Hirnchirurg Marsh: "Ich will niemanden mehr umbringen"
INTERVIEW: FRANZISKA DZUGAN
profil: Wie fühlt es sich an, in ein menschliches Gehirn zu schneiden? Henry Marsh: Als ich es vor fast 35 Jahren das erste Mal gemacht habe, fühlte es sich sehr merkwürdig an. Das Gehirn hat die Konsistenz von Wackelpudding, weshalb ein kleiner Sauger mein wichtigstes Werkzeug ist. Mit ihm taste ich mich langsam durch die weiche Masse vor, wenn ich zum Beispiel auf der Suche nach einem Tumor bin. Die Vorstellung, dass ich mich in diesem Moment durch das Denken selbst bewege, ist schlicht zu seltsam, um nachvollziehbar zu sein. Dennoch weiß ich: Wenn ich mich in die falsche Region verirre, werde ich später im Aufwachraum einem schwer geschädigten oder behinderten Menschen gegenüberstehen.
profil: Wie erkennen Sie einen Tumor? Hat er eine andere Farbe, riecht er? Marsh: Das hängt vom Tumor ab. Manche verursachen unkontrolliertes Wachstum des Gehirns, weshalb sie sich nicht von der Hirnmasse unterscheiden. In einem solchen Fall operiere ich den Patienten, während er wach ist, unter örtlicher Betäubung. Ich stimuliere die Gehirnregionen mit einer Elektrode, während der Patient bis 100 zählt oder den Arm bewegt. Hört er auf zu zählen oder sich zu bewegen, weiß ich, dieses Areal ist dafür verantwortlich. Er wird es also noch brauchen. Manche Tumoren weichen farblich leicht vom gelblich-braunen Farbton des Gehirns ab und sind so erkennbar. Sie riechen aber nicht, das ist einer der großen Vorteile der Neurochirurgie gegenüber der Bauchchirurgie.
profil: Sind Sie heute noch nervös, wenn Sie den Operationssaal betreten? Marsh: Ein bisschen nervös bin ich immer. Hirnoperationen sind immer hochriskant. Fast jede Operation kann tödlich enden oder schwerste Behinderungen nach sich ziehen. Jetzt, so kurz vor meiner Pensionierung, bin ich fast wieder so nervös wie am Anfang meiner Karriere. Ich will in den letzten Wochen niemanden mehr umbringen!
profil: Können sich Menschen nach Operationen am Gehirn charakterlich verändern? Marsh: Das hängt von der Region ab, die beschädigt ist. Ich hatte kürzlich eine Patientin aus Frankreich, der ein großer Tumor von außen auf das Gehirn drückte. Sie ist nach seiner Entfernung genauso, wie sie vorher war. Aber wenn Tumoren im Gehirn sitzen, kann es vorkommen, dass sich der Umgang des Patienten mit anderen Menschen und seine moralischen Vorstellungen zum Schlechteren verändern.
Es stimmt, wir haben einen leichten Hang zur Arroganz. Der Grund dafür: Wir wissen, was wir machen, ist extrem gefährlich.
profil: Die Neurochirurgie hat sich während Ihrer Karriere enorm weiterentwickelt. Welcher technische Fortschritt hat Ihre Arbeit am meisten beeinflusst? Marsh: Früher haben wir Aneurysmen aufwendig operiert. Das sind kleine, ballonartige Ausbuchtungen der Hirnschlagadern, die lebensgefährliche Blutungen im Gehirn verursachen können. Wir haben eine mikroskopisch kleine Metallklammer um den Hals des Aneurysmas gelegt, um zu verhindern, dass es reißt. Eine sehr unsichere Operation, die wir mit dem Entschärfen von Bomben verglichen haben. Es konnte sehr leicht passieren, dass man das Aneurysma zum Platzen brachte, was meistens den Tod des Patienten bedeutete. Heute übernehmen Radiologen diese Behandlung. Sie führen einen Katheter in die Oberschenkelarterie ein, schieben sie bis zum Aneurysma vor und stopfen es von innen aus. Eine viel schonendere, ungefährlichere Behandlung. Neurochirurgische Eingriffe sind sehr grob im Vergleich zu der fantastischen Komplexität des Gehirns. Echter Fortschritt in der Neurochirurgie bedeutet, sie unnötig zu machen.
profil: Stimmt das Klischee aus Arztserien, wonach die Neurochirurgen immer die egozentrischsten im Krankenhaus sind? Marsh: Es stimmt, wir haben einen leichten Hang zur Arroganz. Der Grund dafür: Wir wissen, was wir machen, ist extrem gefährlich. Wir sind aber auch demütig, weil uns bewusst ist, dass wir viele Menschen getötet oder schwer geschädigt haben. Neurochirurgie ist nicht wie die Orthopädie, wo die meisten Operationen sicher sind und gutgehen.
profil: Was war die spannendste Operation Ihrer Karriere? Marsh: Da waren viele wirklich aufregende OPs. Erst kürzlich habe ich einen Patienten von einer anderen Klinik übernommen, wo man seinen sehr hartnäckigen, tief mit dem Gehirn verwachsenen Tumor nicht gänzlich entfernen konnte. Auch die Bestrahlung half nicht, der Tumor wuchs weiter. Ich habe der Behandlung nur widerwillig zugestimmt, weil ich der Meinung war, wenn es die Kollegen nicht schafften, kann ich es vielleicht auch nicht. Die Operation ging auch beinahe schief: Die Arterie, die den Hirnstamm versorgt, blutete stark. Normalerweise stirbt der Patient daran. Wir wissen nicht genau warum, aber der Mann blieb am Leben, und ich konnte den Tumor vollständig entfernen. Das war sehr erfreulich. Ich habe den Patienten heute gesehen. Er hat leichte Sehstörungen, aber sonst ist er wohlauf. Er kann sogar bald wieder arbeiten.
profil: In Ihrem Buch beschreiben Sie hauptsächlich fehlgeschlagene Operationen. Warum? Marsh: Wir lernen am meisten aus Fehlern. Der Erfolg lehrt uns nichts Neues. Meine Erzählungen wirken manchmal sehr pessimistisch und düster, weil mir meine Misserfolge stärker in Erinnerung geblieben sind als meine Erfolge. Das ist ein Dilemma: Es ist sehr wichtig in meinem Beruf, ehrlich zu sein. Dadurch muss ich mir aber selbst Vorwürfe machen, was wehtut. Wir alle wissen, dass viele Ärzte gut darin sind, den Patienten, der Krankheit oder sonst jemandem die Schuld zu geben statt sich selbst.
profil: Sie haben damit weniger Probleme. Sie haben sogar einmal einen Vortrag mit dem Titel "Meine größten Fehler“ gehalten. Wie hat das Publikum reagiert? Marsh: Die Briten schätzen meine direkte Ehrlichkeit. Dieser Vortrag fand allerdings vor Kollegen in Amerika statt. Sie waren weniger von meinen Fehlern irritiert, die sie ja aus der eigenen Praxis kennen, sondern davon, dass ich so offen darüber sprach. Sie arbeiten in einem kapitalistischen Gesundheitssystem, in dem sie immer befürchten müssen, verklagt zu werden oder ihre Arbeit zu verlieren. Viele von ihnen haben mein Buch gelesen und mir gratuliert.
profil: So wie Sie die Hirnchirurgie beschreiben, könnte man als Patient Angst bekommen. Marsh: Ja, aber das ist wichtig. Wenn wir Ärzte Patienten sind, haben wir keine Illusionen über die, die uns behandeln werden. Wir sind in einer besseren Position und können mitbestimmen, was gemacht werden soll und wer uns operiert. Ärzte haben meist zu große Macht über Patienten. Die Patienten müssen lernen, realistischer einzuschätzen, was Medizin leisten kann und was nicht. Wir leben in einer überbehandelten Gesellschaft. Aber mit 90 zu sterben anstatt mit 80, ist vielleicht gar kein so guter Deal. Wir müssen lernen, wann es Zeit ist zu sterben.
Was, wenn ich selbst einen Tumor im Gehirn hätte? Ich hoffe, dass ich Selbstmord begehen würde.
profil: Wenn Sie selbst einen Tumor im Gehirn hätten und nicht sicher wären, ob eine Operation helfen könnte, was würden Sie tun? Marsh: Das ist immer schwer zu sagen, wenn man nicht ernsthaft in der Situation steckt. Aber ich hoffe, dass ich Selbstmord begehen würde. In Großbritannien ist Sterbehilfe noch nicht erlaubt, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Ich halte Sterbehilfe für eine wichtige Errungenschaft einer zivilisierten Gesellschaft. Viele Menschen nehmen sie im Ernstfall nicht in Anspruch, es ist aber sehr wichtig, zu wissen, dass es möglich wäre.
profil: Kritiker sagen, Sterbehilfe berge die Gefahr, dass Verwandte oder Ärzte Druck auf den Sterbenden ausüben. Wie sehen Sie das? Marsh: Das ist Blödsinn. Sterbehilfe reduziert das Leiden unzähliger Kranker. Eine große Untersuchung in den Niederlanden, wo Sterbehilfe seit Jahren erlaubt ist, ergab Folgendes: Die Gründe dafür, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, waren Verlust der Würde und der Unabhängigkeit. Ein weiterer wichtiger Grund war, keine Bürde für andere sein zu wollen. Viele Kritiker fanden das schrecklich. Für mich klingt das sehr richtig. Wenn ich Demenz bekomme, möchte ich keine Last für meine Kinder sein. Im Leben geht es nicht immer nur darum, sich selbst glücklich zu machen, sondern auch Familie und Freunde.
