Neurologe John Dylan Haynes
Interview

Hirnforschung: „Wir sind nicht Sklaven unseres Gehirns“

Kann man Gedanken lesen? Hat der Mensch einen freien Willen? Weshalb ist die Seele ein Teil des Gehirns? Neurowissenschafter John-Dylan Haynes hat die Antworten.

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Von Till Hein     
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Nehmen wir an, ich denke im Moment gar nicht an unser Interview über Gehirnforschung, sondern an ein Schnitzel. Könnten Sie das erkennen?
Haynes
Grundsätzlich ja. Jeder Gedanke, den wir haben, hat im Gehirn eine unverwechselbare Signatur. Vor knapp 20 Jahren haben wir mit Kollegen begonnen, uns mit diesem Phänomen zu befassen.
Und inzwischen können Sie tatsächlich Gedanken lesen?
Haynes
So weit würde ich nicht gehen. Lesen können wir sie noch nicht im eigentlichen Sinne, wir müssen sie mühsam dechiffrieren.
Was erkennen Sie bereits?
Haynes
Mein Team hier an der Charité in Berlin kann zum Beispiel die Aktivierungsmuster im Gehirn unterscheiden, die Begriffe wie „Hund“, „Bohrmaschine“ oder „Klavier“ codieren. Und auch diejenigen von „Berner Sennenhund“ und „Bernhardiner“. Letzteres ist allerdings etwas schwieriger.

Mithilfe von Hirnstrommessungen wollten Versicherungen zum Beispiel Depressionen sichtbar machen.

