Higgs-Teilchen: Schöpfungs-Geschichten
Welch gigantischer Aufwand: Erst gruben sie einen ringförmigen Tunnel, 27 Kilometer lang und 100 Meter unter dem Erdboden verborgen. Dann installierten sie mehr als tausend supraleitende Magnete, gekühlt mit Tonnen von Helium und Flüssigstickstoff, und hetzten winzige Materie-partikel 11.000 Mal pro Sekunde durch die Röhre, bis diese fast so schnell rasten wie das Licht: mit 99,999995 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Schließlich zeichneten die Physiker am Genfer Kernforschungszentrum CERN mit hochpräzisen Detektoren auf, wie die im Kreis jagenden Protonen kollidierten und in einen noch feineren Teilchenschauer zerbarsten.
All dies zu einem einzigen Zweck: um aus Unmengen von Partikelsplittern ein einziges Teilchen herauszupicken, das niemals ein Mensch direkt zu Gesicht bekommen wird und das ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr war als ein in Mathematik gekleidetes Hirngespinst. Anfang Juli 2012 erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass das jahrelange Wühlen im Teilchenschrott von Erfolg gekrönt sei, und vor wenigen Wochen erhielten der Namenspatron des geheimnisvollen Materiebausteins, Peter Higgs (Bild), und sein Kollege François Englert den Physik-Nobelpreis.
Wer die Ankündigungen der Schweizer Forscher seit dem Vorjahr verfolgt hat oder erfuhr, wie sich am CERN schon in der Nacht vor öffentlichen Mitteilungen Warteschlangen bildeten und die Schar der Interessierten am Fußboden campierte, hätte denken können, es gehe um die Präsentation eines neuen Super-iPhone und nicht um spröde Teilchenphysik, von der selbst Experten wie Richard Feynman sagten: Niemand versteht die Quantentheorie. Niels Bohr, einer deren Begründer, meinte, man könne sich nicht mit dem Thema befassen, ohne schwindlig zu werden.
Was also erklärt den Hype? Hat man den Heiligen Gral der Materie entdeckt? Zuletzt stand regelmäßig zu lesen, das Higgs-Teilchen verleihe anderen Teilchen die Masse. Das ist zwar richtig, aber vermutlich noch nicht sonderlich erhellend. Populärwissenschaftlich orientierte Physiker vergleichen jenes Feld, welches die Higgs-Teilchen bilden, mit einer Art zähem Sirup, in dem Objekte gebremst und dadurch langsam und träge werden. Der Wiener Theoretische Physiker Heinz Oberhummer bevorzugt folgendes Bild: Man stelle sich die Bausteine der Materie als kleine, leere Gefäße vor, in welche dank Higgs Masse gefüllt werde in manche mehr, in andere weniger, und ins Photon, das Lichtteilchen, gar keine. Gäbe es das Higgs-Partikel nicht, würden auch wir Menschen Lichtstrahlen gleich völlig schwerelos durch die Gegend flitzen sofern wir überhaupt existierten, was allerdings praktisch ausgeschlossen ist.
Unser Wissensstand: knapp fünf Prozent
Kann man sich nun zurücklehnen und sagen, okay, Physik hätten wir mal durch? Leider nein. Schon vor rund 130 Jahren riet man Jugendlichen hochmütig von einem Physikstudium ab, weil es angeblich nichts Wesentliches mehr zu erforschen gäbe, und dann stolperte man über Kleinigkeiten wie Quanten- und Relativitätstheorie. Heute indes gilt: Mit dem Nachweis des Higgs-Teilchens sind exakt 4,9 Prozent der Welt erklärt, und zwar nur jener Welt, die sich momentan ansatzweise ausloten lässt. Denn was der Teilchenbeschleuniger am Cern, die kostspieligste Apparatur der Physikgeschichte, aufspürte, ist lediglich das letzte Glied des sogenannten Standardmodells: Dieses beschreibt die Bausteine der bekannten Materie und die darin wirkenden Kräfte, Betonung auf bekannt. Angesichts dieses Status quo der Erkenntnis könnten einen ebenfalls Schwindelgefühle befallen: der Planet, den wir bewohnen, alle Lebewesen darauf, die Menschen eingeschlossen, der grenzenlose Nachthimmel mit Sternen, deren Glanz Abertausende von Lichtjahren zu uns unterwegs ist all dies soll lediglich einen verschwindenden Prozentsatz einer viel größeren Realität repräsentieren?
Lesen Sie die Titelgeschichte von Alwin Schönberger in der aktuellen Printausgabe oder in der profil-iPad-App!