profil: Stimmt es, dass das Gehirn schrumpft, wenn man älter wird? Marsh: Das stimmt. Es sieht dann aus wie eine Walnuss.
profil: Aber nicht ganz so klein, oder? Marsh: Es hängt davon ab, wie alt man ist und wie viel Alkohol man in seinem Leben getrunken hat. Alkohol lässt das Gehirn stark schrumpfen. Wir wissen aber nicht, ob der Alkohol direkt schuld ist oder die schlechte Ernährung von Alkoholikern. Auch Alzheimer lässt das Gehirn sehr schnell schrumpfen. Es hat nur noch 60 bis 70 Prozent der Größe des Hirns von jungen Menschen. Es ist also logisch, dass wir, wenn wir älter werden, langsamer und vergesslicher werden.
profil: Ihren Patientinnen bieten sie einen speziellen Service nach einer Hirnoperation. Marsh: Ich wasche ihnen die Haare und föhne sie, bevor sie in den Aufwachraum kommen. Es ist mir wichtig, dass kein Blut und keine Knochensplitter in ihren Haaren kleben. Ich bin mir sicher, dass sie sich dadurch schneller erholen. Vor 30 Jahren hat man vor Operationen den ganzen Kopf kahlgeschoren. Besonders für Frauen war das furchtbar. Heute versuchen wir, nur die unbedingt nötigen Stellen zu rasieren.
profil: Sie unterrichten junge Chirurgen. Wie schwer ist es, bei einer OP daneben zu stehen und zu wissen, Sie selbst könnten es eigentlich besser? Marsh: Das ist sehr schwer. Ich habe Verantwortung sowohl dem Patienten als auch den jungen Kollegen und deren künftigen Patienten gegenüber. Diese beiden Pflichten widersprechen einander. Aber es ist extrem wichtig, die Jungen an die Patienten zu lassen.
profil: Einer Ihrer jungen Assistenzärzte machte einmal einen gravierenden Fehler … Marsh: Er operierte einen jungen Mann wegen eines Bandscheibenvorfalls. Ich hatte an diesem Tag viel zu tun und sagte meinem Assistenzarzt, er solle ohne mich anfangen. Er hatte bereits viele Wirbelsäulenoperationen hinter sich und hätte im Prinzip die gesamte OP alleine machen können. Als ich dazustieß, sah ich eine acht Zentimeter lange Öffnung entlang der Lendenwirbelsäule - ein viel zu großer Schnitt! Ich griff nach der Pinzette, um die Wunde zu untersuchen, und zog eine glänzend weiße Faser hervor. Er hatte die Nervenwurzel durchtrennt. So ein grober Schnitzer war mir in meiner langjährigen Karriere noch nie untergekommen. Ich schleuderte die Pinzette durch den Operationssaal, schimpfte und hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen. Dann führte ich den an sich einfachen Eingriff zu Ende und erklärte meinem verschreckten Assistenten, dass der Patient, ein leidenschaftlicher Mountainbiker, sein Leben lang hinken würde. Mir war ganz schlecht, als ich dem jungen Mann sagen musste, dass die Nerven für sein linkes Sprunggelenk für immer geschädigt waren und er den Fuß wahrscheinlich nie mehr nach oben beugen können würde.
profil: Wer bezahlt für solche Kunstfehler? Marsh: Das hängt vom Rechtssystem ab. In Großbritannien ist es so: Wenn der Patient so schwer geschädigt ist, dass er sein Leben lang auf Hilfe angewiesen ist, kostet das die Versicherung eines Krankenhauses mehrere Millionen Euro. Leider gehen etwa 40 Prozent davon an die beteiligten Anwälte.
profil: Standen Sie schon einmal vor Gericht? Marsh: Nein. Meistens werden die Fälle im Vorfeld verglichen. Ich hatte einen großen Fall und drei oder vier kleinere. Ich habe mich immer schuldig bekannt, wenn ich einen Fehler begangen habe. Wenn etwas schiefgeht, ist es allerdings leicht, die Tatsachen zu verdrehen. Ich kenne mindestens einen sehr berühmten, inzwischen pensionierten Neurochirurgen, der mithilfe eines irreführenden Operationsberichts einen noch gröberen Schnitzer als jenen, den mein Assistenzarzt machte, an einem sehr prominenten Patienten vertuschte. Ich habe übrigens einen wahrheitsgemäßen Bericht über die misslungene OP meines Assistenten geschrieben.
