Hitze, Brände, Dürre, Fluten: Fluchtgrund Klimakatastrophe
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Der Alte kaute Kokablätter und erzählte, seine Kinder hätten das Dorf längst verlassen. Nur neun Menschen seien in Overjeria geblieben. Alle anderen seien weg, gegangen wegen ständiger Dürren. Einst hatte in dem bolivianischen Dorf die Landwirtschaft geblüht, doch die Trockenheit verursachte immer mehr Missernten. Die Tiere verendeten, zuerst die Kühe, dann die Esel, schließlich die Ziegen.
Das Beispiel stammt von der britischen Sachbuchautorin Gaia Vince, die mit „Das nomadische Jahrhundert“ ein eindringliches und mit Studien, Zahlen und Daten gespicktes Buch über einen brisanten Aspekt des Klimawandels geschrieben hat*): über klimabedingte Migration und die Frage, wie viele Menschen infolge von gefährlicher Hitze, Trockenheit, aufgrund von Überflutungen und Wetterextremen ihre Heimat verlassen werden.
Eine weitere Schilderung bezieht sich auf Vinces eigene Familie: Ihre australische Tante musste im Jahr 2020 mit Hunderten anderen Hausbesitzern an einen Strand und anschließend in Booten aufs Meer fliehen, nachdem Rauch und Asche den Himmel verfinsterten und Feuerwalzen näherrückten. Viele Menschen mussten vor den Feuern des „Black Summer“ evakuiert werden. Die meisten kehrten wieder zurück, jedenfalls diesmal. Irgendwann werden sie ihre Häuser wegen steter Brand- und Lebensgefahr vielleicht aufgeben müssen – oder wegen des Problems, dass sie keine Versicherung mehr abschließen können.
Man könnte viele weitere Beispiele aus zahlreichen Weltgegenden nennen. Als im September 2017 die Wirbelstürme „Maria“ und „Irma“ über Puerto Rico und Teilen Floridas tobten, schlugen Zerstörungen, verwüstete Infrastrukturen und kontaminiertes Wasser eine Viertelmillion Menschen in die Flucht. Sie strömten Richtung Orlando im Inneren Floridas, rund zehn Prozent blieben in der neuen Heimat. Für Orlando war das Ereignis ein Weckruf, ein Vorgeschmack auf eine Zukunft, in der die Politik Klimamigration lenken und verwalten muss. Doch fast niemand sei vorbereitet, konstatierte damals das Büro des Bürgermeisters.
Migration als Klimaanpassung
Ähnliche Gedanken machen sich Regierungen und Politiker in aller Welt, auch in der Europäischen Union. Wenn Menschen von ständigen Umweltkatastrophen devastierte Regionen verlassen und eine neue, sichere und lebenswerte Heimat suchen, bedeutet das organisatorische, ökonomische, humanitäre und politische Herausforderungen. Es werde „kohärente politische Maßnahmen für den Themenbereich Migration im Zusammenhang mit Klimawandel und Naturkatastrophen“ brauchen, resümiert ein Positionspapier des Europäischen Parlaments. Nötig seien „vorausschauende interne EU-Maßnahmen in den Bereichen Asyl- und Migrationspolitik“. Das European Policy Centre empfahl politischen Entscheidungsträgern Ende des Vorjahres, „Migration als Teil der Klimaanpassung zu betrachten“.
Was kommt wirklich auf uns zu? Werden sich, wie manche Prognosen voraussagen, tatsächlich Hunderte Millionen Menschen auf dem Planeten in Bewegung setzen, weil der Klimawandel ihnen die Lebensgrundlage raubt und Regionen unbewohnbar macht? Beobachten wir gerade die Vorboten dieser Entwicklung, wenn, wie vorige Woche, in Kalifornien und Oregon fast 90 Brände gleichzeitig wüten und in Sibirien eine Fläche von einer Million Hektar in Flammen steht? Wenn, wie im Vorjahr in Kanada, 200.000 Menschen vor Waldbränden fliehen müssen? Wenn sich in Afrika lebensfeindliche Wüstengebiete weiter ausdehnen? Wenn vier Millionen Menschen aus dem Bergland Nordindiens abwandern, weil Trockenheit den Ackerbau verunmöglicht? Wenn in den USA in manchen Jahren bis zu zwei Millionen Menschen übersiedeln, um Gefahrenzonen zu entkommen?
