Hirnforscherin Catherine Dulac: „Geschlechtsidentität ist komplexer als erwartet“
Von Franziska Dzugan
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Ihre Forschung an Mäusen hat alles, was man bis dato über Pheromone wusste, völlig umgekrempelt. Wie haben Sie das geschafft?
Dulac
In den frühen 1990er-Jahren beschäftigten sich sehr viele Forschende mit Pheromonen und dem vomeronasalen Organ, mit dem viele Wirbeltiere die speziellen Duftstoffe ihrer Artgenossen aufnehmen. Ich entdeckte zunächst die zugehörigen Rezeptoren im olfaktorischen System von Mäusen.
Danach entfernten Sie männlichen Mäusen mittels Gentechnik jenen Ionengang, der bei der Verarbeitung von Pheromonen im Gehirn eine zentrale Rolle spielt. Diese Mäuse konnten dadurch keine Pheromone mehr wahrnehmen. Was passierte dann?
Dulac
Ich hatte erwartet, dass sich die Mäuse nicht mehr paaren. Denn bis dahin hatte man angenommen, dass sich Mäuse durch die Pheromone anziehend finden und Sex haben. Doch die Mäuse paarten sich, als sei nichts geschehen. Ich war total verwundert und startete weitere Experimente. Eine andere Wirkung, die man Pheromonen zuschrieb, war die Aggression gegenüber männlichen Kontrahenten. Also setzte ich meine manipulierten Mäuse zu anderen Männchen. Sie griffen sie nicht an wie üblich, sondern versuchten, die anderen Männchen zu besteigen. Wieder war ich baff. Mein Verdacht: Vielleicht konnten die veränderten Männchen ohne Pheromone die Geschlechter nicht auseinanderhalten. Tatsächlich war es so. Als ich den Männchen beide Geschlechter ins Gehege setzte, versuchten sie sich mit allen zu paaren, ohne zu unterscheiden.
Haben Sie auch Weibchen manipuliert?
Dulac
Ja, auch sie haben uns überrascht. Sie verhielten sich ähnlich wie Männchen: Sie wollten sich mit beiden Geschlechtern paaren und konnten ihre eigene Geschlechtsidentität nicht richtig wahrnehmen.
Wofür sind Pheromone also wirklich da?
Dulac
Sie triggern nicht die Paarung, sie geben Informationen über die Geschlechtsidentität.
In vielen Lehrbüchern steht aber doch, dass es männliche und weibliche Gehirne gibt – das Sexualverhalten also zum Großteil angeboren und schon im Gehirn festgelegt ist.
Dulac
Diese Idee stammt von Experimenten von Endokrinologen. Sie beobachteten, dass junge Wirbeltier-Männchen um die Zeit der Geburt einen hohen Testosteronspiegel aufweisen, wodurch man annahm, dass sich ihr Gehirn vermännlicht. In der Pubertät aktivierten dann angeblich rein männliche Schaltkreise ein typisch männliches Verhalten.
Und wie entsteht dieser Theorie zufolge das weibliche Gehirn?
Dulac
Da bei der Geburt kein Testosteron ausgeschüttet wird, entwickelt sich das weibliche Gehirn anders. In der Pubertät aktivieren die Sexualhormone die für Frauen spezifischen Verhaltenschaltkreise, um das sexuelle Verhalten von Frauen zu steuern.
Wie genau widersprechen dem Ihre Experimente?
Dulac
Unseren Erkenntnissen nach gibt es keine männlichen oder weiblichen Verhaltensschaltkreise. Weibchen sind absolut fähig, männliches Verhalten zu zeigen – solange sie nicht der Kontrolle von Pheromonen und dem vomeronasalen Organ unterliegen. Wir stellten also folgende Theorie auf: Beide Geschlechter haben weibliche und männliche Schaltkreise im Gehirn, und das vomeronasale Organ unterdrückt entweder den einen oder den anderen, je nach der Geschlechtsidentität des Tiers.
Konnten Sie Ihre Theorie auch bei Männchen nachweisen?
Dulac
Wir suchten uns dafür eine sehr feminine Eigenschaft: mütterliches Verhalten. Setzt man einem Weibchen fremde Jungtiere ins Gehege, macht es sofort ein Nest und kümmert sich um sie. Männliche Mäuse hingegen attackieren fremden Nachwuchs. Was würde passieren, wenn wir den mutierten Männchen ohne Rezeptoren für Pheromone Babys zeigen würden? Es war so sensationell wie rührend: Sie reagierten wie Weibchen und begannen, ein Nest zu bauen.
Welchen evolutionären Vorteil hat ein Gehirn für beide Geschlechter?
Dulac
Ich habe dazu zwei komplementäre Hypothesen. Erstens: Ein Gehirn ist sehr komplex, deshalb ist es einfacher, während der Entwicklung nur eines zu bauen und mittels kleiner Schalter zu modifizieren. Zweitens: Ein Gehirn gibt einer Spezies große Flexibilität im Verhalten. Gehen wir weg von den Mäusen: Es gibt Arten, bei denen sich die Weibchen um den Nachwuchs kümmern, bei anderen Arten kümmern sich die Männchen, bei wieder anderen ziehen beide Geschlechter die Jungen groß. Evolutionär gesehen ist es schlau, ein Gehirn zu haben und je nach Umwelt und genetischer Ausstattung das Verhalten der Geschlechter anzupassen.
Wie haben die Kolleginnen und Kollegen auf diese revolutionäre Idee reagiert?
Dulac
Anfangs nicht sehr gut. Meine Ergebnisse hinterfragten immerhin ein sehr altes Dogma. Prominente Endokrinologen schrieben mir, sie würden mir gerne beibringen, wie man Verhaltensexperimente richtig macht. Aber dann gab es immer mehr Studien mit anderen Tierarten, die Beweise wurden erdrückend. Auf einmal hieß es: Das ergibt absolut Sinn.
© KRIS SNIBBE / AFP / picturedesk.com/APA/AFP/KRIS SNIBBE/Harvard University
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"Wenn vierjährige Kinder sich im falschen Körper fühlen, hat das wenig mit sexuellem Verhalten zu tun, sondern mit einer tief empfundenen Geschlechtsidentität.
Kann man die Idee von einem Gehirn für beide Geschlechter auch auf den Menschen übertragen?
Dulac
Dazu muss ich Ihnen eine Anekdote erzählen. Nachdem ich an der Harvard Medical School einen Vortrag gehalten hatte, kam der neue Leiter der Transgender Klinik zu mir. Er erzählte mir, wie sehr meine Ergebnisse zu seinen Erfahrungen passten. Zu ihm kamen nicht, wie man vermuten könnte, zum Großteil Teenager, die Probleme mit ihrem Geschlecht hatten – nein, es kamen hauptsächlich Eltern mit ihren drei- oder vierjährigen Kindern. Die Kleinen konnten kaum sprechen, sagten aber bereits: „Ich weiß, ich bin kein Junge“, oder umgekehrt. In diesem Alter hat das wenig mit sexuellem Verhalten zu tun, sondern vielmehr mit einer tief empfundenen Geschlechtsidentität.
Sie vermuten also, dass es beim Menschen ähnlich ist wie bei Tieren?
Dulac
Das kann ich nicht sagen. Meine Daten gelten ausschließlich für Mäuse. Aber sie passen vielleicht gut zu Phänomenen, die wir von Menschen kennen. Darauf werde ich von Neurowissenschafterinnen und Endokrinologen heute immer wieder angesprochen. Es ergibt ja auch Sinn: Wenn man das Gehirn als komplexe Struktur sieht, die sowohl männliches als auch weibliches Verhalten potenziell ermöglicht, dann könnte es eine Grundlage für die Geschlechtsidentität bieten, die komplexer ist als erwartet.
Welche Rolle spielen Pheromone bei Menschen?
Dulac
Jede Spezies hat ihre bevorzugten Sinne. Öffnet man den Schädel einer Maus, sieht man, dass ein Drittel ihres Gehirns für die Geruchsverarbeitung zuständig ist. Bei Menschen und Primaten nimmt hingegen der Sehsinn ein Drittel ein. Der Geruchssinn spielt beim Menschen zwar durchaus eine Rolle, etwa bei der Erinnerung, aber im sozialen Verhalten sind Berührung, Sehsinn und Gehör viel wichtiger. Außerdem existiert das vomeronasale Organ, mit dem Pheromone hauptsächlich wahrgenommen werden, bei Menschen und Primaten nicht mehr.
Dennoch wurde immer wieder vermutet, dass Menschen Pheromone unbewusst wahrnehmen und so ihre Partner wählen könnten.
Dulac
Wir haben bei Mäusen festgestellt, dass spezifische Geruchsrezeptoren auch auf Pheromone ansprechen. Das könnte natürlich auch beim Menschen der Fall sein. Aber: Die Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen sind höchstwahrscheinlich sehr gering.
Aber es gab Experimente, bei denen angenommen wurde, das vomeronasale Organ gäbe es beim Menschen doch. Lag man damit falsch?
Dulac
Das war in den späten 1980er-Jahren, und ja, das ist falsch. Die Wissenschafter besprühten damals Versuchspersonen mit angeblichen Pheromonen und schickten sie in ein gestelltes Vorstellungsgespräch. Das Ergebnis: Jene, die sich vorab eingesprüht hatten, schnitten weit besser ab als die Kontrollgruppe. Mit der Studie gab es allerdings zwei Probleme. Erstens hatten Wissenschafter nebenbei ein Unternehmen zum Vertrieb von Pheromonen gegründet. Das ist ein klarer Interessenkonflikt. Zweitens hatten sie hoch dosierte Steroide, also Testosteron und Östrogen, verwendet. Aufgeflogen war alles, weil immer mehr ihrer Mitarbeiter Krebs entwickelten – eine Folge der Steroide, mit denen sie hantierten.
Sie haben schon vor der Pandemie begonnen, soziale Isolation zu erforschen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Dulac
Auf einer Konferenz traf ich einen Kollegen, der mit Ratten experimentierte. Tiere, die er von ihren Artgenossen getrennt hatte, bekamen enorme gesundheitliche Probleme: Krebs, Herz-Kreislauf-Probleme, Schlafstörungen und so weiter. Bei Menschen ist das übrigens ähnlich. Der Oberste Sanitätsrat der USA veröffentlichte 2023 schockierende Zahlen. Demnach reduziert soziale Isolation die Lebenserwartung im gleichen Maß wie 15 Zigaretten täglich. Das ist unfassbar.
Sie haben herausgefunden, dass es ein körperliches Bedürfnis nach Nähe gibt, ähnlich wie bei Hunger oder Durst. Ist das nicht übertrieben?
Dulac
Bei Mäusen auf keinen Fall. Es ist ähnlich, wie wenn sie zu lange keine Nahrung oder kein Wasser bekommen haben: Sie essen und trinken umso mehr. Je länger wir unsere Mäuse allein in einem Käfig ließen, desto mehr Nähe suchten sie, als sie zurück bei den anderen waren. Das Gehirn hat erwiesenermaßen einen Zähler für Nahrung, Schlaf und Wasser. Unsere Experimente zeigen, dass es wohl auch einen Zähler für Nähe gibt. Soziale Interaktion ist ein essenzielles Bedürfnis.
Während der Pandemie gab es aber doch Menschen, die das Alleinsein geradezu genossen haben. Wie erklären Sie sich das?
Dulac
Die Unterschiede zwischen Menschen sind natürlich groß – das haben wir auch bei den Mäusen gesehen. Die meisten waren extrem alarmiert durch die Einsamkeit, aber einige wenige waren da völlig unempfindlich. Wir vermuten, dass es dafür genetische Gründe gibt und wollen da noch weiter forschen.
Catherine Dulac
In Fachkreisen wurde die gebürtige Französin bereits als junge Forscherin bekannt, als sie im Labor des Nobelpreisträgers Richard Axel an der Columbia University die Wirkung von Pheromonen völlig neu dachte – und an Mäusen bewies. An der Harvard University erschütterte sie ein jahrzehntealtes Dogma, wonach es ein männliches und ein weibliches Gehirn geben würde. Vielmehr besitzen Mäuse und viele andere Säugetiere ein mit männlichen und weiblichen Schaltkreisen ausgestattetes Gehirn, von denen je nach Geschlecht der eine oder andere Schaltkreis ausgeknipst wird.
Vortrag in Klosterneuburg
Am 30. September wird Catherine Dulac ihre neuesten Forschungsergebnisse am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg vorstellen. Titel des Vortrags: „Neurobiology of Sickness and Social Behavior“. Anmeldung hier.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.