Forschungs-Managerin Elvira Welzig: „Wissenschaft erlebbar machen“
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Elvira Welzig, 51, ist seit September 2022 Geschäftsführerin der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft (LBG) und übt die Funktion gemeinsam mit Marisa Radatz aus. Welzig studierte Technische Chemie in Wien, Córdoba und München und zudem Organisationspsychologie an der University of London. Vor ihrer Tätigkeit bei der LBG war sie bei der Christian-Doppler-Forschungsgesellschaft und am Austrian Institute of Technology in der Forschungsförderung und im Management tätig. Die LBG wurde 1960 gegründet, betreibt 15 Institute und verfolgt das Ziel, Science for Society zu betreiben. Ein Hauptfokus der außeruniversitären Organisation mit rund 800 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von gut 30 Millionen Euro liegt im Bereich der Gesundheitswissenschaften und Life Sciences.
Als Sie einmal um eine Erinnerung aus der Studienzeit gebeten wurden, sagten Sie: „Die Inventarliste im Labor bearbeiten – Hilfe!!“ Was war da los?
Elvira Welzig
Ich stand zum ersten Mal im Labor, öffnete eine Lade und wusste nicht, wie deren Inhalt mit der Liste zusammenpasste, die ich in Händen hielt. Da gab es Begriffe, die ich nie zuvor gehört hatte, wie Nutsche oder Uhrglas.
Und was ist das?
Welzig
Ersteres ist ein spezieller Filter, ein Uhrglas ist eine gewölbte Glasscheibe für Flüssigkeitsproben.
Haben Sie sich damals gefragt, ob Sie im richtigen Studium gelandet sind?
Welzig
Nein! Das ist Lernen. Man weiß etwas nicht, also muss man sich damit auseinandersetzen.
Technische Chemie ist nicht unbedingt das beliebteste aller Studienfächer. Warum haben Sie es gewählt?
Welzig
Das Interesse an der Chemie hat sicher mein Lehrer im Gymnasium entzündet, der das Fach sehr anschaulich gestaltet hat. Er hat die unglaubliche Fülle von Chemie vermittelt und gezeigt, wo überall Chemie drinsteckt, und sei es das Glas, aus dem ich trinke.
Hat es Sie interessiert, weil dadurch unsere Welt besser verstehbar wird?
Welzig
Diesen Aspekt hab ich erst viel später beachtet. Ich habe vor einigen Jahren zusätzlich noch Organisationspsychologie studiert. Dieses Fach erklärt die Welt sicher besser, weil wir Menschen komplexere Wesen sind als die Materie. Zusammenhänge zu erkennen und Klarheit zu schaffen, fand ich aber damals schon charmant, und das finde ich nach wie vor unglaublich wichtig.
In Ihrem aktuellen Job zielen Sie nun auch darauf ab, andere Menschen für Wissenschaft zu interessieren.
Welzig
Meine Motivation war, Bedingungen für wirklich gute Forschung zu schaffen. Zugleich beachsichtigen wir bei der Boltzmann-Gesellschaft, diese Forschung in die Gesellschaft zu bringen. Wir vergleichen es gern mit dem Modell einer Spirale. Wir starten in der Mitte von einem Kern exzellenter Grundlagenforschung, bewegen uns hin zu Kooperationen mit internationalen Partnern und auch anwendungsorientierter Forschung, und all das tragen wir dann in Richtung Gesellschaft. Und wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem auch Forschende sagen, das ist eine coole Sache!
Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem auch Forschende sagen: Das ist eine wirklich coole Sache!
Ein erklärtes Ziel ist es, den Menschen die Bedeutung von Wissenschaft zu vermitteln?
Welzig
Vor der Herausforderung stehen ohnehin alle. Wir haben uns für einen Weg entschieden, der die Menschen von vornherein einbezieht. Gerade berichteten Medien über das Projekt „Katze, zeig mir deine Maus“. Es ging dabei um einen Aufruf an Katzenbesitzer in Vorarlberg, sie mögen die toten Mäuse, die ihre Katzen bringen, einfrieren und zwecks Bestandsaufnahme der Arten abgeben.
Also Citizen Science.
Welzig
Genau. Aber wir gehen noch einen Schritt weiter, indem wir fragen, welches Thema brennt gerade besonders? Und auf dieses Thema konzentrieren wir uns unter Einbeziehung von Patienten oder Angehörigen. Die Leute sind Teil eines bestimmten Forschungsschwerpunkts. Sie haben dann nicht bloß eine Maus abgegeben, sondern waren wesentlich daran beteiligt, dass eine bestimmte Forschungsfragestellung prioritär behandelt wird.
Sie denken, der Trick gelungener Wissenschaftsvermittlung ist, dass man versucht, Leute aktiv in Forschungsprojekte einzubinden?
