Gravitationswellen-Detektor bei Pisa: Das Schweigen der Spiegel
Von Reinhard Kleindl
Die Taxifahrt von der Innenstadt, wo der schiefe Turm von Pisa steht, dauert etwa 20 Minuten. Sie führt in eine dünn besiedelte, sehr ebene Gegend, die hauptsächlich aus Ackerland besteht. Auf der linken Seite wird irgendwann eine unscheinbare blaue Röhre sichtbar, die ungefähr ein Stockwerk hoch ist. Es ist ihre Länge, die erstaunt. Die letzten Kilometer auf einer von Schlaglöchern durchsetzten Straße führen monoton diese Struktur entlang, die in beide Richtungen kein Ende zu nehmen scheint.
„Das ist Virgo“, erklärt der Taxifahrer. Er macht viele Fahrten hierher, die Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist schlecht. Nach drei Kilometern endet die Röhre bei einer Gruppe von Gebäuden, die zu einem mittelständischen Industriebetrieb gehören könnten. Doch hier werden keine Güter produziert. Stattdessen erzeugt die Anlage die vollständigste Ruhe, die auf der Erde möglich ist. Diese Ruhe ist Voraussetzung für eine Entdeckung, die vor einigen Jahren für eine Sensation in der Astronomie sorgte: Virgo ist einer von drei Orten auf der Welt, an denen Gravitationswellen gemessen wurden.
Im Grunde sei das Experiment einfach, erklärt der Physiker Matteo Tacca, der seit zehn Jahren Mitglied im Projektteam ist. Es handle sich um ein simples Interferometer – ein Gerät, das sich im Prinzip, ein wenig physikalische Begabung vorausgesetzt, mit einem Laserpointer und einigen geschliffenen Glasteilen im Wohnzimmer nachbauen lässt. Das Besondere an Virgo sind seine Größe und seine Genauigkeit. Infrarotlicht eines 200 Watt starken Lasers wird zwischen überdimensionalen Spiegeln hin- und hergeschickt, die jeweils am Ende zweier drei Kilometer langer Tunnel sitzen. Sobald sich eine der Komponenten auch nur minimal bewegt, ist das messbar. Das Virgo-Team betreibt seit fast 30 Jahren einen enormen Aufwand, um genau das zu vermeiden. Dass die Spiegel sich dennoch manchmal wie von Zauberhand zu bewegen scheinen, kann mit einiger Berechtigung als der größte Erfolg der Physik in diesem Jahrhundert bezeichnet werden. Denn es ist die Bestätigung eines Effekts, den Albert Einstein vor über 100 Jahren vorhergesagt hatte – und von dem er bis zu seinem Tod überzeugt war, dass er niemals mittels Experimenten nachgewiesen werden könne.
Tatsächlich sei der Erfolg lange Zeit nicht absehbar gewesen, erzählt Tacca. Die Geschichte von Virgo war durchaus hürdenreich und von Rückschlägen begleitet. „Anfangs hielten uns manche für verrückt“, sagt Tacca. „Es bestand Einigkeit darüber, dass unsere Messgenauigkeit nicht ausreicht.“ Immer wieder scherzte er mit Kollegen, dass die Arbeit hier vergeblich sei, weil die Chancen, jemals Gravitationswellen zu beobachten, verschwindend gering seien. So ging es vorerst darum, Grundlagen zu schaffen und Vorbereitungen für künftige Experimente zu leisten, mehr nicht. Über viele Jahre sei es ein Kampf gewesen, die Geldgeber zu überzeugen und bei Laune zu halten. In den USA gab es außerdem zwei ähnliche Anlagen: die in der Wüste gelegenen Detektoren der LIGO-Kollaboration, mit denen die Virgo-Leute stets auch kooperierten.
