Großes ß: Der heikle Job der Sprachpolizei
Linguisten sind immer auf der Pirsch, auch wenn das Hirschgulasch schon fertig vor ihnen auf dem Teller liegt. Serviert der Kellner dazu einen Apfelsaft, auf dessen Flasche in Versalien das Wort "FRUCHTSÜßE!“ prangt, ist das definitiv ein guter Tag für einen Sprachwissenschafter. Die Dessertkarte birgt ebenfalls Glücksmomente: "WALDBEERKOMPOTT mit WEIßER SCHOKOLADE“. Dann erreicht ihn womöglich noch die Einladung eines Kollegen zur Vortragsreihe "LUTHERS GROßES ERBE“. Den perfekten Ausklang liefert der "ARD-Report“ mit der Einblendung "Nikola Poposki, AUẞENMINISTER MAZEDONIEN“.
Im Fadenkreuz des peniblen Buchstabenjägers: das große scharfe ẞ, das es eigentlich noch gar nicht gibt. Wer schreibt es wie? Groß? Klein? Oder streng nach Vorschrift, ersetzt durch ein Doppel-S? Die Beute des Linguisten landet schließlich, fein säuberlich abfotografiert und geordnet, im Archiv des Rats für deutsche Rechtschreibung. Nach zehn Jahren intensiver Jagd- und Sammeltätigkeit zahlreicher deutschsprachiger Linguisten und anderer Sprachbegeisterter verkündete der Ratsvorsitzende Josef Lange vergangenen Juni, die Verwendung des Großbuchstabens "ẞ“ sei neben "SS“ ab sofort erlaubt. Der oberste Sprachpolizist aus Mannheim hat keine geringere Aufgabe, als den "Sprachfrieden“ zu erhalten.
Welche Aufgabe haben Sprachpolizisten?
Arbeiten, und zwar als Linguist, Lehrer, Schriftsteller, Verleger oder Journalist. Die Sprachbeobachtung ist für die meisten Ratsmitglieder ein Ehrenamt. Jutta Ransmayr ist Sprachwissenschafterin am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Lehrerin in einem Gymnasium und Ratsmitglied. Ihr Institut liefert Schreibanalysen aus Österreich nach Mannheim, und zwar aus der Datenbank "Austrian Media Corpus“. Darin finden sich sämtliche digital verfügbaren Pressemeldungen der Austria Presse Agentur, fast alle Inhalte der Tages- und Wochenzeitungen sowie Transkripte österreichischer TV-Nachrichtensendungen.
Wie entscheidet der Rechtschreibrat?
Bei ihren halbjährlichen Sitzungen diskutierten die 39 Mitglieder aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Südtirol und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens sehr sachlich, berichtet Linguistin Ransmayr. Eigentlich könnte man meinen, das Gremium in Mannheim stelle die Regeln auf, und der Rest der Welt halte sich daran. Tatsächlich ist es in den meisten Fällen umgekehrt. In Arbeitsgruppen diskutiert der Rat, wie die Welt draußen die Orthografieregeln anwendet - und passt sie gegebenenfalls der Praxis an. Der Großbuchstabe ẞ wurde erlaubt, "weil er insbesondere für die korrekte Schreibung von Eigennamen in Pässen wichtig ist“, so der Rat.
Wie findet man ein großes scharfes ß auf der Tastatur?
Bisher gar nicht. Auf dem PC erzeugt man den Buchstaben, indem man Alt Gr, Shift und ß drückt. Mac-Usern bleibt nur die Möglichkeit, eine bestimmte Zeichenkombination für den Buchstaben festzulegen oder ihn aus dem Internet zu kopieren.
Im Deutschen Institut für Normung (DIN) berät man derzeit über den künftigen Platz des großen scharfen ẞ auf der Tastatur. Dem deutschen Hersteller Cherry zufolge dürfte es wohl keine zusätzliche Taste geben, das Grad-Symbol am linken Rand neben der Ziffer eins könnte dem ẞ aber möglicherweise weichen. Oder es kommt als Trittbrettfahrer unter - wie 1999 das Euro-Zeichen €, das nach langer Diskussion schließlich Unterschlupf beim E fand.
Wozu brauchen wir das scharfe ß überhaupt?
Dafür gibt es einen phonetischen Grund: In der deutschen Standardsprache zeigt das scharfe ß die Länge des Vokals an. Das a in "Straße“ wird lang gesprochen, jenes in "Gasse“ hingegen kurz. Für die Schweizer ist das hinfällig, denn sie betonen alle Doppelkonsonanten mit einem Silbenschnitt. Bei einem Eidgenossen klingt "Straße“ also mehr wie "Stras-se“. Bleibt natürlich die Frage, ob die Österreicher und die Deutschen nicht auch in der Lage wären, auf das scharfe ß zu verzichten und "Strasse“ trotzdem richtig zu betonen.
Warum bekommen die Schweizer Extrawürste?