Welzig
Ich glaube, das ist wahnsinnig wichtig. Gegenfrage. Erinnern Sie sich noch an den Chemieunterricht?
Ja.
Welzig
An welchen Versuch erinnern Sie sich? Die nächste Frage wäre, haben Sie mitgewirkt an einem Versuch? Sie würden sich bestimmt an diejenigen Versuche erinnern, bei denen Sie das Zündholz gehalten oder den Stickstoff angedreht haben. Und deshalb ist das Erfahrbarmachen entscheidend. Bei der Genschere oder der Quantenphysik wird es natürlich schwierig, aber es gibt sehr viele Forschungsthemen, in die man die Leute einbeziehen kann.
Sie haben Ihren Job vor zwei Jahren angetreten und seit damals neue Schwerpunkte Richtung Medizin und Gesundheit gesetzt. Weil diese Themen besser vermittelbar sind?
Welzig
Das ist vor allem eine Frage der Spezialisierung. Als Forschungsorganisation können wir nicht für fast alles stehen. Wir sind eine außeruniversitäre Organisation mit einem Schwerpunkt auf Medizin, Gesundheitsforschung und Life Sciences.
Ab dem kommenden Jahr wird der bekannte Immunologe Florian Krammer hier in Wien das neue Ludwig-Boltzmann-Institut für Wissenschaftsvermittlung und Pandemievorsorge leiten – eine ungewöhnliche Kombination. Worum wird es gehen?
Welzig
Er macht das schon sehr erfolgreich in den USA, wo er eine Professur in New York innehat. Eine Initiative bestand darin, Proben von Böden, Nagetieren, Vögeln und deren Exkrementen im Central Park zu nehmen und auf Viren zu analysieren. In Wien kann man Ähnliches machen und sich die Virenausbreitung in einer Großstadt gut ansehen. Ein Zweck ist auch hier, Wissenschaft erlebbar zu machen und zum Beispiel Schulen einzubinden.
Um ebenfalls die Bevölkerung an Wissenschaft zu beteiligen?
Welzig
Ja, aber Krammer wird auch mit Ärztinnen und Ärzten und der Obersten Sanitätsdirektion zusammenarbeiten. Ich habe noch ein Beispiel. Nicole Meisner-Kober in Salzburg befasst sich mit nanovesikulärer Präzisionsmedizin. Nanovesikel kann man sich wie einen Botendienst vorstellen, gleichsam der FedEx des Körpers. Die Idee ist, den Nanovesikeln einen Wirkstoff mitzugeben und die Anweisung zu erteilen, marschiere zur nächsten Tumorzelle, aber sonst dockst du nirgendwo an. Es geht darum, den Wirkstoff ganz gezielt nur beim Tumor abzugeben, aber nicht den ganzen Körper zu belasten.
Wie weit ist dieser Ansatz gediehen?
Welzig
Es liegen sicher noch zehn Jahre Forschung vor uns, aber Meisner-Kober sagt, man muss jetzt beginnen, darüber zu reden, auch wenn es noch Jahre dauert, bis wir vielleicht Erfolg haben.
Damit sich die Menschen dann, wenn plötzlich eine völlig neue Technologie vorhanden ist, nicht überrollt fühlen und vor allem skeptisch werden?
Welzig
So war es bei der mRNA-Technologie, auf der die ersten Covid-Impfstoffe beruhten. Man muss es Schritt für Schritt machen, langsam, aber beständig erklären, die Menschen einbeziehen und Ergebnisse berichten.
Können Sie schon positive Effekte dieser Methode beobachten?
Welzig
Wir machen eine der größten Langzeitstudien zur Lungengesundheit in Europa. Dafür kommen die Teilnehmenden regelmäßig zu Lungenchecks. Mir hat eine Frau berichtet, dass ihre Tochter an dieser Studie teilnahm. Alle drei Jahre wurde sie eingeladen, das erste Mal bereits als Zehnjährige. Sie fand das so faszinierend, dass sie heute Medizin studiert. Da haben wir wirklich Interesse an Medizin und Wissenschaft geweckt. Ich glaube, man muss Wissenschaft tatsächlich noch ein Stück weiter erlebbar machen, als wir meist annehmen.
Ein Thema ist die Simplizität. „They’re eating the cats“, das sind bloß fünf Worte. Das ist kurz und eingängig.
Zurzeit sehen wir oft eher Ablehnung der Wissenschaft und Ignoranz gegenüber dem Nutzen von Wissenschaft.
Welzig
Ein Thema ist natürlich die Simplizität. „They’re eating the cats“, das sind bloß fünf Worte. Wenn ich hingegen das Immunsystem oder vesikuläre Zellen erklären will, muss ich ordentlich Luft holen, von Antikörpern und Vakzinen reden, und die Erklärung braucht Zeit. „They’re eating the cats“ hingegen ist kurz und eingängig.
