritt, die Verbesserung des individuellen Verhaltens und Maßnahmen des Gesundheitswesens nach dem Rekordsommer 2003 zurückzuführen.“
Doch auch der Körper selbst ist enorm anpassungsfähig, sagt der Innsbrucker Physiologe Justin Lawley. „Es ist keinesfalls vorprogrammiert, dass sich etwa eine Finnin weniger gut an heiße Bedingungen gewöhnen könnte als eine Griechin.“ Das hätten die Athletinnen und Athleten aus aller Welt bei der Hitzewelle während der Olympischen Spiele in Paris eindrucksvoll gezeigt.
Wie man cool bleibt
Tipps aus Sydney: Der Blick auf den Wetterbericht ist gar nicht so simpel, wie man meinen könnte. Was man leicht vergisst: Die angegebene Temperatur gilt immer für den Schatten – in der Sonne kann es gefühlt schnell einmal um zehn Grad heißer sein. Während der Wind hilft, kühl zu bleiben, bewirkt die Luftfeuchtigkeit das Gegenteil. Je höher sie ist, desto weniger Schweiß kann auf der Haut verdampfen, die Hitze bleibt im Körper. Die heißesten Stunden des Tages am Nachmittag möglichst nicht draußen oder zumindest nicht in der Sonne zu verbringen, versteht sich von selbst.
Doch auch in den Innenräumen gibt es einiges zu beachten. Jede kennt das: Draußen steht die Hitze bei 35 Grad, in der U-Bahn, im Supermarkt oder im Büro friert man im Sommerkleid und holt sich bei knapp 20 Grad einen Schnupfen. Forscher Ollie Jay trommelt seit Jahren gegen die Vorstellung an, man müsse Räume extrem herunterkühlen, um seine Körpertemperatur zu regulieren. „Wir müssen die Luft in Gebäuden mehr bewegen und weniger kühlen“, sagt er. Es reiche, die Klimaanlagen auf
27 Grad einzustellen, dafür aber Ventilatoren laufen zu lassen. Durch den Luftzug fühlt sich die Umgebung um vier Grad kühler an, man hat also angenehme 23 Grad im Raum. Mit der Strategie „Fan first“, also „Ventilator vor Klimaanlage“, lassen sich in einem heißen Jahr in Australien außerdem 70 Prozent des Stroms zum Kühlen einsparen, wie Jay errechnete.
Vorsicht ist allerdings bei Temperaturen ab 40 Grad geboten: Dann heizt der heiße Wind durch den Ventilator den menschlichen Körper zusätzlich auf. Wasser hilft hingegen immer: Die Kleidung anfeuchten, nasse Handtücher auflegen, sich mit Wasser besprühen. Die Füße wirken wie eine Heizung für den Körper. Sie in einen Kübel mit kaltem Wasser zu stellen, entzieht dem Körperkern sehr effektiv Temperatur.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.