Genetiker Ingo Potrykus: „Ich bat um ein Gewächshaus aus Panzerglas“
Ingo Potrykus entwickelte einen Reis, der Millionen Kinder retten sollte. Doch wütende Proteste verhinderten den Anbau über Jahrzehnte hinweg. Ein Gespräch über die Angst vor Genpflanzen, die Macht der großen Saatgutkonzerne und den späten Triumph seines Getreides.
05.12.23
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Im Juli 2000 wähnte sich Ingo Potrykus gleichzeitig am Zenit und am Ende seiner Karriere. Er stand kurz vor der Pensionierung an der ETH Zürich, als sein Gesicht das Cover des „Time Magazins“ zierte. Es zeigte den Pflanzenforscher inmitten eines Reisfelds, Ähren umspielten seinen grau melierten Bart. „Dieser Reis könnte eine Million Kinder pro Jahr retten“, stand daneben in großen, schwarzen Buchstaben. Gemeinsam mit dem Freiburger Biologen Peter Beyer war Potrykus eine Sensation gelungen. Sie hatten die Gene eines Reiskorns so verändert, dass die Pflanze, die daraus wächst, in ihren Früchten den Farbstoff Betacarotin ausschüttet. Das können sonst nur Karotten, Spinat und ein paar andere Obst- und Gemüsesorten.
Das Ziel: Der Goldene Reis, wie ihn seine Erfinder wegen der Farbe der Körner nannten, sollte eine der am weitesten verbreiteten Mangelerkrankungen der Welt bekämpfen. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO erblinden jährlich bis zu 500.000 Kinder wegen des Mangels an Vitamin A, das der Körper aus Betacarotin gewinnt. Die Hälfte der erblindeten Kinder stirbt binnen zwölf Monaten. Das Hauptnahrungsmittel in Entwicklungsländern ist Reis. Die Unterzeile auf dem „Time“-Cover enthielt ein prophetisches „aber“, das Potrykus den gesamten Ruhestand kosten sollte: „… aber Demonstranten glauben, gentechnisch veränderte Pflanzen sind schlecht für uns und unseren Planeten“.
Um die Jahrtausendwende feierten Sie Ihren großen Durchbruch. Hielten Sie das für den Startschuss, sehr viele Kinder zu retten?
Potrykus
Ja, das glaubten wir zu Recht. Binnen vier, fünf Jahren hätten die ersten Kinder den Goldenen Reis bekommen können. Aber wir hatten Greenpeace übersehen – durch deren massive Kampagnen dauerte es fast 20 Jahre. Die Arbeit mit transgenen Pflanzen unterliegt einem unglaublichen Berg von Vorschriften.
Für Ihre ersten Pflanzen baute die ETH Zürich extra ein Gewächshaus aus Panzerglas. Warum?
Potrykus
Ich habe die Leitung der Hochschule selbst darum gebeten. Die Stimmung gegen transgene Pflanzen war so aufgeheizt, dass ich befürchten musste, dass ideologisierte Studierende meine Arbeit mit Maschinengewehren oder Handgranaten zerstören wollten. Der Bau war ein Riesenaufwand.
Den Aktivistinnen und Aktivisten war das Glashaus aber noch nicht sicher genug.
Potrykus
Stimmt. Sie verlangten ein auch gegen Flugzeugabstürze gewappnetes Gewächshaus.
Die Angst der Kritikerinnen war, die gentechnisch veränderten Pflanzen könnten sich unkontrolliert in der Umwelt ausbreiten.
Potrykus
Diese Angst ist politisch geschürt, gegen jede Vernunft. Greenpeace fährt große Mengen an Spendengeldern ein, indem es den Menschen weismacht, sie vor einer großen Gefahr zu schützen. Greenpeace weiß sehr gut, dass die Argumente nicht stimmen. Das ist ein knallhartes Geschäftsmodell.
Hatten Sie je persönlich Kontakt zu Greenpeace?
Potrykus
In den Anfangsjahren pflegte ich regen Austausch. Bei einer Konferenz lud ich einen Vertreter der Organisation zu mir nach Zürich ein. Ich zeigte ihm alle Experimente, wir verbrachten einen langen Tag im Labor. Am Ende sagte er: „Sorry, Herr Potrykus, das klingt alles gut, aber Greenpeace ist aus Prinzip gegen alle transgenen Pflanzen.“ Dagegen war ich machtlos. Bis heute generiert Greenpeace einen Teil seiner Fördergelder mit dem Schüren der Angst.
Ist die Angst, der Goldene Reis könnte sich unkontrolliert in der Umwelt ausbreiten, unberechtigt?
Potrykus
Ja. Die Pflanze braucht den Menschen, um zu überleben. In der Umwelt hätte sie keinen Selektionsvorteil. Warum glauben die Menschen nicht der Wissenschaft? Warum glaubt man nicht 166 Nobelpreisträgern?
Die Unterzeile aus dem Jahr 2000 stellte sich als prophetisch heraus.
2016 riefen 166 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger Greenpeace in einem offenen Brief dazu auf, die Kampagnen gegen den Goldenen Reis und andere gentechnisch veränderte Lebensmittel endlich aufzugeben. Alle seriösen Studien würden zeigen: „Gentechnisch veränderte Pflanzen sind nicht gefährlicher als herkömmlich gekreuzte Pflanzen auch. Wenn überhaupt, dann sind sie sicherer, weil sie viel strengeren Kontrollen unterliegen.“
In den USA werden seit Mitte der 1990er-Jahre großflächig gentechnisch veränderte Nutzpflanzen ausgesät; weltweit wachsen sie mittlerweile auf mehr als 190 Millionen Hektar Fläche, allen voran Soja, Mais, Baumwolle und Raps. Ihr Einfluss auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen wurde eingehend überprüft, es liegt eine Fülle von Daten vor. Ein Beispiel: Der sogenannte Bt-Mais enthält ein Gen, das in Bodenbakterien zu finden ist. Es bewirkt die Produktion des Proteins Bt, das Schädlinge wie den Maiszünsler vernichtet, wenn sie von der Pflanze fressen. Was aber ist mit Bienen, Schmetterlingen und Bodenorganismen? Sie nehmen keinen Schaden, wie zahlreiche Untersuchungen zeigten. Im Gegensatz zum Anbau herkömmlicher Maispflanzen, die mit Insektiziden behandelt werden, die auch Nützlinge vernichten. Was aber geschieht, wenn sich genmanipulierte Pflanzen mit wilden Sorten kreuzen? In ein paar Fällen wurde das bereits beobachtet. Ökologische Auswirkungen stellte man aber bislang nicht fest.
Nach 30 Jahren Sicherheitsforschung zu gentechnisch veränderten Nutzpflanzen ist sich die Wissenschaft einig: Der Verzehr ist gesundheitlich unbedenklich und der Anbau sicher – sofern die Eigenschaften der Pflanzen zuvor geprüft wurden. Die Nobelpreisträgerinnen forderten deshalb von den Regierenden aller Staaten, Bäuerinnen und Bauern den Zugang zu gentechnisch verändertem Saatgut zu ermöglichen. Der letzte Satz des Briefs ist eine wütende Anklage: „Wie viele arme Menschen müssen weltweit noch sterben, bevor wir das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nennen?“
Warum will die Weltgesundheitsorganisation WHO Ihren Reis eigentlich nicht?
Potrykus
Seit Jahrzehnten versuche ich, von der WHO wenigstens moralische Unterstützung zu bekommen. Aber die Organisation weigerte sich von Anfang an. Das empört mich immer noch unglaublich.
Woher kommt dieser Widerstand?
Potrykus
Die größten finanziellen Förderer der WHO sind europäische Länder. Sie haben klargemacht, dass sie ihre Gelder einfrieren werden, wenn die WHO gentechnisch veränderte Pflanzen akzeptiert. Das ist meine Meinung. Dabei könnte die WHO Hunderte Millionen Euro für die Verteilung von Vitamintabletten sparen, wenn sie den Goldenen Reis unterstützen würde. Außerdem gibt es Probleme, die Tabletten in entlegene Dörfer zu bringen. Laut dem Kinderhilfswerk Unicef bekamen 2022 nur zwei von drei betroffenen Kindern ihre Dosis.
Die USA und Kanada haben weniger Berührungsängste als Europa und viele asiatische Staaten. Warum haben Sie es dort nicht probiert?
Potrykus
Weil Goldener Reis nur dort angebaut werden darf, wo ein Mangel an Vitamin A besteht.
Ein weiteres Argument der Kritikerinnen ist, gentechnisch veränderte Pflanzen würden den großen Saatgutkonzernen zu viel Macht verleihen. Haben sie da nicht einen Punkt?
Potrykus
Nein, das ist gelogen. Wir wollten den Goldenen Reis von Anfang an verschenken. Dabei ist es geblieben.
Aber Sie arbeiteten früh mit dem Konzern Syngenta zusammen. Wie konnten Sie da den Plan des Verschenkens durchsetzen?
Potrykus
Die Zusammenarbeit startete bald nach dem Durchbruch. Wir hatten den Goldenen Reis patentiert, und Syngenta zeigte Interesse daran. Sie wollten den Reis für den kommerziellen Gebrauch weiterentwickeln, wir waren auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Der Deal war: Wir übertrugen die Rechte für kommerzielle Nutzung an Syngenta, dafür half uns Syngenta bei der Produktentwicklung für den humanitären Einsatz.
2005 zog sich Syngenta zurück. Warum?
Potrykus
Sie merkten, dass sie damit nie Geld verdienen würden. Wir erbten aber alle Forschungsergebnisse. Anstatt der Gene von Narzissen enthält der Reis nun Mais-Gene, was den Betacarotin-Gehalt noch einmal deutlich erhöhte.
2013 wurden auf den Philippinen Versuchsfelder zerstört. Waren Sie damals vor Ort?
Potrykus
Nein. Aber als Professor an der ETH war ich zahllosen Angriffen ausgesetzt. Die Studenten wurden bei meinen Vorlesungen über Transgenetik laut und aggressiv, manchmal hatte ich schwere Bedenken, ob es zu tätlichen Angriffen kommen würde.
Wie haben Sie sich geschützt? Hatten Sie einen Bodyguard dabei?
Potrykus
Nein. Hätte mich jemand tätlich angegriffen, hätte ich mich wehren können. Ich hatte eine Ausbildung zum Sportlehrer absolviert und dort sämtliche Selbstverteidigungsstrategien gelernt.
Seit 2022 ist der Goldene Reis nicht mehr nur graue Theorie. Die Philippinen gaben das umstrittene Getreide als erster Staat der Welt für den Anbau frei. 15 Prozent der Kinder unter fünf Jahren leiden in dem Inselstaat an Vitamin-A-Mangel. In der Not essen Familien dort zwei- bis dreimal täglich Reis – dieser ist billig und enthält zwar Kohlenhydrate, aber kaum Mikronährstoffe. Das ändert sich nun: Die Regierung verteilte das Saatgut im Frühjahr 2022 an Kleinbauern in den Regionen mit Vitamin-A-Mangel, im Sommer wurde ausgesät, im Spätherbst erstmals geerntet. Nur der Name wurde geändert: „Golden“, das klang, als wäre der Reis teuer. Auf den Philippinen heißt der Reis „Malusog“, was so viel bedeutet wie gesund.
Sowohl der Anbau als auch die Auswirkungen auf den Ernährungszustand der Bevölkerung werden wissenschaftlich begleitet; erste Ergebnisse erwartet Potrykus in ein bis zwei Jahren. Dass der Goldene Reis gegen Vitamin-A-Mangel wirkt, ist aber anzunehmen: Darauf deuten alle bisher durchgeführten Studien hin, zudem ist es dem menschlichen Körper egal, ob er das Betacarotin von Karotten, Spinat, Paprika, Mangos oder Reis bezieht. Auf den Philippinen läuft außerdem gerade die Zulassung für eine noch nährstoffreichere Reispflanze, angereichert nicht nur mit Betacarotin, sondern auch mit Eisen und Zink.
Ist der Anbau auf den Philippinen ein später Triumph?
Potrykus
Ob es ein Triumph ist, weiß ich nicht. Dafür hat alles wohl zu lange gedauert. Ich freue mich aber sehr darüber, dass ich es mit meinen 90 Jahren noch erleben darf. 350 Tonnen Goldener Reis wurden bisher insgesamt geerntet. Immer mehr Bauern wollen ihn anbauen, er schmeckt sehr gut und ist bei Kindern beliebt.
Dachten Sie jemals daran, den Kampf aufzugeben?
Potrykus
Sicher, oft. Es kostete mich enorm viel Energie, um das Projekt bis zum Ende durchzuziehen. Zum Glück habe ich durchgehalten. Das gelang auch dank der finanziellen Unterstützung der Rockefeller- Stiftung und der Gates-Stiftung.
Glauben Sie, dass der erbitterte Widerstand nun gebrochen ist?
Potrykus
Nein. Greenpeace hat noch lange nicht aufgegeben. Sie erhoben beim Obersten Gericht auf den Philippinen Einspruch gegen die Zulassung. Das Verfahren ist noch anhängig. Das Internationale Reisinstitut in Manila muss nun Tausende Arbeitsstunden dazu verwenden, darauf zu reagieren.
Haben Sie von der Ernte selbst schon probiert?
Potrykus
Sicher. Peter Beyer brachte mir von seiner letzten Reise auf die Philippinen einen Sack mit. Ich finde, er schmeckt ähnlich wie Basmati-Reis. Ich koche sehr gerne, zuletzt machte ich Goldenen Reis mit Hühnerfrikassee.
sagte einmal in einem Interview: „Hunger tut weh.“ Er hatte ihn am eigenen Leib erfahren. Geboren am 5. Dezember 1933 im deutschen Hirschberg, das nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch wurde, floh seine Familie 1945 vor den herannahenden Russen nach Bayern. In der ersten Zeit musste er Gemüse von den Feldern stehlen, um zu überleben. Wohl auch deshalb flog er sofort nach New York, als die Rockefeller-Stiftung Anfang der 1990er-Jahre Forschungsgeld für einen Vitamin-A-Reis ausschrieb. Potrykus war inzwischen Gentechnik-Professor an der ETH Zürich und widmete sich dieser „Herkulesaufgabe, an die niemand wirklich glaubte“. In der Rockefeller-Stiftung schlossen sie Wetten gegen ihn ab, doch 1999 hatten Potrykus und sein Partner Peter Beyer die ersten goldenen Reiskörner unter dem Mikroskop. Ein Durchbruch. Gegen alle Widerstände kämpften die beiden jahrzehntelang dafür, das Saatgut in Entwicklungsländern verschenken zu dürfen. 2022 wurde auf den Philippinen erstmals Goldener Reis in großen Mengen geerntet.