Gehirnforschung: Machen Navis dumm?
Verbringt man Weihnachten unfreiwillig im Wald, ist vielleicht das Navi schuld. So wie bei einer jungen Deutschen, die am 24. Dezember 2014 ihre Mutter besuchen wollte. Sie folgte den Anweisungen des Navis, und der Weg wurde immer holpriger. Als es bereits dunkel war, blieb der Wagen mitten im Wald in einem Schlammloch stecken. Verzweifelt wählte die 23-Jährige den Polizeinotruf. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Mit zehn Streifenwagen und einem Handyortungsgerät rückten die Beamten aus. Erst gegen Mitternacht wurde die Verschollene gefunden.
Ende Februar 2015 wollte ein Pärchen aus den USA vom britischen Festland nach Caldey Island vor der Südküste von Wales reisen: 3,7 Kilometer Entfernung, keine Brücke. Doch statt eine Fähre zu nehmen, vertrauten die beiden den Anweisungen des Navis - und lenkten ihren Leihwagen in den Bristolkanal, die Bucht zwischen England und Wales. Zum Glück konnten sie gerettet werden. In Ansätzen kennt das Phänomen fast jeder: Man schaltet die Aufmerksamkeit aus und überlässt die Orientierung der Elektronik. Funktioniert das Navi fehlerhaft, ist man aufgeschmissen. Manche Neurowissenschafter vermuten inzwischen sogar, dass Navigationshilfen wichtige Fähigkeiten unseres Gehirns verkümmern lassen. Machen Navis womöglich dumm?
Unstrittig ist, dass die Digitalisierung unseren Alltag immer stärker prägt: Früher spürten wir beim Joggen, wann es Zeit für eine Pause war. Heute zählen Apps unsere Schritte. Früher überprüfte man selbst die Vorräte. Jetzt geben moderne Kühlschränke mit Computerstimme Bescheid, wenn die Milch zur Neige geht. Obwohl Mütter eigentlich selbst am besten wissen sollten, was ihr Baby gerade braucht, geben inzwischen oft Apps den Takt der Stilleinheiten vor. Beim Pilzesammeln brauchte man einst Wissen und Erfahrung. Heute laufen Sammler mit Handys ins Gelände, ohne jede Ahnung, aber mit einer App. Prompt stieg die Zahl der Pilzvergiftungen zuletzt an. Und eine Studie der amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA ergab: Viele Piloten werden von der ausufernden Elektronik im Cockpit so sehr in Beschlag genommen, dass sie Probleme haben, ihre Maschine durch kritische Situationen zu steuern.
Technik statt selbständigem Denken?
Die Experimentalpsychologin Julia Frankenstein von der Technischen Universität Darmstadt erforscht seit vielen Jahren die geistigen Grundlagen von Orientierung und Navigation und neigt nicht zu Panikmache. Dennoch hält sie den weitverbreiteten Einsatz von Navis für problematisch: "Wegen solcher Hilfsmittel müssen wir die Informationen über unsere Umwelt nicht mehr im Gedächtnis speichern. Wir müssen uns nicht einmal damit beschäftigen. Und weil die Technik ständig zur Verfügung steht, müssen wir auch nicht mehr selbstständig denken und Entscheidungen treffen." Mit Navi sehe man nur den Weg von A nach B, so Frankenstein. Die Wegmarken auf der Strecke nehme man aber nicht wahr. "Aus diesem reduzierten Informationsspektrum eine "Kognitive Karte" zu erstellen, ist etwa so vielversprechend wie der Versuch, ein musikalisches Werk aus vereinzelten Tönen zu erschließen."
Der Fachbegriff "Kognitive Karte" geht auf den amerikanischen Psychologen Edward Tolman von der University of California zurück. Tierversuche hatten ihn in den 1940er-Jahren zur Überzeugung gebracht, dass Mäuse nicht nur in der Lage sind, simple Verbindungen zwischen zwei Punkten im Raum in ihrem Gehirn zu speichern, sondern sich geografische Verhältnisse umfassender einprägen können - eben in Form von Kognitiven Karten. Die neuronalen Grundlagen dafür erforschten Wissenschafter aus Skandinavien und den USA ab den 1970er-Jahren: Sie stellten fest, dass Nagetiere im Labor eine besondere Aktivität bestimmter Neuronen zeigen, wenn sie in einem Raum an ihnen vertrauten Stellen vorbeilaufen. Diese sogenannten Ortszellen befinden sich im Hippocampus, jenem Teil des Gehirns, der maßgeblich für unser Gedächtnis und unser Orientierungsvermögen verantwortlich ist. In einem dem Hippocampus nahe liegenden Gehirnareal fanden Wissenschafter Jahrzehnte später eine weitere Art von Neuronen, die direkt durch geografische Einflüsse stimuliert wird: die sogenannten Gitterzellen, die abstrakte Karten des Raumes abspeichern können.
Viele Menschen können sich Wegnetze und landschaftliche Gegebenheiten einprägen, die größer sind, als man sie von einem bestimmten Standpunkt aus übersehen kann, ergaben Experimente. "Genau diese Fähigkeit aber verkümmert mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenn Menschen zur Orientierung ständig Navis nutzen", sagt Frankenstein. "Oder sie wird gar nicht erst ausgebildet."
"Gesunder Menschenverstand bleibt auf der Strecke"
Edward Tolman selbst fasste den von ihm geprägten Begriff "Kognitive Karte" noch weitaus breiter. Auch stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen oder anderen Ethnien verstand er als Symptome einer verengten Kognitiven Karte. Könnte es also sein, dass Navis auch rassistische oder sexistische Ansichten begünstigen? Julia Frankenstein lacht. "Das erscheint mir sehr weit hergeholt", sagt die Psychologin. In einem Punkt aber ist sie sich sicher: "Beim Fahren mit Navi bleibt der gesunde Menschenverstand oft auf der Strecke." Die vielleicht skurrilste Geschichte war unlängst die Irrfahrt einer Belgierin durch halb Europa: Die Pensionistin aus Südbelgien wollte in Brüssel einen Freund vom Bahnhof abholen, rund 80 Kilometer entfernt. Stattdessen fuhr sie zwei Tage und legte fast 1400 Kilometer zurück. Obwohl sie mehrere Landesgrenzen passierte, zweifelte sie nie an den Anweisungen ihres Navis. Unterwegs musste sie zwei Mal tanken und hielt sogar für ein Schläfchen am Straßenrand. Erst in Zagreb fiel ihr auf, dass etwas nicht stimmen konnte.
Navi-Pannen haben unterschiedliche Ursachen: Oft vertippt man sich bei der Zieleingabe. Zudem sind längst nicht alle aktuellen Straßenverbindungen oder -sperren übers Navi verfügbar. Und dennoch schalten viele Menschen, sobald sie ein Navi zur Verfügung haben, den Verstand aus. Nicht alle Missgeschicke finden ein glückliches Ende: Im März 2015 stürzte eine Frau aus Chicago im Auto von einer zwölf Meter hohen, baufälligen Brücke in den Tod. Im Vertrauen auf ihr Navi hatte sie die Hinweisschilder "Road closed" ignoriert. Wenige Monate später wurde in Niterói bei Rio de Janeiro eine Touristin erschossen, weil das Navi sie statt zu einer Promenade am Meer in eine berüchtigte Favela gelotst hatte. Und in der Mojave-Wüste in Kalifornien verdursten so häufig vom Navi fehlgeleitete Touristen, dass die Einheimischen dafür eine eigene Bezeichnung kennen: "Death by GPS." Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Global Positioning System (GPS) ursprünglich genau zu diesem Zweck entwickelt wurde: als Hilfsmittel zum Töten. Das GPS und sein russisches Gegenstück GLO-NASS entstanden ab den 1970er-Jahren in Militärlabors. Vorrangiges Ziel war es, U-Boote und Flugzeugträger in den Weiten der Meere zu orten und nukleare Sprengköpfe auf feindliche Ziele zu lenken. Bald aber stellte sich heraus, welche Chancen diese Technologien auch für die Wissenschaft bieten : bei der Beobachtung plattentektonischer Bewegungen etwa, in der Meteorologie sowie bei der Positionsbestimmung von Fernerkundungssatelliten. Den wohl größten Durchbruch erlebte das GPS als Herz moderner Navigationssysteme aber im Straßenverkehr. Vor rund zehn Jahren schnellten die Verkaufszahlen empor. Inzwischen nutzen auch immer mehr Wanderer in den Mittelgebirgen und Alpen GPS-gestützte Navigationshilfen.
Im hohen Norden vertrauten die Inuit bei der Jagd im arktischen Eis traditionell auf archaische Orientierungsmethoden: Sie achteten etwa auf die Windrichtung oder auf geologische Formationen, die nur aus einer bestimmten Perspektive am Horizont sichtbar werden. Doch seit einigen Jahren lassen sich auch viele Inuit von Navis lotsen. Als Wissenschafter unlängst den Einfluss der neuen Technologie erforschten, stellten sie fest: Seit der Einführung dieser Geräte nehmen die Unfälle bei der Jagd zu. Auch Inuit neigen offenbar zu mangelnder Konzentration, sobald ihnen die Elektronik unter die Arme greift. Was aber ist dran am Verdacht, dass Navis unseren geistigen Fähigkeiten schaden?
"Taxifahrer-Studie"
Gut belegt ist, dass sich das menschliche Gehirn noch im Erwachsenenalter verändern lässt: Wer ein Musikinstrument lernt oder regelmäßig meditiert, nimmt dadurch Einfluss auf die Struktur seines Denkorgans, zeigten neurowissenschaftliche Untersuchungen. Und was die räumliche Orientierung betrifft, schlug vor einigen Jahren die sogenannte "Taxifahrer-Studie" aus London hohe Wellen: 25.000 Straßen und ihren Verlauf müssen sich Taxifahrer in der britischen Hauptstadt während ihrer Ausbildung einprägen. Forscher vom University College London wollten herausfinden, ob das Büffeln von Straßenmustern das Gehirn verändert: Sie untersuchten insgesamt 39 Fahrer mit Hirnscans und Gedächtnistests vor und nach der Ausbildung. Als Vergleich dienten 31 Männer, die sich keine Stadtpläne einprägen mussten. Prompt stellten sie nach der Ausbildungszeit bei den Absolventen mehr graue Substanz im Hippocampus fest.
Andere Studien untersuchten Taxifahrer, die schon länger im Ruhestand waren. Bei diesen Personen fanden Forscher weniger graue Masse in dieser für Gedächtnis und Orientierungsvermögen so wichtigen Hirnregion als bei ihren noch aktiven Kollegen. Was nicht genutzt wird, scheint sich zurückzubilden. "Der Gedanke liegt daher nahe, dass, wer Orientierung und Navigation nur noch der Elektronik überlässt, zu einer Verarmung dieser Hirnregion und den zugehörigen Fähigkeiten beiträgt", sagt Frankenstein.
Ein wahrscheinlicher Grund: Orientiert man sich mithilfe von Straßenkarten, muss man die nach Norden ausgerichtete Karte zunächst mit der eigenen Position und Blickrichtung vergleichen, um sie korrekt lesen zu können. Das ist mental aufwendig, hat aber Vorteile, betont Frankenstein: "Man gewinnt dadurch ein gutes Überblickswissen und eine genauere Kognitive Karte." Wohin mangelndes Orientierungsvermögen führen könne, sehe man an Patienten mit Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. "Orientierung" sei nämlich nicht nur das, was wir in der Stadt betreiben, sondern entscheide auch darüber, ob wir unsere Toilette finden. Unsere Orientierungsfähigkeit gehe nicht so schnell verloren, so die Psychologin. "Aber es ist die Frage, wie abhängig wir uns selber von Technik machen wollen und ob wir schlechter sein wollen, als wir sein könnten." Und bei vielen Alzheimerpatienten gelinge es, durch gezieltes kognitives Training den geistigen Verfall zumindest zu verlangsamen.
Degeneration des Hippocampus
Die kanadische Psychiaterin Véronique Bohbot, die an der McGill-Universität in Montreal über Alzheimer und Demenz forscht, geht noch einen Schritt weiter: Sie stellt eine direkte Verbindung zwischen diesen Formen des Gedächtnisverlustes und der Vernachlässigung des menschlichen Orientierungssinns her. Das regelmäßige Fahren mit Navi kann eine Degeneration des Hippocampus begünstigen, ist sie überzeugt. Bohbot empfiehlt daher, auf Reisen zumindest auf dem Rückweg das Navi nicht einzuschalten. Wenn man sich dann verfahre, solle man das positiv sehen. Statt "Sie haben Ihr Ziel erreicht", könne man sich selbst sagen: "Ich habe meinen Hippocampus stimuliert."
Zu einem generellen Navi-Verzicht will auch Julia Frankenstein nicht raten. Sie hält es für ausreichend, vor jeder Reise mit einer (physischen oder elektronischen) Karte seinen Weg zunächst selbstständig zu planen. Dadurch gewinne man vorab wichtige Information über die Umgebung und wisse unterwegs immer ungefähr, wo man sei. Außerdem können es sehr bereichernd sein, manchmal einen Umweg zu machen. "Mit dem Navi fahren wir in der Regel die direkteste und schnellste Strecke. Was am Weg liegt, nehmen wir häufig gar nicht wahr." Sei es eine prachtvolle Jugendstilvilla in der zweiten Reihe oder ein nettes kleines Eiscafé. "Ein bisschen Entschleunigung tut in der heutigen Zeit ganz gut."
Manchmal allerdings entdecken Menschen auch überraschend Neues, gerade weil sie aufs Navi vertrauen: So wie ein 28-jähriger Tourist aus New Jersey, der im Februar 2016 im Mietwagen vom Flughafen Reykjavík in ein Hotel am Stadtrand der Metropole fahren wollte. Sechs Stunden später erreichte er Siglufjörður: einen Fischerort an der Nordküste Islands, am Rande des Polarkreises. Statt "Laugavegur" - eine der Hauptverkehrsadern Reykjavíks - hatte er "Laugarvegur" ins Navi eingegeben: einen der wenigen Straßennamen in jenem Nest mit etwas mehr als 1000 Einwohnern. Er stieg aus, sah sich um, war begeistert und beschloss, erst einmal zu bleiben. Reykjavík konnte warten. Besonders gut gefiel ihm das örtliche Heringsmuseum.