Eine unerwartete Botschaft aus dem All
Die Zusammenarbeit änderte nichts am Schock, den die Europäer 2015 erlebten: Bei einem Testlauf der LIGO-Detektoren schienen plötzlich die Spiegel zu zittern. Die Messgeräte zeigten ein markantes Muster, das nicht von der Erde stammen konnte. Relativ bald war klar, dass es sich nicht um einen Irrtum handelte: Den Amerikanern waren Gravitationswellen ins Netz gegangen. Die US-Kollegen wurden zwar nicht müde, den Beitrag der Europäer bei der Gravitationswellenforschung zu betonen, dennoch war es für das Virgo-Team eine Enttäuschung. LIGO und Virgo sollen eigentlich ein Netzwerk bilden und gemeinsam arbeiten, doch in Pisa war man noch nicht so weit – Virgo war schlicht später gegründet worden, die Verzögerung war noch nicht aufgeholt und der Detektor nicht betriebsbereit. Nun musste es gelingen, mit LIGO gleichzuziehen und das Netzwerk zu komplettieren.
Um das zu schaffen, war eine Steigerung der ohnehin schon astronomischen Genauigkeit um das Zehnfache nötig. Matteo Tacca öffnet die Tür zum Herz der Anlage, in der die sensibelsten Komponenten untergebracht sind. Die Halle mit quadratischem Grundriss befindet sich am Schnittpunkt der beiden Tunnel, die nur während der wöchentlichen Wartungsphase zugänglich sind. Die optischen Instrumente sind in Vakuumkammern untergebracht, die wie zu groß geratene Warmwasserboiler aussehen. Das Vakuum ist wichtig, weil Luft die Laserstrahlen stören würde. Auch die Tunnel sind luftleer, so rein wie der Weltraum des Sonnensystems. Virgo besitzt das größte Ultrahochvakuum Europas.
Was sich in den Kammern befindet, lässt sich anhand von ausgestellten Ersatzteilen und Taccas Beschreibungen erahnen: 40 Kilogramm schwere gläserne Spiegel, die an zehn Meter langen Pendeln hängen. Gemeinsam mit einer Reihe anderer Tricks sollen die Pendel jede äußere Bewegung dämpfen und die Spiegel zur perfekten Ruhe bringen. Die Qualität dieser Ruhe ist nur schwer zu fassen. Tacca erklärt, dass die Bewegung weniger als ein Tausendstel des Durchmessers eines Atomkerns betragen darf. Es sind Größenordnungen, bei denen Vergleiche versagen, auch das Millionen- oder Milliardenfache dieser Distanz liegt weit außerhalb des Vorstellbaren. Wird diese Genauigkeit erreicht, kommen die Spiegel fast vollständig zur Ruhe – um sich dann und wann scheinbar doch zu bewegen.
Der Grund dafür ist einer der sonderbarsten Effekte der Physik und wurde von Albert Einstein vorhergesagt. Der große deutsche Physiker erkannte, dass die Gravitation anders funktioniert als die übrigen Naturkräfte. Sie pflanzt sich nicht im Raum fort, sondern ist eine Krümmung der Raumzeit selbst. Diese Tatsache ist der Kern von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Doch der Raum kann nicht nur gekrümmt werden, er kann auch schwingen. Wie auf einer Wasserfläche breiten sich Unebenheiten als Wellen in alle Richtungen aus. Einsteins Berechnungen zeigten, dass der Effekt winzig wäre – zu klein, um ihn jemals messen zu können.
Doch in dem Punkt täuschte er sich. Bei extremen kosmischen Ereignissen könnten doch Wellen im Raumgefüge auf der Erde nachweisbar sein, zumindest in der Theorie. Im Fall von LIGO war es ein Paar miteinander kollidierender Schwarzer Löcher, etwas mehr als eine Milliarde Lichtjahre entfernt, die kurz vor dem Verschmelzen Gravitationswellen erzeugten und die Spiegel der beiden Detektoren scheinbar in Schwingungen versetzten – ein spektakuläres Ergebnis, das schon ein Jahr nach Publikation der Ergebnisse für Nobelpreise gut war. Solche Paare Schwarzer Löcher entstehen, wenn Doppelsternsysteme ihren Brennstoff aufgebraucht haben und nacheinander unter der Last ihrer enormen Schwerkraft kollabieren. Die Gravitation wird dann so groß, dass nicht einmal Licht aus ihrem Inneren entkommen kann. Damit das geschieht, müssen beide Sterne riesig sein, weshalb man Paare von Schwarzen Löchern für sehr selten hielt. Weitere aufgezeichnete Gravitationswellensignale in den folgenden Monaten zeigten allerdings, dass sie viel häufiger sind als bislang angenommen. Deshalb schien nun auch für Virgo das Ziel zum Greifen nah, doch noch war viel Arbeit zu tun.
Die Suche nach der perfekten Ruhe
Wer die perfekte Ruhe sucht, muss zuallererst einmal Lärm vermeiden. Lärm in allen Formen ist das Spezialgebiet von Irene Fiori. Sie hat überall in der Anlage Mikrofone und Erschütterungssensoren verteilt. Wer mit ihr das Gebäude am Ende eines der Tunnel besichtigt, wo ein Spiegel den Laser reflektiert, trifft Leute ihres Teams, die gerade gut gelaunt Lüftungsrohre in schalldämmendes Material packen. Fiori lässt Vakuumpumpen auf Gummimatten stellen und Computer mit Lüftern durch leisere Modelle ersetzen.
Es ist Kleinarbeit, ein Aufspüren von immer neuen Störungsquellen, von denen sich viele ausschalten lassen. So brachten etwa Traktoren auf den Feldern Bauteile im Inneren der Halle zum Schwingen. Die Teile konnten gefunden, das Problem auf Virgo-Seite gelöst werden. Doch es gibt Quellen von Unruhe, die so groß sind, dass sie sich nicht vermeiden lassen. „Das größte Problem ist die Brandung“, erklärt Fiori. Das Meer befindet sich 20 Kilometer entfernt, doch auch die minimalen Erschütterungen sind durch die langsame Frequenz der Wellen ein Problem für die Messungen, mehr als die Traktoren auf den umliegenden Feldern oder die Taxis auf der Straße. Wer Nachbarn hat, die gern laute Musik hören, kennt das Phänomen: Hohe Töne sind gedämpft, während die Bässe alles durchdringen. Die Meereswellen müssen wie die Störungen der sechs Kilometer entfernten Windräder mit Computermethoden ausgeglichen werden. Hubschrauber hingegen haben eine sehr ungünstige Frequenz, die sich nicht korrigieren ließ. „Wir verständigten uns mit den Behörden über eine Flugverbotszone für Hubschrauber“, erzählt Irene Fiori.
Die Maßnahmen fruchteten: Zwei Jahre später gelang der Durchbruch. Heute schmücken leere Champagnerflaschen den Kontrollraum von Virgo, und wenn die Forschenden von den ersten erfolgreichen Messungen erzählen, ist ihnen die Rührung immer noch anzumerken. 2017 konnten etwa 20 Tage lang Messungen durchgeführt werden. Das Ergebnis war eine wissenschaftliche Sensation: Virgo zeichnete ein Gravitationswellensignal zweier miteinander verschmelzender Neutronensterne auf. Neutronensterne sind die ausgebrannten Gerippe von Sternen, fast so dicht und schwer wie Schwarze Löcher. Auch sie sind extreme Objekte, die sich nur schwer mit Teleskopen beobachten lassen. Bei LIGO sah man das Signal ebenfalls, und durch das Zusammenspiel der drei Detektoren konnte außerdem sein Ursprung am Himmel lokalisiert werden. Eilig darauf ausgerichtete optische Teleskope dokumentierten den Nachhall des Ereignisses und konnten so erstmals klären, wie kollidierende Neutronensterne für konventionelle Teleskope aussehen. Damit wurde in weiterer Folge auch der Beweis einer lange gehegten Vermutung erbracht: Alle chemischen Elemente im Universum, die schwerer sind als Eisen, stammen aus Neutronensternen.
Das Einstein-Superexperiment
Bislang konnte das Netzwerk der drei Detektoren in sieben Jahren an die 100 ferne kosmische Ereignisse registrieren, doch für die Jungforscherin Eleonora Capocasa war das Neutronensternsignal von 2017 das absolute Highlight. Sie war erst drei Jahre zuvor zum Team gestoßen – enorm gutes Timing, wie sie zugibt. Ihr Hunger ist allerdings noch nicht gestillt, sie träumt von der nächsten Ausbaustufe. Dabei könnte es auch zu Überraschungen kommen, wie die Forscherin betont: „Jedes Mal, wenn wir Gravitationswellen messen, sehen wir etwas, das wir bisher nicht sehen konnten. Dennoch haben wir bisher nur bekannte Objekte gemessen, die genau die Wellenformen erzeugten, die wir erwartet hatten. Es wäre verwirrend und aufregend, einmal etwas völlig Neues zu sehen.“
Sie spricht damit auch ein geplantes europäisches Superexperiment an, das Einstein-Teleskop, noch dreimal größer als Virgo und in einen Berg gegraben, um jedwede Störeinflüsse auszuschalten. Bereits jetzt wird in den Laboren von Virgo an den Spiegeln geforscht, die dort einmal verwendet werden sollen, 100 Kilogramm schwere Ungetüme, die an enorm sensiblen Glasfasern aufgehängt sind, um Schwingungen zu vermeiden. 2025 sollen sie zuerst in Pisa zum Einsatz kommen.
Der Grieche Stavros Katsanevas, Leiter von EGO, der Betreiberorganisation von Virgo, bringt das Gespräch vom Einstein-Teleskop zurück auf Virgo und betont, dass die Möglichkeiten hier bei Weitem noch nicht ausgeschöpft seien. In Zukunft erwartet er, mit noch höheren Genauigkeiten ein Gravitationswellensignal pro Tag zu messen und so den Himmel neu zu kartieren. Stavros und Eleonora schwärmen davon, Informationen über die Oberfläche von Schwarzen Löchern zu gewinnen, über die es verschiedene Theorien gibt. Gravitationswellen erlauben es außerdem, weiter in die Vergangenheit des Universums zu blicken, als es mit allen anderen Teleskopen der Welt möglich ist. Kurz nach dem Urknall war die Materie so heiß, dass Atome in ihre Bestandteile aufgelöst waren und das All für Licht undurchlässig war. Erst als sich die Atome formten, wurde das All durchsichtig, weshalb mit optischen Teleskopen keine Informationen über die Zeit davor gewonnen werden können. Für Gravitationswellen war das All aber auch damals durchlässig. Es könnten also noch Gravitationswellen aus dieser Frühzeit durch den Raum geistern, die sich mit noch genaueren Instrumenten aufspüren lassen.
Nächstes Jahr soll, wenn alles gut geht, mit KAGRA in Japan außerdem ein vierter Detektor zum Netzwerk hinzustoßen und das mysteriöse Zittern aus dem All aufzeichnen. Bis neue Großexperimente wie das Einstein-Teleskop frühestens 2040 Daten liefern, kann also noch viel passieren.
Eine Illusion des Zitterns
Derzeit bereitet man sich bei Virgo auf den nächsten Messzeitraum mit noch einmal höherer Genauigkeit vor. Der Umbau ist eigentlich abgeschlossen, die Anlage im Prinzip messbereit, doch man ist damit beschäftigt, Details zu optimieren und Unterbrechungen durch Störungen zu verringern. Die Arbeiten dauern länger als geplant, das Coronavirus ist auch an Virgo nicht spurlos vorübergegangen. Hier ist jede Position eine Schlüsselposition, niemand ist ersetzbar und jeder Krankheitsfall mit Verzögerungen verbunden. Doch die Probleme scheinen überwunden, kommendes Jahr sollen die Spiegel in ihre Ruheposition gebracht werden und ein neuer Messlauf beginnen, der auf ein Jahr angesetzt ist.
Dabei ist das Zittern der Spiegel von Virgo, das dann wieder gemessen werden wird, nur eine Illusion. Sie bewegen sich nicht wirklich, eigentlich bleiben sie nahezu perfekt ruhig. Es ist der Raum zwischen ihnen, der sich bewegt. Er streckt sich und zieht sich zusammen, wenn Gravitationswellen auf ihrem Weg durchs All die Erde passieren – genau wie Einstein es prognostizierte.