Kann persönlicher Kontakt zu Forschenden Abhilfe schaffen?
Welzig
Das ist sicher wichtig. Als Kind lernt man, es gibt Marie Curie und Albert Einstein, aber man kriegt kaum mit, dass es an den Universitäten und in den Forschungsinstitutionen wahnsinnig viele Leute gibt, die wirkliche Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet sind, ihr Feld weiterentwickeln und auch in praktische Anwendungen gehen. Die Menschen sehen diese Forschenden kaum.
Viele denken vermutlich an den sprichwörtlichen Elfenbeinturm.
Welzig
Diese Vorstellung hat längst ausgedient. Das Bild der Forschenden hat sich sehr verändert, sie stehen auch sehr unter Druck. Sie müssen sich auf ihre Inhalte konzentrieren, müssen möglichst viel publizieren, sich auf sozioökonomische Faktoren einstellen, ihre Teams organisieren, das Anwendungspotenzial beschreiben, administrative Dinge erledigen. Und dann noch nach draußen gehen und Menschen einbeziehen.
Der Beruf hat sich völlig verändert?
Welzig
Ich denke da sofort an meinen Cousin. Er war einst jüngster Automechaniker Österreichs. Er hat gelernt, indem er geschraubt und probiert hat. Und ich musste vorn am Lenkrad sitzen und aufs Gas steigen. Heute steckt er einen Computer an und tauscht Ersatzteile. Sein Berufsbild hat sich massiv gewandelt, wie auch vermutlich im Journalismus. Die Frage ist letztlich auch, welches Bild haben die Leute von uns?
Welches wäre Ihr Idealbild?
Welzig
Ich hätte gern jemanden, der zunächst in Basisfragen der Forschung wirklich top ist. Nehmen wir wieder Florian Krammer her. Er ist in seinem Fach exzellent, weiß aber auch, wie er Teams zusammenstellt, Politik und Gesellschaft einbinden kann. Und fast jeder kennt ihn. Man sagt, ist das nicht der, der damals in New York im Fernsehen war?
Also hinausgehen und erklären.
Welzig
Wir versuchen, so weit wie möglich unseren Beitrag zu leisten. Ich erzähle zum Beispiel gerne allen, die es hören wollen, dass ich mich regelmäßig impfen lasse. Und denen, die es nicht hören wollen, erzähle ich es auch. Früher ist fast nie über Wissenschaft gesprochen worden. Jetzt wird wenigstens darüber geredet. Wissenschaft interessiert die Bevölkerung, wenn auch manchmal in negativem Sinn, aber primär ist Interesse da. Es muss uns gelingen, das positiv zu besetzen.
Indem Sie eben besonders den individuellen Nutzen erfahrbar und gleichsam greifbar machen wollen?
Welzig
Noch ein Beispiel. Wir betreiben auch klinische Forschungsgruppen. Die Gruppe von Anna Berghoff arbeitet im Bereich des Glioblastoms. Dabei handelt es sich um einen Gehirntumor, bei dem zwischen Diagnose und Tod ziemlich verlässlich ein halbes Jahr vergeht. Es gibt zwar ungefähr 25 Medikamente, die man einsetzen kann, doch bis man alle durchprobiert hat, ist der Patient meist gestorben.
Das Ziel ist vermutlich, schneller zu einer passenden Therapie zu kommen?
Welzig
Berghoff entnimmt dem Tumor nach dessen Entfernung Zellen, lässt sie anwachsen und testet an ihnen alle potenziellen Medikamente. Sie erstellt ein Profil, was bei dieser Patientin oder jenem Patienten am besten wirken könnte. Es geht also darum, dass sie die Behandlung relativ rasch zum Menschen bringt. Das ist doch bahnbrechend für die Zukunft dieser Patientengruppe und kann über Jahre Lebenszeit entscheiden, die eine Person mit ihren Enkeln verbringen kann oder nicht.
Ist zu wenig bekannt, welche Fortschritte der Medizin in der jüngeren Vergangenheit geglückt sind?
Welzig
Bei meiner Großmutter wurde im Alter von 49 Jahren eine rheumatische Erkrankung diagnostiziert. 20 Jahre später ist sie an einer Magenperforation gestorben, weil sie das Medikament nicht mehr vertragen hat, also nicht am Rheuma selbst. Heute gibt es neue Medikamentenklassen, sogenannte Biologicals, die solche Nebenwirkungen obsolet machen. Solche Fortschritte kann man doch verständlich erklären.
Sofern man entsprechende Forschungsschwerpunkte verfolgt.
Welzig
Wir wollen Forschung machen, die der Gesellschaft nützt. Unser Anspruch lautet, alles, was wir tun, muss unmittelbar zurückgegeben werden.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft