Hirnforscher Antonio Damasio: "Ein bisschen freier Wille bleibt"
Der portugiesische Neurowissenschafter Antonio Damasio ist einer der prominentesten Bewusstseins- und Emotionsforscher unserer Tage. Besonderes Aufsehen erregte sein Buch "Descartes' Irrtum" (1997), in dem er die Ansicht des französischen Philosophen, Geist und Körper seien strikt zu trennen, wissenschaftlich widerlegte.
Nach Damasio hängt die Vernunft von der Fähigkeit ab, Gefühle zu empfinden. Empfindungen sieht er als Wahrnehmungen der Körperlandschaft und den Körper selbst als Bezugssystem neuronaler Abläufe. Damasio definiert "somatische Marker": Körpersignale aus dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis, die Situationen als "positiv" oder "negativ" bewerten und so das Verhalten steuern. Der Forscher ist Professor für Neurologie und Psychologie sowie Direktor des "Brain and Creativity Institute" an der University of Southern California.
profil: Was löst Emotionen aus? Antonio Damasio: Jede Störung eines Gehirnsystems, das dazu dient, unsere Unversehrtheit zu schützen und uns zu einem Verhalten zu bewegen, das unserem Überleben dient. Angst, Wut, Freude, Mitgefühl, Bewunderung, Eifersucht, Verachtung, Neid. All dies sind Beispiele für emotionale Reaktionen.
profil: Was kommst zuerst: das körperliche Erleben, Gehirnaktivität oder Emotion? Damasio: Zuerst kommt die physische Sensation: ein Set von Bildern im Gehirn, das dann dort die Reaktion auslöst. Und diese wiederum ist das Verhalten, das wir Emotion nennen.
profil: Was genau geschieht im Gehirn, wenn eine Emotion ihren Lauf nimmt? Damasio: Die Bilder, die unseren Geist durchlaufen, haben die Chance, Schlüsselregionen des Gehirns zu aktivieren, von denen Emotionen organisiert werden. Es handelt sich dabei um einige Regionen im Gehirnstamm, in den Basalganglien und dem zerebralen Cortex.
profil: Sind mit bestimmten Emotionen jeweils auch bestimmte Gehirnareale verbunden? Damasio: Ja. Bei Angst antworten zum Beispiel bestimmte Regionen des Hirnstamms und das Telencephalon.
Emotionen zielen darauf ab, uns zu helfen, rasch auf bestimmte Arten von Situationen zu reagieren
profil: Sie trennen klar zwischen Emotionen und Gefühlen. Wie definieren Sie den Unterschied? Damasio: Emotionen sind Sammelaktionen. Sie sind die Veränderungen, die im Körper auftreten, wenn wir emotional sind. Gefühle sind die geistigen Erfahrungen, die wir durch diese Körperaktionen haben. Gefühle sind im Verstand und werden produziert von jenen Teilen des Gehirns, die unseren Geist ausmachen.
profil: Warum sind Emotionen lebenswichtig? Damasio: Emotionen zielen darauf ab, uns zu helfen, rasch auf bestimmte Arten von Situationen zu reagieren. Positiv, wie etwa im Fall von Freude, oder negativ wie im Fall von Angst. Sie helfen uns, unser Leben effizient zu führen, obwohl sie, wenn überschießend, das Denken und unsere Leistung auch stören können.
Temperamente sind unterschiedlich. Zum Glück sind wir nicht alle völlig gleich
profil: Hatten unsere Vorfahren dieselben Emotionen und Gefühle wie wir? Und gilt das auch für Tiere? Damasio: Die fundamentalen Emotionstypen waren sehr wahrscheinlich auch unseren Ahnen gegeben. Daraus folgt, dass dies auch für Gefühle gilt. Wir wissen heute, dass auch Tiere Emotionen haben, ebenso wie wir selbst. Das ist bei Säugetieren, Vögeln und auch anderen Arten ganz sicher so. Emotionen und Gefühle sind evolutionär bedingte alte Hilfsmittel, die uns dabei helfen, mit unserem Leben zurechtzukommen.
profil: Warum sind manche Menschen sehr emotional, andere aber gleichsam eiskalt? Damasio: Temperamente sind unterschiedlich. Zum Glück sind wir nicht alle völlig gleich. Sowohl physiologische Faktoren als auch der kulturelle Hintergrund spielen eine Rolle bei diesen Unterschieden.
Kultureller Hintergrund und Bildung haben großen Einfluss auf unsere emotionalen Reaktionen
profil: Erleben und zeigen alle Menschen dieselben Emotionen und Gefühle, allerdings vielleicht mit unterschiedlicher Intensität? Damasio: Jeder normale Mensch hat die Möglichkeit, emotional zu reagieren. Aber menschliche Wesen sind Individuen. Jeder von uns hat unverkennbare Charakteristika und kann auf gleichartige Situationen nicht nur mit anderer Intensität, sondern auch auf andere Art reagieren.
profil: Beeinflussen Faktoren wie Alter, sozialer oder kultureller Hintergrund oder Ausbildung sowohl Emotionen als auch deren Auslöser sowie unsere Gefühle? Damasio: Kultureller Hintergrund und Bildung haben großen Einfluss auf unsere emotionalen Reaktionen und modulieren unsere Gefühle. Auch das Alter spielt eine Rolle, wenn auch vermutlich eine weniger große.
profil: Können Menschen ihre Emotionen bewusst beeinflussen? Damasio: Wir können natürlich versuchen, sie zu reduzieren und ihren Auswirkungen Willenskraft entgegenzusetzen. Außerdem können wir unsere Aufmerksamkeit auf die Bedingungen lenken, die für gewöhnlich Emotionen in uns auslösen, und diese Umstände vermeiden oder verringern.
Unsere Entscheidungen sind immer mehr oder weniger von unserem emotionalen Apparat und unseren Erfahrungen beeinflusst
profil: Der Emotionsforscher Paul Ekman definiert sieben Grundemotionen, die weltweit bei allen Menschen auftreten und dieselben äußeren Anzeichen zeigen. Stimmen Sie dieser These zu? Damasio: Im Allgemeinen ja. Aber es gibt meiner Ansicht nach mehr als sieben Emotionen, die in vielen Kulturen sehr verbreitet sind, obwohl nicht notwendigerweise in allen.
profil: Können wir überhaupt völlig emotionslos Entscheidungen treffen? Anders gesagt: Haben wir überhaupt einen freien Willen? Damasio: Unsere Entscheidungen sind immer mehr oder weniger von unserem emotionalen Apparat und unseren Erfahrungen beeinflusst. Aber weil wir unsere eigenen Emotionen bis zu einem gewissen Grad anlernen können, verfügen wir doch über ein wenig freien Willen in unseren Entscheidungen.
profil: Woran arbeiten Sie derzeit? Damasio: Ich bin dabei, ein neues Buch fertigzustellen, das sich mit Gehirn, Geist und Kulturen befasst. Emotionen und Gefühle spielen darin eine wichtige Rolle. Eine relativ aktuelle Publikation unserer Gruppe*) und viele neue Entwicklungen in diesem Gebiet werden in diesem Buch ausgeführt.
*) Damasio, A., & Carvalho, G.B.: "The nature of feelings: evolutionary and neurobiological origins." Nature Reviews Neuroscience, 2013.