„Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem roten Teppich“, sagt Christoph Müller stets zu seinen Patientinnen und Patienten. Ein Mausklick des Dermatologen von der Medizinischen Universität Wien, und der Patient steht im Blitzlichtgewitter; mit abgespreizten Armen und nackt bis auf die Unterhose. 92 Kameras fotografieren jedes Haar, jede Falte, jeden Pickel (außer auf den Fußsohlen und unter dem Haupthaar), und, noch viel wichtiger: jedes (vermeintliche) Muttermal.
Zugegeben, in der Abendrobe bei einer Filmpremiere wäre es angenehmer – aber weniger lebensrettend. Der Ganzkörperscanner im AKH Wien sieht ein bisschen aus wie die Beamer in der legendären Serie Star Trek. Binnen Sekunden fotografiert er etwa 95 Prozent der Hautoberfläche in Makro-Auflösung und erstellt anschließend in wenigen Minuten einen Avatar des Patienten in 3D. Der Scan basiert nur auf Fotografie, es entsteht keine Strahlenbelastung für den Körper. Auf einem großen Bildschirm kann Christoph Müller anschließend jede Hautveränderung durchgehen; vom harmlosen Muttermal bis zu Melanomen und weißem Hautkrebs. Zu Studienzwecken ist im Scanner eine künstliche Intelligenz integriert, die bei der Diagnose hilft. Die Dermatologie war eine der ersten medizinischen Disziplinen, in denen neuronale Netzwerke zum Einsatz kamen. Wie gut sind sie mittlerweile beim Erkennen von Hautkrebs? Wie hilfreich sind sie im Klinikalltag? Und wo liegen ihre Grenzen?
Die KI ordnet Muttermale und andere Hautveränderungen.
Eine der großen Stärken von künstlicher Intelligenz ist es, Muster zu erkennen. Muttermale von schwarzem Hautkrebs zu unterscheiden, fällt ihr dementsprechend leicht. Melanome sind oft asymmetrisch, weniger einheitlich, größer, unscharf begrenzt und zeigen typische Veränderungen in der Mikroskopie. Sie können aus Muttermalen entstehen, meistens gehen sie aber von den pigmentbildenden Zellen der Haut aus, den Melanozyten. Je länger ein Melanom Zeit hat, zu wachsen, desto tiefer kann es in die Hautschichten vordringen – und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Metastasen in Lymph- oder Blutbahnen gelangen und in andere Körperteile vordringen. Wird schwarzer Hautkrebs hingegen früh erkannt, gilt die Patientin zu 99 Prozent als geheilt. Österreichweit erkranken jährlich mehr als 5000 Menschen an einem Melanom.
Mensch versus KI
Künstliche Intelligenz kann bei der Früherkennung enorm helfen – wenn sie mit ausreichend Daten gefüttert wird. Millionen Fotos von Melanomen, hinterlegt mit Diagnosen, Behandlung und Therapieergebnis, trainieren sie. Heraus kommen nicht selten Programme, die Ärztinnen und Ärzten durchaus Konkurrenz machen, wie mittlerweile viele Studien zeigten.
Sogar Handy-Apps sind überraschend treffsicher, wie eine Studie der MedUni Wien und des Sydney Melanoma Diagnostic Centre in Australien ergab. In den beiden Ambulanzen wurden 124 Patientinnen und Patienten mit 172 verdächtigen Hautveränderungen behandelt, davon stellten sich 84 als bösartig heraus. Im Anschluss wurden Fotos der 172 Muttermale und Melanome zwei verschiedenen Apps gezeigt und deren Diagnosen mit jenen von erfahrenen Dermatologinnen verglichen – und mit jenen von beruflichen Anfängern.
Das Ergebnis: Die Diagnosen der App mit der neueren KI waren den erfahrenen Ärzten ebenbürtig, den weniger geübten war sie signifikant überlegen. Die ältere KI unterlag den Erfahrenen, war aber immer noch besser als die Anfängerinnen. Aber: Bei den Behandlungsempfehlungen gewannen die Medizinerinnen aus Fleisch und Blut. „Die KI-Anwendung neigt hier tendenziell dazu, mehr gutartige Läsionen zu entfernen, als Expertinnen das tun würden. Wenn man das beachtet, ist die KI-Anwendung durchaus einsetzbar. Zu bedenken ist auch, dass bei unkritischem Einsatz zu viele falsch-positive Befunde abgeklärt werden müssten“, erklärt Studienautor Harald Kittler von der MedUni Wien. Die Apps zur Selbstkontrolle sind demnach brauchbar, ersetzen aber weder die Hautärztin noch einen detailreichen Ganzkörperscan.
„Der größte Vorteil des Scanners ist die objektive Information über den zeitlichen Verlauf einer Hautveränderung.“
Christoph Müller, Dermatologe
Ein unschlagbares Team
Die Dermatologinnen Isabelle Krakowski und Eleni Linos von der Stanford University in Kalifornien verglichen nicht Maschine mit Menschen, sondern wie gut mit KI-Systemen unterstützte Ärztinnen im Vergleich zu Ärzten ohne maschinelle Hilfe abschnitten. Sie durchforsteten dafür 67.700 Diagnosen aus zwölf Studien. Fazit: Mensch und Maschine erwiesen sich als unschlagbares Team. Sie diagnostizierten 81,1 Prozent der Melanome richtig – und erkannten 86,1 Prozent der verdächtig aussehenden Hautveränderungen korrekt als ungefährlich.
Im Vergleich dazu schnitten Mediziner ohne KI-Unterstützung etwas schlechter ab. Sie erkannten Hautkrebs zu 75 Prozent und harmlose Läsionen zu 81,5 Prozent. Logischerweise profitierten die am wenigsten Geübten, darunter Medizinstudentinnen und Allgemeinmediziner, am meisten von der maschinellen Hilfe. „Was mich überraschte: Auch sehr erfahrene Ärztinnen konnten ihre Diagnose noch verbessern. Bald werden Patienten KI nicht nur akzeptieren, sondern einfordern, weil sie die beste Behandlung haben wollen“, sagt Studienautorin Eleni Linos.
Diese Erfahrung macht auch Christoph Müller mit dem Ganzkörperscanner im AKH. Prinzipiell ist die Untersuchung für Personen mit einem hohen Risiko gedacht, die von Fachärzten zugewiesen werden. Darunter fallen Menschen mit einer hohen Anzahl von Muttermalen, insbesondere mit vielen atypischen Malen, Personen, die schon einmal schwarzen Hautkrebs hatten, und solche, die Fälle in der Familie und dadurch ein erhöhtes Risiko haben. Grundsätzlich gilt zu viel UV-Strahlung als Risikofaktor Nummer eins für Hautkrebs, hellere Hauttypen sind besonders gefährdet.
Der Avatar in 3D
Müller sitzt vor dem Bildschirm, links dreht sich der Avatar eines Patienten in blauer Unterhose, rechts reiht die KI dessen Muttermale und andere Hautveränderungen im Zeitverlauf auf. Wenn ein Muttermal seit dem letzten Scan – in der Regel kommen die Patientinnen einmal im Jahr – größer geworden ist, leuchtet der Zuwachs blau; ist ein Mal geschrumpft, wird es gelb markiert. Früher dachte man, dass ältere Menschen gar keine neuen Muttermale mehr bekommen. „Das erwies sich als falsch. Wir entdecken auch bei 80-Jährigen noch neue Male“, sagt Müller.
Er klickt sich durch die braunen Tupfen, die für Laien alle ziemlich ähnlich aussehen. Fällt ihm etwas Verdächtiges auf, macht er mit einem Handgerät eine weitere Aufnahme, die sich bis zu 200-fach vergrößern lässt. Zuerst gibt er selbst eine Schätzung ab, dann befragt er die KI. Sie ist allerdings noch nicht zugelassen, sondern wird aktuell zu Forschungszwecken untersucht. In diesem Fall sind sich Arzt und Maschine einig: Müller schließt ein Melanom zu 90 Prozent aus, die KI zu 80 Prozent.
Wie oft kommt es vor, dass die KI zu einem anderen Ergebnis kommt als er selbst? „Selten. Wenn ich selbst unsicher bin, ist es die künstliche Intelligenz meistens auch“, sagt Müller. Dann gilt: Im Zweifel lieber rausnehmen – oder in einem kurzen Zeitabschnitt noch einmal kontrollieren.
Die Heilungschancen bei schwarzem Hautkrebs
Das Ziel ist immer, Melanome möglichst früh zu erkennen. Was aber, wenn sich der Krebs schon in tiefere Hautschichten vorgefressen hat? Vor knapp 20 Jahren noch war das fatal. Gerade einmal fünf Prozent der Erkrankten überlebten ein fortgeschrittenes Melanom; Chemotherapien halfen nichts, die Diagnose kam einem Todesurteil gleich. Doch dann entdeckten der US-Forscher James P. Allison und der japanische Immunologe Tasuku Honjo, dass bei manchen Krebsarten bestimmte Proteine das Immunsystem ausbremsen. „Sie legten damit den Grundstein für die Immuntherapie, wie wir sie heute kennen“, erklärt die Melanomforscherin Shweta Tikoo von der MedUni Wien. Monoklonale Antikörper hemmen hierbei die besagten Proteine und entfesseln damit die körpereigenen Abwehrzellen, die sich dann auf die Krebszellen stürzen. Allison und Honjo bekamen dafür 2018 den Nobelpreis für Medizin.
Je länger ein Melanom wachsen kann, desto dicker und gefährlicher wird es.
Am anderen Ende der Welt erkannten eine junge Pathologin und ihr Kollege das Potenzial der Entdeckung. Am Melanoma Institute in Sydney begannen Georgina Long und Richard Scolyer, reihenweise Patienten zu rekrutieren; eine klinische Studie jagte die nächste. Die Vorgehensweise: Man lässt den Tumor etwa sechs Wochen unoperiert im Körper, um das Immunsystem auf die Krebszellen anzusetzen. „Das ist, wie wenn man einen Spürhund trainiert. Er muss auch die Fährte aufnehmen“, erklärt Georgina Long. Die Überlebensrate schnellte von fünf auf 55 Prozent. Gegen den unbesiegbaren schwarzen Hautkrebs war endlich ein Mittel gefunden. Heute ist die Immuntherapie weltweit der Goldstandard bei der Behandlung von Melanomen. Oder, in Georgina Longs Worten: „Wir erlebten einen Penicillin-Moment.“
Weißer Hautkrebs
Der weiße Hautkrebs ist in der Regel weniger gefährlich, aber häufiger als der schwarze. 30.000 Männer und Frauen erkranken jährlich neu in Österreich; Basalzellkarzinome sind mit etwa 80 Prozent die häufigsten Vertreter des weißen Hautkrebses. Die zumeist hautfarbenen bis rötlichen, knotigen Tumore findet man oft dort, wo die Haut zu viel der Sonne ausgesetzt war: an Gesicht, Ohren, Hals, Nacken, Händen und Armen. Fortgeschrittene Basalzellkarzinome neigen zur Bildung von Geschwüren, die durch Nässen und kleinere Blutungen auffallen. Sie wachsen zwar langsam, aber unaufhaltsam, und zerstören dabei benachbartes Gewebe; Metastasen bilden sie in der Regel nicht. Doch auch beim weißen Hautkrebs gilt: Je früher man ihn entdeckt, desto schneller kann man ihn entfernen – und desto höher die Heilungschancen. Auch hier ist die KI äußerst hilfreich. Im Schnitt erkennt sie weißen Hautkrebs mit einer Genauigkeit von 87 Prozent, wie eine Übersichtsanalyse von 44 Studien ergab, die zwischen 2018 und 2023 entstanden.
Die Grenzen der KI
Je größer die Datenmenge, desto besser ist die KI. Wenig treffsicher ist sie allerdings bei seltenen Hauttumoren, wie zum Beispiel amelanotischen Melanomen. Diese unpigmentierten Melanome können rötlich, rosa, violett, von normaler Hautfarbe oder klar und farblos sein. Das Problem: Von diesen seltenen Tumoren gibt es weniger Daten zum Trainieren der KI. „Hier lernen Menschen deutlich schneller, sie brauchen weniger Beispiele, um Muster zu erkennen“, sagt Christoph Müller.
Was ist der größte Vorteil des Ganzkörperscanners im klinischen Alltag? „Eindeutig die objektive Information über den zeitlichen Verlauf einer Hautveränderung“, sagt Christoph Müller. Der Scanner steht seit August 2021 im AKH Wien, von manchen Patientinnen gibt es demnach schon mindestens drei 3D-Aufnahmen. In der normalen Hautarztpraxis ist es hingegen unmöglich, jede kleinste Veränderung am Körper zu dokumentieren. „Die meisten Melanome entstehen aus einem winzigen Punkt“, sagt Müller. Besonders freut es ihn, wenn er mithilfe des Scanners Hautveränderungen entdeckt, die mit der herkömmlichen Untersuchung noch nicht diagnostizierbar gewesen wären. Im besten Fall bestätigt die histologische Untersuchung dann ein „Melanoma in situ“, also ein Frühstadium des Hautkrebses, der vollständig entfernt wurde.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.