Erst seit gut 100 Jahren gibt es eine einheitliche deutsche Rechtschreibung. Davor gab sich jedes Land seine eigenen Regeln - und die Eidgenossen stehen in dem Ruf, besonders auf ihre Eigenheiten zu pochen. Tatsächlich aber haben die Österreicher mit 14 Ausnahmewörtern doppelt so viele wie die Schweizer: "Mokka“ dürfen heimische Kaffeehäuser auch mit cc schreiben, das österreichische "Tunell“ ist hierzulande genauso erlaubt wie das deutsche "Tunnel“, und ausschließlich im Österreichischen gibt es das Verb "maschinschreiben“. Die Schweizer hingegen bestehen - neben dem Verzicht auf das scharfe ß - auf "Müesli“ statt "Müsli“, "Bretzel“ statt "Brezel“ und "Rendez-vous“ anstelle von "Rendezvous“. Für den deutschen "Abiturienten“ haben die Schweizer den "Maturanden“, die Österreicher den "Maturanten“.
"Keiser“ statt "Kaiser“: Wie kam es eigentlich zum deutschen Sprachkrieg?
Im Gegensatz zur diesjährigen Minireform löste jene vor 21 Jahren einen veritablen Kulturkampf aus. Es sollte die größte Rechtschreibreform der Geschichte werden, doch schon die ersten Vorschläge des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim führten zu wütenden Protesten: "Bot“ statt "Boot“, "Keiser“ statt "Kaiser“? Was für eine Vergewaltigung der deutschen Sprache! Auch moderatere Ideen fanden wenig Anklang: "Delfin“ statt "Delphin“? "Schifffahrt“ statt "Schiffahrt“? "Wohl bekannt“ statt "wohlbekannt“? Die meisten Deutschen sträubten sich hartnäckig gegen die 1996 eingeführte neue Orthografie. Lehrer weigerten sich, sie zu unterrichten, Verlage und Medienhäuser, die bereits umgestellt hatten, ruderten zurück, allen voran die "Frankfurter Allgemeine Zeitung“, fortan das Flaggschiff der orthografischen Gegenreformation.
Wie schafft man Sprachfrieden?
Der Konflikt um Groß- und Kleinschreibung, scharfes ß und Zusammenschreibung schwelte vor sich hin, bis er im Sommer 2004 erneut voll entbrannte: Ein Jahr vor Ende der Übergangsfrist verkündeten der Springer-Verlag, "Der Spiegel“ und die "Süddeutsche Zeitung“, zur alten Rechtschreibung zurückkehren zu wollen. Literaten wie Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger reagierten panisch, Kritikerlegende Marcel Reich-Ranicki befürchtete eine "nationale Katastrophe“.
"Der Sprachfrieden“ sei eiligst "wiederherzustellen“, befand daraufhin die deutsche Kultusministerkonferenz und gründete den Rat für deutsche Rechtschreibung. 39 ehrenamtliche Linguisten, Lehrer und Autoren aus sechs Staaten sollten die umstrittensten Regeln entschärfen. Das Ergebnis: "Kennenlernen“ darf seit 2006 wieder zusammengeschrieben werden, "heiligsprechen“ ebenfalls, das "Du“ in Briefen wieder groß. Am 1. Jänner 2007 bekannte sich sogar die "FAZ“ zur neuen Rechtschreibung. Damit war der Sprachfrieden besiegelt.
Österreichs Ministerien verwenden das Binnen-I. Sie könnten eine Vorreiterrolle einnehmen. Kerstin Güthert, Ratsgeschäftsführerin
Binnen-I & Gender_Gap: Warum haut nicht endlich jemand auf den Tisch?
Nach aktuellem Beschluss des Rechtschreibrats sind alle "verkürzten Paarformen“ erlaubt: "SchülerInnen“, "Schüler/innen“, "Schüler_innen“ oder auch "Schüler*innen“. Bei konservativer Auslegung sei die Schreibweise "Schüler/-innen“ zu wählen, empfiehlt das Gremium. Aber warum spricht es sich nicht deutlich für eine Schreibweise aus und beendet damit die hitzigen Diskussionen? "Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs. Unsere Aufgabe ist es, die Verwendungsweisen zu beobachten und schließlich die gebräuchlichsten zur Norm zu erheben“, sagt Ratsgeschäftsführerin Kerstin Güthert. Der Prozess könne sich freilich noch mehrere Jahre hinziehen. Noch ist die Verwendung des Binnen-I in manchen deutschen Bundesländern untersagt, die Schweizer Bundeskanzlei rät ebenfalls davon ab. Ein Tipp, welche Variante sich schließlich durchsetzen wird? Güthert: "Österreichische Ministerien verwenden seit mehreren Jahren das Binnen-I. Sie könnten hier eine Vorreiterrolle einnehmen.“
Snapchat, Facebook und Twitter: Verändert das Internet die Rechtschreibregeln?
Wohl eher nicht, meint Ratsgeschäftsführerin Kerstin Güthert. Die Menschen schreiben heute mehr als je zuvor und sind dabei auch sehr kreativ; allerdings sind Kurznachrichten und Foren eher der Mündlichkeit zuzurechnen. Tatsächlich werden Groß- und Kleinschreibung beim Chatten obsolet, Grammatik wird zur Nebensache degradiert. Emojis garnieren die Botschaften ohne Strich und Komma. Spätestens beim Bewerbungsschreiben würden sich die Schreibwütigen jedoch wieder sehr penibel an die deutsche Orthografie halten, ist Güthert überzeugt.
Sie wollen mehr über das ẞ wissen? Den ganzen Artikel von Franziska Dzugan lesen Sie im profil 30/2017.