Womit finden Sie so etwas heraus?
Haynes
In der Regel nutzen wir bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie, welche die Prozesse im Gehirn unter der Schädeldecke sichtbar machen und anzeigen, in welchen Bereichen das Hirn besonders aktiv ist.
Was bedeutet „aktiv“ im Gehirn?
Haynes
In unseren roten Blutkörperchen wird Sauerstoff gebunden und über die Adern bis ins Gehirn transportiert, wo er ins Gewebe diffundiert. Denn wenn Nervenzellen arbeiten, verbrauchen sie Sauerstoff aus dem Blut. Wo im Gehirn also gerade viel Aktivität ist, diffundiert besonders viel Sauerstoff ins Gewebe.
Und allein das lässt Rückschlüsse auf die Gedanken zu?
Haynes
Ja. Verblüffend, nicht wahr?
Absolut. Wie geht man beim Dechiffrieren vor?
Haynes
Erst einmal sehe ich mir als Forscher mein eigenes Gehirn an. Ich lege mich in einen Kernspintomographen und betrachte, während mein Hirnstoffwechsel aufgezeichnet wird, zum Beispiel viele Fotos von Hunden, Katzen und Mäusen. Nach einer Weile kann der Computer drei unterschiedliche grobe Aktivitätsmuster herausrechnen: eines für „Katze“, eines für „Hund“ und eines für „Maus“. Und lege ich mich später wieder in den Kernspin, lässt sich auf Basis der gelernten Muster erschließen, an welches der drei Tiere ich gerade denke.
Wie verlässlich ist solches Gedankenlesen?
Haynes
Bei Tieren, die sich äußerlich stark unterscheiden, können wir das jeweilige Muster mit einer Sicherheit von rund 80 Prozent richtig zuordnen. Betrifft die Unterscheidung verschiedene Kategorien wie bei „Bohrmaschine“, „Hund“ und „Klavier“, liegt die Sicherheit sogar bei fast 90 Prozent.
Ich persönlich kann mit Hunden wenig anfangen. Andere Menschen lieben diese Tiere. Hat das keinen Einfluss auf die Codierung?
Haynes
Doch. Die Aktivierungsmuster ähneln einander von Mensch zu Mensch, aber die individuellen Unterschiede können schon recht groß sein. Bei „Hund“ denkt jemand vielleicht an den treuen Familienhund und eine andere Person an einen Kettenhund, der sie vor Jahren gebissen hat.
Sind die Ähnlichkeiten bei meiner und Ihrer „Hund“-Aktivierung dennoch groß genug, dass Sie sagen können: Das muss bei Till Hein auch Hund bedeuten und nicht zum Beispiel „Bohrmaschine“?
Haynes:
Stammen die Dinge aus unterschiedlichen Kategorien, beträgt die Treffsicherheit der Zuordnung interpersonell noch immer bis zu 80 Prozent. Geht es dagegen zum Beispiel ausschließlich um Hunde, wird es schwieriger. Bei „Berner Sennenhund“ und „Bernhardiner“ liegt die Sicherheit nur noch bei 60 bis 70 Prozent. Oder wenn man, sagen wir, Raclette vergleicht mit … Wie heißt das andere noch mal? 
Meinen Sie Fondue?
Haynes
 Nein, das mit Mangold. Capuns!
Sie kennen sich aber gut aus mit der Schweizer Küche.
Haynes
Ein bisschen. Meine Frau stammt aus Zürich. Wir sprechen zu Hause eine Mischung aus Hochdeutsch und Züritüütsch, wobei meine Aussprache, fürchte ich, nicht sehr gut ist.
Im Kernspintomographen könnten Sie erkennen, ob ich gerade an Raclette oder Capuns denke?
Haynes
Darauf würde ich wetten. „Capuns“, „Raclette“ und „Fondue“ entsprechen mit Sicherheit spezifischen Aktivierungsmustern im Gehirn, wie eben auch „Hund“, „Katze“ oder „Maus“. Unsere Computersysteme werden immer besser darin, solche Muster zu unterscheiden. Wir arbeiten mit ähnlichen Algorithmen, wie sie andere Experten für die computergestützte Erkennung von Fingerabdrücken oder Gesichtern nutzen.
Was ist ein Gedanke überhaupt? Handelt es sich dabei immer um etwas Sprachliches?
Haynes
Gute Frage. Im Alltag werden Gedanken in der Tat meist so definiert. Wir Neurowissenschafter fassen den Begriff aber viel weiter. Auch Sinneserlebnisse gehören für uns dazu. Die Eindrücke auf einer Blumenwiese an einem sonnigen Tag etwa: das Licht, die Farben, die Gerüche und auch die Assoziationen dazu. Das ist ein sehr vielschichtiger Gesamteindruck, der sich schwer in Worte fassen lässt. Auch Emotionen sind daran beteiligt. Und all das ist in unserem Gehirn codiert.
Stimmt es, dass sogenannte Großmutterzellen dabei eine Rolle spielen?
Haynes
Nein. Der Kognitionsforscher Jerome Lettvin machte sich in 1960er-Jahren darüber lustig, dass manche Forschende glaubten, eine einzelne Nervenzelle im Gehirn könnte einen bestimmten Gedanken auslösen, zum Beispiel den an eine Oma. Auch Opazellen hat er scherzhaft vorgeschlagen. Heute ist klar erwiesen, dass Lettvin mit seinem Spott richtiglag: An jeglicher Codierung im Gehirn ist immer eine Vielzahl von Nervenzellen beteiligt.
Es gibt auch Schmerzzentren im Hirn: große Ansammlungen von Nervenzellen. Wenn diese nicht aktiv sind, eine Person aber dennoch über Schmerzen klagt, simuliert sie dann?
Haynes
Ein heikles Thema. Im Allgemeinen vertraue ich auf folgende Grundüberzeugung: Jeder Mensch ist der beste Experte für seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen. Aber jemand könnte sich auch täuschen oder uns etwas vortäuschen.
Stimmt es, dass eine Rückversicherung Sie gefragt hat, ob man mit bildgebenden Verfahren Simulanten erkennen kann, die psychische Erkrankungen nur vortäuschen?
Haynes
 Ja. Bei bestimmten Renten wird bekanntlich über sehr viel Geld entschieden. Und die Kolleginnen und Kollegen einer Rentenversicherung wollten gegen Betrug vorbeugen. Mithilfe von Hirnstrommessungen wollten sie zum Beispiel echte Depressionen sichtbar machen. Solche Untersuchungen der Prozesse im Gehirn sollten dann als zusätzliches Kriterium genutzt werden, neben Fragebogen und Gespräch, bei denen man leicht schummeln kann. Ich sollte die Methode wissenschaftlich begutachten.
Wie haben Sie reagiert?
Haynes:
Ich habe ganz klar abgeraten. Psychische Krankheiten wie Depressionen und die damit verbundenen Hirnprozesse sind hoch komplex. Es gibt dafür nicht einfach ein spezifisches Aktivierungsmuster im Gehirn.
Hätte man im Kernspin schon vor dem russischen Angriff erkennen können, dass Wladimir Putin die konkrete Absicht hat, einen Eroberungskrieg gegen die Ukraine zu führen?
Haynes
 Auch so weit sind wir noch lange nicht. Aber der Plan wird schon in seinem Gehirn gewesen sein.
Der IT-Konzern Facebook hat 2017 aber angekündigt: Wir werden bald Gedanken lesen!
Haynes
Das hat viele Menschen sehr beunruhigt und mich vor allem geärgert. Denn da wurden völlig überzogene Erwartungen geschürt. Diese Pressemitteilung von Facebook war es letztlich, die mich dazu gebracht hat, ein populärwissenschaftliches Buch übers Gedankenlesen zu schreiben. Wenn es um die Prozesse im Gehirn geht, wird einfach viel zu viel Unsinn behauptet. Facebook hat vor einigen Jahren auch angekündigt, man werde mithilfe einer neuen Computersoftware bald allein kraft der Gedanken Briefe diktieren, schneller als jeder Profi sie tippen könnte. Das ist fern jeder Realität. Aber es lässt sich prima Aufmerksamkeit schüren und mitunter auch viel Geld verdienen mit Gehirn-Hokuspokus. Auch das sogenannte Neuromarketing, bei dem Menschen unter der Bewusstseinsschwelle manipuliert werden sollen, ist hochgradig unseriös.
Neuromarketing scheint doch prima zu funktionieren. Sie kennen sicher das berühmte Experiment aus den 1950er-Jahren: Im Kino wurde für Sekundenbruchteile immer wieder der Slogan: „Esst Popcorn, trinkt Cola!“ eingeblendet – so kurz, dass die Zuschauer das nicht bewusst mitbekamen. Prompt konsumierten sie in der Pause aber viel mehr Popcorn und Cola als sonst.
Haynes
Ich muss Sie enttäuschen. Dieses Experiment hat so nie stattgefunden. Der Marketingexperte James Vicary hat den Mythos 1957 in die Welt gesetzt. Wenige Jahre später gab er selbst zu, dass es eine Erfindung war. In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten, Menschen mit Botschaften unterhalb ihrer Bewusstseinsschwelle zu beeinflussen, minimal.

Kann etwas wie eine Seele nach dem Tod weiterleben, also nach dem Ende des Stoffwechsels im Gehirn?

Man liest zum Beispiel oft von Duftstoffen, die uns in Geschäften unbewusst zum Kaufen anregen.
Haynes:
Das ist ein anderes Thema. Es gibt Reize, die – anders als die ominösen Werbeslogans von James Vicary – eben nicht unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen, im Alltag aber kaum bemerkt werden. Zum Beispiel auch heimeliges, warmes Licht in einem Supermarkt. Man fühlt sich wohl, entspannt sich und gibt mehr Geld aus als sonst. Wenn Sie aber jemand fragen würde, wie das Licht ist, könnten Sie dessen Farbe beschreiben und dass Sie es als angenehm empfinden. Der Reiz ist Ihrem Bewusstsein also zugänglich. Und Sie könnten auch feststellen: Ich fühle mich gerade sehr wohl.
Und das lässt sich kommerziell ausnutzen.
Haynes
Richtig. Manche gehen aber inzwischen viel weiter: Sie messen Hirnaktivierungsmuster und behaupten, auf dieser Basis Produkte so optimieren zu können, dass diese größtmögliche Kaufimpulse auslösen. In erster Linie konzentriert man sich dabei auf die sogenannten Belohnungszentren, die in den Basalganglien unter der Großhirnrinde liegen. Wenn Sie mir ein leckeres Stück Kuchen anbieten, reagieren diese Belohnungszentren. Die zentrale Frage lautet nun: Wie kann man diese Areale durch das Design von Produkten so stimulieren, dass Menschen ein unwiderstehliches Verlangen entwickelt, sie zu kaufen?
Klingt nach einer schlauen Idee.
Haynes
Es funktioniert aber nicht. Denn eigentlich ist der Begriff „Belohnungszentren“ unglücklich gewählt. Diese Gehirnareale reagieren auch auf viele andere Reize. Zum Beispiel wenn man sich bei einer Tätigkeit besonders viel Mühe gibt. Oder wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht. Mein Lieblingsbeispiel dazu ist das Wienermobile. Es sieht aus wie eine Knackwurst auf Rädern – grotesk auffällig. In Neuromarketingstudien zum Autodesign würde es die Belohnungszentren im Gehirn vermutlich stark anstoßen. Aber glauben Sie ernsthaft, jemand würde sich ein solches Auto kaufen?
Sie beschäftigen sich auch mit Fragen, die sonst Philosophen umtreiben. Zwischen Körper und Geist gibt es nach Ihrer Ansicht keinen Unterschied. Richtig?
Haynes
Früher dachte man, das Gehirn und die Gedankenwelt seien voneinander getrennt: Körper versus Geist. Platon etwa beschreibt in seinem Buch „Phaidon“, wie Sokrates den Schierlingsbecher trinken soll, um sich selbst zu töten. Und es kostet ihn kaum Überwindung. Denn Sokrates ist überzeugt, dass sein Geist, das eigentlich Wichtige also, sich vom Körper lösen werde und in die Nachwelt übergehe.
Auch das Christentum geht von der Unsterblichkeit der Seele aus.
Haynes
Richtig. Aber die Idee, dass der Geist – oder eben die Seele – den Körper überleben kann, ist viel älter: Schon aus der Steinzeit sind Gräber mit Seelenlöchern überliefert: Schlupflöcher, durch die die Seele entweichen und in die Nachwelt übergehen kann. Lange rätselten Forscher, im 17. Jahrhundert etwa René Descartes, vergeblich darüber, was den Geist überhaupt dazu befähige, mit dem Körper zu interagieren. Dabei existiert diese Dualität in Wirklichkeit gar nicht. Denken ist an das Gehirn gebunden.
Und die Seele?
Haynes
 Was verstehen Sie unter Seele? Und kann so etwas nach dem Tod weiterleben, also nach dem Ende des Stoffwechsels im Gehirn? Bei allem, was wir in der Forschung beobachten, gibt es einen so engen Zusammenhang zwischen dem Erleben und den Gehirnprozessen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sich das Bewusstsein plötzlich von diesem Trägermedium lösen könnte. Aber ich habe keinen Gegenbeweis. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn Menschen an eine Seele und deren Weiterleben glauben.
Besonders spektakulär waren die Experimente, bei denen Sie und Ihr Team durch Aktivierungsmuster im Gehirn vorhersagen konnten, wie sich Testpersonen entscheiden werden.
Haynes
Richtig. Studien anderer Forschergruppen wiesen schon vor Jahrzehnten in diese Richtung: Wenn man denkt, eine Entscheidung zu fällen, scheint sie im Gehirn bereits eine halbe Sekunde vorher gefallen zu sein. Wir wollten dieses Phänomen experimentell überprüfen: Unsere Probanden sollten sich Zeit lassen und auf einer Tastatur schließlich entweder den rechten oder den linken Knopf aussuchen.
Was geschah?
Haynes
Mithilfe der Kernspintomographie konnten wir an der Gehirnaktivität bereits bis zu sieben Sekunden zuvor vorhersagen, für welchen Druckknopf die jeweilige Testperson sich entscheiden wird. Das hat uns selbst überrascht.
Das heißt, Menschen tun nur, was ihnen ihr Gehirn bereits viele Sekunden zuvor befohlen hat – und sind also letztlich nicht schuldfähig?
Haynes
So schwerwiegende Fragen standen im Raum. Wohl auch deshalb schlug die Publikation unserer Ergebnisse hohe Wellen. Wir erreichten bei unseren Vorhersagen allerdings, und das wird oft übersehen, nur eine Trefferquote von rund 60 Prozent. Das ist zwar eindeutig besser als Zufall, aber auch nicht viel mehr.
Ließe sich das optimieren?
Haynes
Schwer zu sagen. Vielleicht waren unsere Messgeräte noch nicht gut genug. Naheliegender erscheint uns aber inzwischen, dass Entscheidungen gleichsam nur vorgebahnt werden im Gehirn. Das „Handlungspotenzial“, das wir im Kernspintomographen sehen, wäre dann nur ein Indikator für die Tendenz zu einer bestimmten Handlung, nicht für eine definitive Entscheidung dafür.
Wie kommen Sie darauf?
Haynes
 Zuerst stellten wir uns das Prinzip ähnlich wie bei einer Kettenreaktion mit Dominosteinen vor: Am Anfang steht ein besonderes Aktivierungsmuster im Gehirn, eben dieses Handlungspotenzial, und einige Sekunden später vollzieht die Person zwangsläufig die entsprechende Handlung. Daher wollten wir in einem zweiten Schritt abklären, ob Menschen diese Kette noch durchbrechen können.
Können sie das?
Haynes
Es ist sehr wohl möglich. Auch wenn eine Entscheidung im Gehirn angebahnt wird, können sich Menschen noch bis zu 200 Millisekunden vorher umentscheiden. Erst danach wird es richtig schwierig. Wir konnten also eindeutig nachweisen: Die verblüffend lange Phase im Gehirn zwischen Handlungspotenzial und Handlung kann nichts mit der Willensfreiheit zu tun haben. Wir sind nicht die Sklaven unseres Gehirns!
Sie organisieren regelmäßig Symposien zur „Ethik in den Neurowissenschaften“. Wird da auch übers Gedankenlesen diskutiert?
Haynes
Selbstverständlich. Mir ist es wichtig, darüber realistisch aufzuklären. Dazu gehört es, die riesigen Erwartungen in diesem Bereich eher zu dämpfen. Aber auch ich gehe davon aus, dass wir mit künftigen genaueren Messverfahren noch viel mehr über die Codierung von Gedanken im Gehirn herausfinden werden. Das könnte tolle Chancen bieten: In meinem Buch erwähne ich den Fall einer Kindesentführung in Deutschland. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident drohte einem Verdächtigen Folter an, damit er das Versteck des entführten Knaben verrate. Könnte man so wichtige Informationen mit bildgebenden Verfahren und den richtigen Algorithmen aus den Erinnerungen und Gedanken von Tatverdächtigen filtern, wäre das natürlich humaner. Geriete so eine Technologie allerdings in die falschen Hände, ließe sie sich in Diktaturen auch dazu nutzen, um festzustellen, wer regimetreu ist und wer nicht.

John-Dylan Haynes, 51,

ist Psychologe und Neurowissenschafter. Der gebürtige Brite studierte an der Universität Bremen Psychologie und Philosophie. Nach Forschungsaufenthalten in Magdeburg, Plymouth und London wurde er Leiter einer Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Seit 2006 ist er Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience des Klinikums Charité Berlin und seit 2009 Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging. Haynes gehört zu den Pionieren, die das Thema Gedankenlesen für die Gehirnforschung erschlossen. Über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurden Experimente zur Entscheidungsfindung – mit dem Ergebnis, dass Entscheidungen im Gehirn bereits angelegt sein können, bevor wir uns dessen bewusst sind.