Das große Krabbeln: Ökosystem Wohnung
Michelle Trautwein erforscht einen der letzten weißen Flecken auf der Landkarte des Lebens – die Artenvielfalt in unseren vier Wänden. In den letzten Jahren hat die Insektenforscherin im US-Bundesstaat North Carolina mit ihrem Team 50 Eigenheime unter die Lupe genommen. Bewaffnet mit Stirn- und Taschenlampen, Knieschonern, Pinzetten, Netzen, Glasfläschchen und Absauggeräten wagten sich die Wissenschafter in dunkelfeuchte Kellerecken vor, robbten unter dem Dachfirst über den Boden trockenstaubiger Speicher und wuchteten Kühlschränke und Spülmaschinen zur Seite, um Insekten und andere Gliederfüßer einzusammeln.
Die Ausbeute der Expedition war weit größer als erwartet: Teppichkäfer, Zitterspinnen, Höhlenschrecken, Raubwanzen, südasiatische Kirschessigfliegen. Insgesamt sammelten die Forscher mehr als 10.000 Exemplare von etwa 750 Arten ein. Viele Tiere waren von Licht oder Gerüchen angelockt durch Türen und Fenster ins Innere der Häuser geflogen und hatten den Weg in die Freiheit nicht mehr gefunden. Etliche Spezies waren aber dauerhafte Untermieter. Etwa der Wollkrautblütenkäfer, der sich an Hautresten, Fingernägeln und Essensresten labt, oder Trauermücken rings um Topfpflanzen. Die tierische Besatzung war aber nicht in jedem Heim gleich: Einige verfügten über jede Menge Tausendfüßer, andere beherbergten große Silberfischkolonien. „Häuser mögen nicht wie Orte erscheinen, in denen Biologen Entdeckungen machen“, sagt Trautwein. „Aber auch in Innenräumen finden sich Ökosysteme.“
Weltweite Gebäudeflächen so groß wie Frankreich
Dieser Naturraum ist evolutionsgeschichtlich jung, schließlich bauen Menschen erst seit etwa 20.000 Jahren Häuser. Aber er wächst, und auch in ummauerten und überdachten Räumen geht die Evolution weiter. Derzeit liegt das Ausmaß der Gebäudeflächen bei geschätzt 0,5 Prozent des weltweit eisfreien Landes. Das ist eine Fläche von etwa 640.000 Quadratkilometern, was fast der Größe Frankreichs entspricht oder der Fläche aller tropischen Nadelwälder weltweit. Und die Ökosysteme im Inneren von Gebäuden wachsen weiter. In Ballungszentren wie Manhattan etwa ist die Innenraumfläche heute fast dreimal so groß wie die Insel selbst.
Was die Wissenschaft bislang über unsere Mitbewohner weiß, fassen neben Michelle Trautwein 24 weitere Forscher in einem aktuellen Überblicksartikel in der April-Ausgabe des Fachjournals „Trends in Ecology and Evolution“ zusammen. Und das geht deutlich über die Gliederfüßerinventur hinaus. Mögen Haustiere wie Hund, Katze, Aquarienfische und Zimmerpflanzen schnell durchgezählt sein, sieht es bei Mikroben doch anders aus. In 40 Häusern, ebenfalls in North Carolina, entdeckten Wissenschafter mehr als 8000 Mikrobenarten – und weil durchaus repräsentativ für die westliche Zivilisation, sähe der Mikrobenzoo in einem österreichischen oder deutschen Haushalt wohl auch kaum anders aus.
Ein anderes Forscherteam fand Hunderte Pilzarten bei einer Untersuchung von nur elf Häusern in Kalifornien. Das Leben macht vor der Haustür nicht Halt: Jedes Heim ist eine Art Dschungel mit unzähligen Spezies, egal ob in den USA, Finnland, Deutschland oder Singapur – alles unerwartete Hotspots der Biodiversität. „Bislang hat sich die Forschung in Häusern weltweit auf Schädlinge konzentriert. Das ist eine sehr anthropozentrische Sicht, doch uns Zoologen interessiert die gesamte Biodiversität in Behausungen“, sagt der Evolutionsbiologe Wolf Blanckenhorn von der Universität Zürich über die Studie.
Reinigungsmittel und Staubsauger als "natürliche Feinde"
Die Wissenschafter richten ihr Augenmerk aber nicht nur auf den Bestand, sondern auch auf die Evolution des Ökosystems. Wo isolierte Populationen um beschränkte Nahrungsressourcen konkurrieren und ihnen feindselige Reinigungsmittel, Staubsauger und Schuhsohlen nach dem Leben trachten, überleben nur die am besten Angepassten.
Gewinner in diesem Wettbewerb sind Bettwanzen und Silberfische mit ihren flachen Körpern, die durch Ritzen, Fugen und Spalten passen. Da es dort meist stockdunkel ist, nutzen sie statt Augen lange Fühler zur Orientierung. Oft sind sie flügellos, da es auf engem Raum keiner großen Flugkünste bedarf. Das gilt auch für den Kornkäfer, der vor allem in Getreidespeichern oder Speisekammern lebt. Auch Kleidermotten sind keine großen Flugakrobaten – in Schränken ist das zwischen Pullovern, Hemden und Röcken auch kaum notwendig. Die Autoren des Artikels vermuten außerdem, dass die Tiere Inzucht gut vertragen, weil sie in manchem Heim wie auf einer einsamen Insel hausen.