Auch in Europa häufen sich die Extreme: 47 Grad wurden im Juli in Madrid gemessen, 44 in Sevilla, in Griechenland wurden Arbeiten zwischen Mittag und 17 Uhr verboten. Paris meldete eine Zahl von Hitzetoten, die drei vollbesetzten Flugzeugen entsprach. In Bayern standen im Frühjahr ganze Landstriche unter Wasser, und in der Steiermark lösten Mitte Juli Überschwemmungen und Hangrutschungen wiederholt Zivilschutzalarm aus. Dabei hatte bereits 2023 ein Klimarekord den anderen gejagt, europaweit starben 60.000 Menschen infolge extremer Hitze.
Europa ist, verglichen mit anderen Weltgegenden, derzeit trotzdem noch fast so etwas wie eine Wohlfühlzone. Heißt das, dass Menschen aus Regionen wie Afrika und Asien, die viel härter vom Klimawandel getroffen sind, in hoher Zahl nach Europa kommen werden? Werden wir mit enormen Flüchtlingsströmen konfrontiert sein? Droht uns massive Zuwanderung, verbunden mit gewaltigen politischen Verwerfungen?
Die Prognose gigantischer Umwälzungen
Die Antwort auf diese Frage hängt vor allem von der Quelle ab, die man für Prognosen heranzieht. Denn die Vorhersagen differieren enorm. Folgt man den von Gaia Vince zitierten Berechnungen, kommen Umwälzungen wie nie zuvor auf die Menschheit zu. Die Tropen würden unbewohnbar, ebenso ganze Gebiete der USA im Süden und mittleren Westen sowie mittel- und langfristig das südliche Europa und Teile des Balkan. Bis 2050 würden bis zu 1,5 Milliarden Menschen zu Klimanomaden, die sich nach und nach in Bewegung setzen – besonders dort, wo die Bevölkerung weiterhin stark wächst und dazu beiträgt, dass der Planet um 2060 eine Spitze von rund zehn Milliarden Menschen erreichen wird. Und jedes weitere Grad Klimaerwärmung würde eine Milliarde Menschen aus ihrer bisherigen Heimat verdrängen.
Die Migrantenschar würde sich diesem Szenario zufolge allmählich immer weiter nach Norden wälzen, parallel zur fortschreitenden Erwärmung, bis die letzte Zuflucht in Landstrichen in Alaska, Kanada und Sibirien, in Grönland und dem Baltikum bestünde. Alaska werde in 20 Jahren mehr als angenehm temperiert sein, Grönland werde fruchtbares Ackerland bieten, Tundren und Permafrostböden würden endgültig aufgetaut sein. Vince zeichnet das Bild neuartiger „Städte des Nordens“, in die sich Millionen von Klimamigranten auf verdichtetem Raum retten.
Demgegenüber steht beispielsweise die Sichtweise des niederländischen Soziologen Hein de Haas, der die große Klimamigration für einen Mythos hält. Er argumentiert, dass es keinen Beleg für einen Kausalzusammenhang zwischen Umweltkatastrophen und daraus resultierender Abwanderung gebe – und wenn es dazu komme, dann allenfalls regional und vorübergehend. Denn besonders jene Menschen, die am schlimmsten unter den Folgen des Klimawandels leiden, hätten meist gar nicht die Mittel zur Flucht. Und jedes einzelne Desaster schränke ihre ökonomischen Möglichkeiten und den Handlungsspielraum weiter ein. Hein de Haas’ Fazit: „Apokalyptische Vorhersagen einer massiven Klimaflucht entbehren jeder Grundlage und basieren auf simplen Annahmen über den Zusammenhang von Umweltveränderungen und Migration.“
Es steht außer Frage, dass der Klimawandel großes Leid hervorrufen wird. Manche Gegenden werden sicher unter einen so hohen klimatischen Druck geraten, dass das Überleben dort sehr schwierig wird. Es muss deshalb aber nicht zwingend zu massiven Migrationswellen kommen.
„Die Wahrheit liegt vermutlich zwischen den extremen Blickwinkeln“, sagt Roman Hoffmann, Leiter der Forschungsgruppe für Migration und Nachhaltige Entwicklung am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg. „Es steht außer Frage, dass der Klimawandel großes Leid hervorrufen wird. Manche Gegenden werden sicher unter einen so hohen klimatischen Druck geraten, dass das Überleben dort sehr schwierig wird.“ Dennoch sei es deutlich zu simplifizierend, daraus unmittelbar Migrationsentscheidungen abzuleiten. „Es muss deshalb nicht zwingend zu massiven Migrationswellen kommen, vor allem nicht nach Europa“, sagt Hoffmann. „Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Weltbevölkerung komplett verschieben wird.“
Der unscharfe Blick in die Zukunft
Das Problem bei all den Prognosen: Sie schreiben Daten und Entwicklungen aus der Vergangenheit in die Zukunft fort – es sind Projektionen und Modelle, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je nach Datenbasis, angenommenem Erwärmungsszenario und angewandter Methodik. Zudem wissen wir nicht, wie wie gut es gelingt, die Folgen des Klimawandels technologisch einzudämmen. Finden wir effiziente Wege der Energiegewinnung oder des Geoengineering? Glückt das Unterfangen, klimafitte Städte zu bauen, urbane Zentren mit vertikalen Gärten, die Hitze und Kohlendioxid absorbieren, mit großflächig weiß getünchten Dächern, die im Optimalfall 90 Prozent des Sonnenlichts reflektieren? Und lässt sich das Verhalten von Menschen in 20, 30 oder 50 Jahren überhaupt berechnen, von Menschen, die teils noch nicht geboren sind?
Auch unter seinen Kolleginnen und Kollegen käme es zu heftigen Debatten über die plausibelsten Szenarien, berichtet Hoffmann. Die hartnäckige Suche nach immer neuen, noch akkurateren Zahlen kompensiere aber vielleicht auch den Umstand, „dass wir uns schwertun zu akzeptieren, dass wir es eben nicht genau wissen“.
Weitgehend Einigkeit besteht dagegen über das Fortschreiten des Klimawandels und dessen Effekte. Die Konzentration von Kohlendioxid hat im Vorjahr den höchsten Wert der Menschheitsgeschichte erreicht, zusätzlich verstärken Methan, Lachgas und Wasserstoff den Treibhauseffekt. Zwischen 1880 und 2023 stieg die globale Oberflächentemperatur um 1,3 Grad Celsius – und ist damit bereits nahe dem Schwellenwert von 1,5 Grad, der als unbedingtes Limit definiert wurde, um die schlimmsten Klimakatastrophen gerade noch abzuwenden. Eine im Februar im Fachjournal „Nature“ publizierte Messung von fossilierten Tiefseeorganismen geht gar davon aus, dass die 1,5 Grad Erwärmung bereits erreicht sind – und nicht erst 2030, wie meist prognostiziert.
Momentan deutet wenig darauf hin, dass die Menschheit es schafft, den Temperaturanstieg mit 1,5 Grad zu begrenzen. Deutlich wahrscheinlicher ist, dass bis Ende des Jahrhunderts die Erwärmung drei bis vier Grad beträgt. Falls das nach moderatem Temperaturzuwachs klingt, gilt es zu bedenken, dass es sich um globale Durchschnittstemperaturen handelt, Europa beispielsweise erwärmt sich stärker als im Mittel. Außerdem sind in diesen Werten die Ozeane eingerechnet, die bisher den allergrößten Teil der Erwärmung auffingen. An Land könnte es bis 2100 um bis zu zehn Grad heißer werden.
Je wärmer es wird, desto mehr Rückkoppelungseffekte entstehen zudem, die das Problem zusätzlich verschärfen. Wärmere Böden lassen Biomasse schneller verrotten und setzen rascher CO2 frei; tauende Permafrostböden, in Mooren schwelende Brände und Buschfeuer pumpen ebenfalls CO2 in die Atmosphäre; gleichzeitig können verbrannte Wälder weniger davon speichern; heißere Luft trägt mehr Wasserdampf, der sich in extremen Regenfällen entlädt; wärmere Ozeane verlieren an Dichte und lassen den Meeresspiegel steigen, zusätzlich zu Millionen Tonnen geschmolzenen Eises.
Tödliche Hitze
Die Konsequenzen machen Menschen in vielen Weltgegenden längst das Leben schwer, und das müssen nicht immer spektakuläre Ereignisse wie Waldbrände, Sturzfluten oder Bergstürze sein. Hitze beispielsweise bedroht die Gesundheit schleichend. Bereits heute erlebt der Planet doppelt so viele Tage mit Temperaturen jenseits der 50 Grad als vor drei Jahrzehnten. Für Städte wie Paris werden für 2050 regelmäßig Tage mit solcher Hitze prognostiziert. Der menschliche Körper kommt damit auf Dauer nicht zurecht – speziell bei gleichzeitig hoher Luftfeuchtigkeit. Die einzige Strategie, um Wärme abzuleiten, funktioniert dann nur noch eingeschränkt: das Schwitzen.
Bei moderater Erderwärmung wäre bis 2100 laut einem Report der International Organization for Migration (IOM) die Hälfte der Weltbevölkerung Phasen gefährlicher Hitze ausgesetzt, bei starker Erwärmung wären es bis zu 75 Prozent. In New York würden jedes Jahr 20 bis 30 Tage mit lebensgefährlichen Temperaturen herrschen, in Jakarta praktisch täglich. Eine im Mai in „Nature Communications“ publizierte Studie warnt vor allem vor Gefahren für die ältere Bevölkerung: Bis 2050 könnte die Hitze für eine Viertelmilliarde Menschen im Alter von mehr als 69 Jahren akut lebensbedrohlich sein.
Zu den gesundheitlichen Problemen kommen ökonomische: Bei Extremtemperaturen sind Arbeiten im Freien nicht oder nur eingeschränkt möglich – besonders in Gegenden, in die Industrieländer gerne die Produktion auslagern. Bereits für 2018 wurde errechnet, dass Hitze und Luftfeuchtigkeit 150 Milliarden Arbeitsstunden kosteten.
Die Trockenheit ist dafür verantwortlich, dass Dörfer oder ganze Landstriche aufgegeben werden müssen, vor allem in Asien, Afrika und Südamerika, weil der Regen ausbleibt oder abgeschmolzene Gebirgsgletscher die Flüsse kaum mehr speisen und daher keine Nahrungsmittel produziert werden können. Und selbst jene genügsamen Früchte, die bei permanenter Trockenheit wachsen, verlieren erheblich an Nährwert. Anhaltende Trockenheit könnte die Hälfte der Maisernte der USA kosten, bis 2050 könnte ein Trockengürtel entstehen, der sich über die Iberische Halbinsel ebenso erstreckt wie über Anatolien, südliche Regionen Russlands und Teile Nordamerikas. Bei einem – vermutlich zu tief gegriffenen – Erwärmungsszenario von zwei Grad dürfte sich die Zahl der Menschen, deren Felder von Wasserknappheit betroffen sind, laut IOM-Report fast vervierfachen. Trockene, teils wüstenartige Areale dehnen sich aus, die Vegetation gemäßigter Zonen wandert allmählich nordwärts, die Birkenwälder etwa verschieben sich um 40 bis 50 Meter pro Jahr.
Das Gegenteil davon ist nicht minder dramatisch: Schon Ende des Jahrzehnts dürfte die Hälfte der Weltbevölkerung in Küstenregionen leben, die von Überflutungen und Unwettern heimgesucht werden.
Bis 2050 könnte ein Fünftel der Landmasse des Planeten von einer starken Zunahme der Überschwemmungen betroffen sein. Eisschmelze und wärmeres Wasser lassen die Meeresspiegel steigen, bis 2100 wahrscheinlich um etwa einen Meter. Mit jedem Zentimeter Anstieg des Meeresspiegels wird die Existenzgrundlage von beinahe zwei Millionen Menschen bedroht. Das betrifft nicht nur Inselstaaten und Atolle wie Malediven, Tuvalu und Kiribati, sondern auch China, Indonesien, Japan, die Philippinen, die USA und Europa – beispielsweise die Niederlande und England. Der Süden Vietnams wird voraussichtlich bis Mitte des Jahrhunderts unter Wasser liegen. Zugleich sinken dicht besiedelte Städte kontinuierlich ab: Schanghai um gut zwei Meter im letzten halben Jahrhundert, Jakarta um 25 Zentimeter pro Jahr. In Bangladesch, mit mehr als 1200 Einwohnern pro Quadratkilometer extrem dicht besiedelt, lebt ein Drittel der Menschen an flachen, Überflutungen preisgegebenen Küsten.
Unbewohnbare Regionen
Ob tödliche Hitze, existenzbedrohende Dürre oder ein Dasein auf Land, das womöglich vom Meer verschluckt wird – all diese Umstände bewirken, zumindest theoretisch, dass Menschen nicht mehr dort bleiben können, wo sie über Generationen ihr Auskommen fanden. Den IOM-Daten zufolge werden sich um 2050 rund 3,5 Milliarden Menschen in einer Umwelt wiederfinden, in der man eigentlich nicht mehr leben kann.
Aber werden sie sich deshalb tatsächlich auf den Weg machen, in der Hoffnung auf weniger Risiko und eine bessere Zukunft? Punktuell gibt es Beispiele. Ende 2023 schloss die kleine Pazifiknation Tuvalu ein Abkommen mit Australien, das vorsieht, dass pro Jahr 280 Menschen als Klimaflüchtlinge nach Australien übersiedeln und dort arbeiten können. Kiribati bereitet ebenfalls die Emigration vor, weil der „Point of No Return“ erreicht sei. Gaia Vince nennt überdies das britische Dorf Fairbourne. Bis 2045 soll es aufgegeben werden, weil die Häuser dann allmählich vom Meer verschlungen werden.
Mit Massenmigration haben derlei Initiativen freilich wenig zu tun. „Es gibt klare Triebkräfte, die dazu führen, dass die Lebensgrundlage entzogen wird“, sagt Migrationsforscher Roman Hoffmann. „Menschen werden sicher in einigen Jahrzehnten Bedrohungen vorfinden, die es in der Vergangenheit nicht gab. Aber das lässt sich nicht eins zu eins in Migration übersetzen.“
Viel eher dürfte der Beschluss, die Heimat zu verlassen, am Ende einer mehrstufigen Entwicklung stehen. Zunächst trachten die Menschen danach, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen: Sie bauen Häuser stabiler oder in geschützten Zonen, errichten Dämme, züchten hitze- und trockenheitsresistente Pflanzen. Klappt die Adaption nicht mehr, verlegen sie ihren Wohnsitz, und zwar im Regelfall nur vorübergehend und in der Nähe. Schließlich wollen die allermeisten Menschen in ihrer Heimat bleiben: in der gewohnten Umgebung, eingebettet in soziale und familiäre Strukturen und Traditionen. So ist es üblicherweise ein langer Prozess, bis jener „Kipppunkt“ erreicht ist, der endgültig zum Gehen motiviert oder zwingt.
„Es ist schwer zu sagen, wann diese kritische Grenze überschritten wird“, sagt Hoffmann, der auch als Koautor einer Studie im Fachjournal „Nature Climate Change“ der Frage nachging, wann dieser Moment erreicht ist. Die Forschenden sichteten für ihre Meta-Analyse Studien aus mehr als 200 Ländern und sahen den „Tipping Point“ ebenfalls erst dann erreicht, wenn der Druck auf eine Gesellschaft so gewachsen ist, dass man sich lokalen Bedrohungen weder widersetzen noch anpassen kann. Ein Mix aus klimatischen, ökonomischen und auch psychologischen Faktoren würde dann dazu führen, „dass Migration als Anpassungsstrategie an klimatische Gefahren“ gewählt werde.
