Heilige Erde: Seltenes Bakterium in Grab entdeckt

In einem Grab in Nordirland entdeckte ein Forscher ein seltenes Bakterium, das eines der drängendsten Probleme der Medizin lösen könnte.

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Text und Fotos: Fabian Federl

Nach meinem Tode wird der Lehm, der mich bedeckt, alles heilen, was ich zu heilen vermochte, als ich unter euch weilte.“ Das waren die letzten Worte des katholischen Pfarrers und Wunderheilers James McGirr, als er 1815 in einem kleinen Dorf in Nordirland starb. Vielversprechende Zeilen, die ihre Wirkung unter den Gläubigen nicht verfehlten. 200 Jahre später haben Zehntausende Menschen die Erde von James McGirrs Grab in den Händen gehalten, sie zwischen den Fingern zerrieben, unter ihren Kopfkissen verteilt, in Amuletten aufbewahrt. So viele, dass der Friedhofswärter des Dorfes Boho ein Schild vor McGirrs Grab anbrachte mit der Bitte, man möge doch die Erde, wenn man sie sich schon ausleihe, auch wieder zurückbringen.

Pilgerstätten wie diese gibt es viele, und meistens sind die versprochenen Wunder reine Legende. Nicht so allerdings bei James McGirrs Grab: Diese Erde heilt wirklich.

Entdeckt hat das der Mikrobiologe Gerry Quinn vor fünf Jahren durch einen Zufall: Quinns Labornachbarin an der Swansea University in Wales suchte nach Streptomyces. Diese Bakterien zählen zu den wichtigsten medizinischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Sie produzieren Wirkstoffe gegen Viren und Würmer und werden als potenzielle Waffe gegen Krebs und Alzheimer gehandelt. Vor allem aber sind sie eine wichtige Quelle für die Herstellung von Antibiotika. Fast 60 Prozent der heute erhältlichen Präparate werden aus Streptomyces gewonnen. Die Forschergruppe um Quinns Kollegin Luciana Terra suchte weltweit nach den seltenen Bodenbakterien und fand sie in der Wüste Gobi, in den Steppen von Xinjiang, den Salzseen Boliviens, den Gletschern von British Columbia und an den Ufern eines Sees in Sibirien. Als Quinn von einem Heimaturlaub in Boho erzählte, baten ihn die Kollegen, eine Bodenprobe mitzubringen.

Quinn sammelte Erde nicht weit vom Friedhof von Boho. Er testete sie im Labor und fand: Streptomyces. Ganze 20 Prozent der Kolonien erzeugten antibiotische Stoffe –  normalerweise rechnet man mit einem bis drei Prozent. Bei seinem nächsten Besuch traf Quinn seine Tante zum Kaffee. Sie erzählte ihm die Geschichte von Pfarrer McGirr.
Beim Treffen mit profil in der Ulster University breitet Biologe Quinn Petrischalen vor sich aus.

Er öffnet eine Schale und bittet, daran zu riechen. Der Gestank von alten Socken breitet sich aus. „MRSA“ steht auf der Schale, multiresistenter Staphylococcus aureus, das Bakterium, das vor allem Abszesse, aber auch Hirnhaut- und Lungenentzündungen verursacht. Es ist der in Spitälern gefürchtete, weltweit häufigste multiresistente Erreger. Der nächsten Dose entströmt der Duft von frischem Moos, Frühlingsregen, Torf und Erde. „Streptomyces“, sagt Quinn. Direkt aus Pfarrer McGirrs Grab.

In seinen Schalen lässt Quinn die Bakterien aus der Graberde sowie herkömmliche Antibiotika gegen MRSA und andere Keime kämpfen. Schnell zeigt sich: Die hartnäckigen Erreger haben das Penicillin, das Amoxicillin und die anderen Apotheken-Antibiotika überwuchert. Nur rund um die Streptomyces hat sich ein klarer Film gebildet, ein Schutzschild. Die Streptomyces aus der Erde von Pfarrer McGirrs Grab können die sechs häufigsten multiresistenten Keime besiegen. „Wir wissen nur, dass es wirkt“, sagt Quinn. „Welcher Stoff verantwortlich ist, ob er toxisch ist oder Nebenwirkungen hat, das wissen wir nicht.“ Er packt die Petrischalen in eine Plastiktasche. „Aber alles, was MRSA tötet, ist eine Entdeckung.“

Inmitten der Gräber des Friedhofs in Boho liegt eine in den Boden eingelassene Steinplatte. Darauf ein Kiesel, auf den jemand „Hope“ geschrieben hat, ein Kruzifix, ein Amulett des heiligen Christophorus, Schutzpatron der Reisenden. Am Kopfende der Platte stapeln sich 23 Löffel, die Pilger zurückgelassen haben. Davor ist ein Loch im Boden, in dem vor Kurzem gegraben wurde. Seit von Quinns Entdeckung in den britischen Medien berichtet wurde, tauchen hier wochentags 50 Wallfahrer auf, am Wochenende 200. 

Antibiotika sind seit der Antike bekannt. Nubier und Ägypter nutzten bereits antibakterielle Schimmel, um Wundinfektionen oder Abszesse zu behandeln. Der entscheidende Sprung kam mit der Entdeckung des schottischen Arztes Alexander Fleming, der in einer Petrischale Staphylococcus aureus kultivierte, seine Materialien nicht richtig säuberte und in den Urlaub fuhr. Nach der Rückkehr stellte er fest: Ein Pilz, den er Penicillin nannte, hatte seine Bakterien getötet. Fleming wurde ein Star, bekam 1945 den Medizinnobelpreis – und Penicillin wurde das erste weltweit vermarktete Antibiotikum.

Penicillin wirkt aber nicht gegen sogenannte gramnegative Bakterien – schwerer zu bekämpfende, tödlichere Keime. E. coli ist gramnegativ, der Erreger der Cholera ebenfalls. Im Oktober 1943 entdeckten schließlich der russisch-amerikanische Forscher Selman Waksman und sein Doktorand Albert Schatz die antibiotischen Eigenschaften von Streptomyces. Sie entwickelten Streptomycin, das erste Antibiotikum, das gegen Cholera, Tuberkulose und die Ruhr wirkte – drei der tödlichsten Krankheiten der Zivilisationsgeschichte.

Doch auf jeden Fortschritt folgten Rückschläge. Schon kurz nachdem das Penicillin eingesetzt worden war, beobachtete Fleming, dass einige Bakterien Resistenzen entwickelten. Nach dem Einsatz von Ampicillin, dem zweiten Antibiotikum, geschah dasselbe. Fleming warnte vor multiresistenten Bakterien. Er plädierte dafür, Antibiotika zurückhaltend zu nutzen, Alternativen zu entwickeln und die Wirkstoffe abzuwechseln, um den Resistenzen immer einen Schritt voraus zu sein.

Bis in die 1980er-Jahre wurden neue Antibiotika entwickelt, danach kaum mehr. Laut dem amerikanischen Pew Research Center for Health gelten

88 Prozent aller Verschreibungen für 19 Antibiotika, und keines davon basiert auf einer rezenten Entdeckung. Das bedeutet vier Jahrzehnte, in denen die Erreger Resistenzen entwickeln konnten. Resistenzen gegen E. coli seien in einigen Regionen derart verbreitet, so die Weltgesundheitsorganisation, dass nur noch einer von zwei Menschen auf Antibiotika anspricht. Die WHO zählt jährlich 700.000 Todesfälle durch multiresistente Keime und schätzt, dass die Zahl bis 2050 auf jährlich zehn Millionen steigen wird.

Die Dringlichkeit des Problems lässt sich am Beispiel des Antibiotikums Colistin erkennen. Es wurde in den 1950er-Jahren entwickelt, aber kurz darauf wieder vom Markt genommen, weil es die Nieren schädigt. Es wirkt gegen Acinetobacter baumannii, einen multiresistenten Keim, der Meningitis und Lungenentzündungen verursacht. Nun prägte der Keim in den vergangenen Jahren so viele Resistenzen aus, dass Colistin wieder verwendet werden muss. Aus Mangel an Alternativen verabreichen Ärzte heute also ein veraltetes, nierentoxisches Mittel – und selbst das wirkt nicht immer.

Der Pharmakonzern Roche ist einer der wenigen auf der Welt, die noch aktiv an neuen Antibiotika forschen. Die meisten Hersteller sind ausgestiegen, weil es sich nicht lohnt. Ein neues Mittel zu entwickeln, kostet Milliarden, profitabel wird es im Schnitt erst nach 23 Jahren. „Antibiotika werden in der Regel kurzzeitig verabreicht und kosten oft nur so viel wie eine Packung Kaugummi“, sagt Christian Pawlu, Strategiechef bei der Novartis-Tochter Sandoz, dem weltweit führenden Hersteller von Antibiotika-Generika. Roche und Novartis haben mittlerweile mit anderen Pharmaunternehmen ein Entwicklungsprojekt gegründet, in dem Kosten und Expertise geteilt werden. „Wenn wir die Resistenzen nicht schnellstmöglich angehen, riskieren wir einen großen Rückschritt für die medizinische Versorgung in der Welt“, sagt Wolfgang Jessner, Leiter der Entwicklungsabteilung für Medikamente gegen Infektionskrankheiten bei Roche. Ziel sei es, bis 2030 zwei bis vier neue Antibiotika zu entwickeln.

Von Boho aus geht es über die irisch-irische Grenze bis zur „Holy Well“, wie sie die Einheimischen nennen. Über die „heilige Quelle“ neigt sich ein knorriger Baum, behangen mit Tüchern, Fotos, Bändern, Gebetsketten. Quinn steigt zur Quelle hinab, streicht mit den Fingern über den Baum, wühlt in den Tüchern. Er riecht an einem Brillenputztuch, packt seine Schere aus und schneidet ein Stück ab. Dasselbe macht er mit einem Marienbildnis und einer Socke.

Ein „rag tree“, sagt Quinn, sei eine irische Tradition. Ein Ort für nach Heilung Suchende, so wie das Grab von Pfarrer McGirr. Der Biologe packt die Proben in den Rucksack und löffelt noch eine Portion Schlamm aus dem Flussbett. Darin vermutet er hohe Konzentrationen von Streptomyces, mit vielen antibiotischen Stoffen. Die Kranken seien aus gutem Grund hergekommen, vermutet Quinn. Einige Beispiele aus der lokalen Volksheilkunde wurden bereits mit Streptomyces in Verbindung gebracht. In Brasilien, Jordanien, Russland und Chile fanden Forscher die Bakterien in Pflanzenheilmitteln. Der moosige Waldduft verrät sie. Deshalb schnüffelt Quinn an den Stofffetzen.

Grundsätzlich kommen Streptomyces fast überall vor – freilich in verschiedenen Arten und Konzentrationen. Der Boden in der nordirischen Region Fermanagh ist alkalisch, nass und nährstoffarm. Dennoch fand Quinn im Grab von Pfarrer McGirr mehr Streptomyces als
300 Meter weiter in der Erde eines Bauern. Für den Forscher ist das nur logisch: „Menschen, die diese heiligen Orte aufsuchen, berühren den Boden, graben darin, sie hängen Tücher auf oder waschen sich im Wasser“, sagt er. „Sie bringen neue Pathogene mit, an die sich die lokalen Streptomyces gewöhnen und gegen die sie neue Schutzmechanismen entwickeln.“ Die Volksheilkunde funktioniert, weil so viele sie nutzen.

Lange Zeit erkannten Forscher diese Verbindung nicht an, selbst wenn sie Proben nahmen. Denn als Mikrobiologe war man gewohnt, die perfekten Bedingungen zur Kultivierung der Bakterien zu schaffen. Quinn und seine Kollegen tun nun das Gegenteil: „Wenn es dem Bakterium gut geht, wozu sollte es Schutzmechanismen entwickeln? Wir setzen es unter Stress, lassen es hungern und frieren – und plötzlich sind die Ergebnisse völlig andere.“ Quinns Methode sorgte in Fachkreisen für Aufsehen. Nun kommt es auf die Bereitschaft von Pharmaunternehmen an, sich mit den Bakterien aus der Grabeserde zu befassen – auch wenn die Corona-Pandemie die Chancen darauf vorübergehend in den Hintergrund gedrängt hat.

Es gibt Tausende von Pilgerstätten wie jene von Pater McGirr, in allen Ländern, in allen Religionen. Heilige Orte versprachen Hilfe in einer Zeit, da nahezu jede Krankheit mit dem Tod enden konnte. „Legenden und Glaube geben Menschen Lebensmut“, sagt Quinn. „Medizin tut dasselbe.“