Einige Mitbewohner begleiten den Menschen bereits seit Urzeiten. Als der Frühmensch noch in Höhlen wohnte, stiegen wahrscheinlich einige Wanzen von Fledermäusen auf den Menschen um. Seither ist uns der Blutsauger nicht mehr von der Seite gewichen. Die Deutsche Schabe könnte in freier Natur kaum noch überleben und ist für ihr Gedeihen auf die Unterkunft in menschlichen Behausungen angewiesen. Nicht viel anders ist es bei den lichtscheuen Silber- und Ofenfischchen oder den Hausstaubmilben.
Kleingetier mit zunehemender Resistenz
Die Evolution unserer Hausgenossen schreitet weiter voran. So meiden deutsche Schaben inzwischen Zucker – und das heißt auch, mit Zucker versetzte Köder. Insektenforscher stellten fest, dass die Tiere sich dabei nicht nur schlauer verhalten, sondern dass sich offenbar ihre Geschmackswahrnehmung geändert hat. Auch Bettwanzen entwickeln sich weiter. In den 1960er-Jahren galt das lästige Kleingetier in den Industrienationen als weitgehend ausgemerzt, weil es mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel DDT bekämpft wurde. Seit Mitte der 1990er-Jahre trotzen die Plagegeister aber immer öfter handelsüblichen Insektiziden. Ihre Resistenz führen Forscher auf die Fähigkeit zurück, Gifte schneller als früher abzubauen.
Die Evolution erklärt auch die genetische Isolation von Tieren in Behausungen. So zeigte zu Beginn des Jahrtausends eine Studie des Zoologen Martin Schäfer, heute Postdoktorand in der Arbeitsgruppe Blanckenhorns an der Universität Zürich, an mehreren Orten in Deutschland, dass die genetische Variation von Zitterspinnen in Häusern fast zur Hälfte durch die Gebäude determiniert ist. Zu über 20 Prozent hängt sie sogar vom jeweiligen Raum ab, in dem die Spinne lebt – ob etwa im Keller oder auf dem Dachboden. „Das legt nahe, dass es mitunter nicht viel Genaustausch zwischen Gebäuden gibt, selbst nicht zwischen Räumen“, sagt Blanckenhorn. „Die Spinnen bleiben meistens am Ort.“
22.000 Arten als Mitbewohner
Die größte Artenvielfalt unter unserem Dach findet sich bei den Millionen Bakterien, Viren und anderen Mikroben. Mikrobiologen um Jack Gilbert vom Argonne National Laboratory im Bundesstaat Illinois haben in ihrem „Home Microbiome Project“ drei Wochen lang sieben Familien begleitet, zu denen 18 Personen gehörten, drei Hunde und eine Katze. Täglich nahmen sie Wischproben von Händen, Füßen und Nasen, außerdem von diversen Oberflächen im Haus. Dabei entdeckten die Wissenschafter annähernd 22.000 Arten, wie sie kürzlich im Fachjournal „Science“ berichteten. Drei Familien zogen zudem während der drei Wochen um – und das Forscherteam beobachtete, dass die Mikrobenflora der Neuankömmlinge ein Haus in kürzester Zeit kolonisierte. Jeder Mensch hat einen mikrobiellen Fingerabdruck, den er offenbar bei einer Übersiedelung mitnimmt.
Komplett ausgetauscht wird das bisher an einem Ort vorhandene Mikrobiom jedoch nicht, wenn eine neue Familie einzieht. Spezialisierte Mikroben findet man besonders häufig an Orten mit extremen mikroklimatischen Schwankungen – in Duschköpfen etwa, wo ein steter Wechsel zwischen heißem und kaltem Wasser sowie plötzlicher Trockenheit herrscht. Hier lebt auch ein Mykobakterium, das bei Menschen mit schwachem Immunsystem möglicherweise Lungenerkrankungen auslösen kann. Ein Hefepilz namens Exophilia wiederum fühlt sich in Spülmaschinen und Spülbecken wohl. In der Natur lebt diese Mikrobe auf Tropenfrüchten, kann also gut an Oberflächen haften. Teil seines Lebenszyklus ist es, durch den Magen früchteessender Tiere zu wandern, was bedeutet, dass es gut mit Säure und Wärme zurechtkommt. In Wasserboilern schließlich findet man oft ein Bakterium namens Thermus aquaticus, was einige Forscher dazu gebracht hat, zu spekulieren, ihre Vorfahren könnten aus Heißwasserquellen stammen.
Der Biologe Rob Dunn von der North Carolina State University hofft, dass die Entdeckung der Artenvielfalt in unseren Häusern nicht nur wissenschaftliche Neugier befriedigt. Sie könnte auch unser Leben verbessern. So fänden sich in Häusern mit vielen Schaben, Mäusen oder Pilzsporen vermehrt Substanzen, die Allergien auslösen. In Krankenhäusern tummeln sich in Zimmern mit Klimaanlagen mehr gefährliche Mikroben als in Räumen mit natürlicher Lüftung. Spinnen halten Schädlinge in Schach. Mikroben, die mit Zimmerpflanzen ins Haus kommen, können sogar förderlich für die Gesundheit sein. Es ist also wichtig, herauszufinden, welche Arten ein positives Umfeld schaffen. Entkommen können wir unseren Mitbewohnern ohnehin nicht, sagt Dunn: „Die Evolution, die dort stattfindet, ist mit unserem Schicksal verwoben.“