profil: Die Eltern eines dreijährigen Buben drohten Ihnen, Sie wegen Fahrlässigkeit verklagen. Warum? Marsh: Ich hatte das Kind zwei Mal wegen eines bösartigen Tumors im zentralen Nervensystem operiert. Als der Tumor wieder nachwuchs, weigerte ich mich, erneut zu operieren, weil es mir zwecklos erschien. Es hätte das Leiden des Jungen nur verlängert. Die Eltern waren meiner Meinung nach unrealistisch und hassten mich dafür, dass ich ihnen das sagte. Sie fanden aber einen Chirurgen, der das Kind noch drei Mal operierte, bevor es starb. Zu einer Anklage kam es nie.
profil: Ihr Sohn hatte ebenfalls einen Hirntumor, als er noch ein Baby war. Sie hätten, auch als Vater, anders entschieden? Marsh: Ja. Der Tumor meines Sohnes konnte glücklicherweise entfernt werden, und er überlebte. Hätte er aber eine so schlechte Prognose gehabt wie dieses Kind, hätte ich ihn nicht länger mit chirurgischen Eingriffen gequält. Elternliebe ist so stark, dass sie manchmal irrational und egoistisch wird. Eltern können ihren Kindern damit großen Schaden zufügen.
profil: Wie lassen sich Fehler am OP-Tisch am besten vermeiden? Marsh: Das Wichtigste, das ich in meiner Laufbahn gelernt habe, ist, sich Zeit zu nehmen. Chirurgen glauben immer, sie müssen schnell und entschieden handeln. Aber Fehler begeht man nicht, weil man zittrige Hände hat, sondern weil man falsche Entscheidungen getroffen hat. Das versuche ich meinen Studenten zu vermitteln.
Ich finde es einerseits traurig, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Auf der anderen Seite: Gäbe es Himmel und Hölle, würde ich vielleicht in der Hölle landen.
profil: Als Sie sich einer Augenoperation unterziehen mussten, gingen Sie in ein privates Krankenhaus. Sie selbst arbeiten in einem öffentlichen Spital. Trauen Sie dem öffentlichen Gesundheitssystem nicht? Marsh: Doch, aber ich wollte ein eigenes Zimmer. In Großbritanniens öffentlichen Krankenhäusern liegt man mit mehreren Patienten Bett an Bett und kann keine Nacht durchschlafen. Es ist ein Albtraum. Alle meine Patienten leiden unter chronischem Schlafentzug. Auch die Architektur der öffentlichen Gebäude ist schrecklich, ähnlich wie im Wiener AKH. Schon wenn man es betritt, fühlt man sich total beklommen. Aber die Qualität der Behandlung ist in Londons großen öffentlichen Spitälern genauso gut wie in allen modernen Krankenhäusern.
profil: Glauben Sie an die Seele, an Gott? Marsh: Nein. Wenn man Menschen ansieht, deren Persönlichkeit sich stark verändert, weil sie Schäden im Gehirn haben, muss man akzeptieren, dass Denken und Fühlen physische Prozesse sind. Viele Menschen sagen, das hieße, wir wären wie Roboter oder Maschinen. Das stimmt nicht. Es heißt vielmehr, dass wir nicht wissen, wie aus elektrischer Chemie Gedanken und Emotionen entstehen. Ich finde es einerseits traurig, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Auf der anderen Seite: Gäbe es Himmel und Hölle, würde ich vielleicht in der Hölle landen.
profil: Was werden Sie in Ihrer Pension machen? Marsh: Am Tag meiner Pensionierung fliege ich in die Ukraine, um Menschen zu operieren, die sich Operationen sonst nicht leisten könnten. Danach fahre ich weiter nach Nepal. Ich will noch ein zweites Buch schreiben und weiterhin Möbel bauen, mein großes Hobby. Und ich hoffe auf weitere Enkelkinder - eines habe ich bereits.
Henry Marsh, 65,
studierte Wirtschaft, Politik und Philosophie in Oxford, bevor er sich für die Medizin entschied. Er arbeitet als Neurochirurg am St. George’s Hospital in London und steht kurz vor der Pensionierung. Seit Jahrzehnten operiert er zudem Patienten in der Ukraine, die sich ärztliche Hilfe sonst nicht leisten könnten. Mit seinem Buch "Do No Harm“ machte er 2014 in Großbritannien und den USA Furore: Kein Arzt hatte bis dahin so offen über fatale Fehler im Operationssaal geschrieben. Am 27. April 2015 erscheint das Buch auf Deutsch.
Henry Marsh: "Um Leben und Tod. Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern“, DVA, 352 Seiten, EUR 20,60