30 Millionen Klimaflüchtlinge
Doch auch dann finden die Wanderungen zunächst regional oder innerhalb eines Landes statt. Über das Ausmaß solch interner Migration gibt es solides Zahlenmaterial: Im Jahr 2022 flüchteten Daten des Internal Monitoring Displacement Centre zufolge 32,6 Millionen aus ihrer bisherigen Heimat aufgrund von Umweltkatastrophen, besonders in Nigeria, Pakistan, China, Indien und Bangladesch, wo bis 2050 acht Prozent der Bevölkerung gezwungen sein könnten, ihre Wohnorte zu räumen.
Je nach Klimaszenario gibt es nun unterschiedliche Prognosen, wie viele Menschen bis 2050 in ihren jeweiligen Ländern vertrieben werden. Gelingt es, die Erwärmung einigermaßen zu kontrollieren, wird die Zahl auf 44 bis 113 Millionen Personen weltweit geschätzt. In einem pessimistischeren Szenario könnten mehr als 200 Millionen Menschen migrieren – hauptsächlich in Städte und immer stärker wachsende urbane Zentren, die eher Schutz vor Umweltgefahren versprechen.
Und international? Wie viele dieser Migranten streben ins Ausland, zum Beispiel nach Europa? Belastbare Antworten auf diese Frage gibt es nicht. Man weiß allerdings, dass generell gerade drei bis vier Prozent aller Migranten internationale Grenzen überschreiten. Was klimagetriebene Migration betrifft, existiert für Europa immerhin ein seriöses Modell, das im Fachjournal „Science“ vorgestellt wurde, wenn auch schon 2017. Die Forschenden analysierten
historische Daten aus eineinhalb Jahrzehnten und folgerten: Der Klimawandel fungiere als „Bedrohungsmultiplikator“, der zusammen mit Faktoren wie ökonomischen Niedergang und Konflikten zur Abwanderung führen könne.
Konkret stellt die Studie in Aussicht: Bei einem durchaus realistischen Temperaturanstieg um drei Grad bis Ende des Jahrhunderts müsse Europa mit um 28 Prozent mehr Asylanträgen rechnen, was knapp 100.000 Personen pro Jahr entspricht. Geht die Erwärmung mangels beherzter Maßnahmen ungebremst weiter und klettert auf mehr als fünf Grad, müsse Europa jährlich 660.000 zusätzliche Asylanträge gewärtigen. Sehr wahrscheinlich ist ein Anstieg um fünf bis sechs Grad zum Glück aber nicht.
Der Mensch, ein geborener Migrant
Doch selbst eine gute halbe Million Migranten träfen in einigen Jahrzehnten auf eine erheblich geschrumpfte Bevölkerung – bis 2050 voraussichtlich um zehn Prozent, die Zahl arbeitsfähiger Menschen wird dann sogar um ein Drittel kleiner sein. Europa wird Arbeitskräfte benötigen, und die EU-Politik ist daher gut beraten, sich Strategien zu überlegen, um Migration klug zu steuern. „Wir werden eine Kultur brauchen, um mit Migration umzugehen, um einerseits Menschen in Gefahrenzonen zu helfen und andererseits durch Migration mögliche Zugewinne auszuschöpfen“, sagt Hoffmann. „Außerdem ist Migration eine Konstante der menschlichen Geschichte.“
Zweifellos verdankt die Spezies Homo sapiens ihren Welterfolg wesentlich der globalen Migration und dem einzigartigen Talent zur Anpassung an verschiedenste Nischen auf dem Planeten – beginnend vor 80.000 bis 60.000 Jahren, als unsere Ahnen ihren Heimatkontinent Afrika verließen und in den Nahen Osten, nach Asien und Europa vorstießen. In den vergangenen 10.000 Jahren kam es zu drei großen Einwanderungswellen nach Europa: von Jägern, Sammlern, Bauern sowie von Steppenbewohnern aus Anatolien sowie Eurasien. Ein buntes genetisches Gemisch dieser Menschen bildet heute mehrheitlich unser Erbgut, das uns alle als Nachfahren von Migranten ausweist.
Migration ist auch seit jeher eine Anpassungsstrategie an Klimaveränderungen. Vor 13.000 Jahren flohen Menschen aus Europa nach Süden und in den Nahen Osten – damals allerdings nicht vor der Hitze, sondern vor der grausamen Kälte der Eiszeit.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft