Wissenschaft

Homöopathie bei Krebspatienten: Fast zu schön, um wahr zu sein

Eine Wiener Studie behauptet: Homöopathie wirkt bei Krebspatienten im Endstadium. Das Urteil einer Prüfkommission hingegen lautet: Datenmanipulation und Fälschung. Was sagt der Studienautor zu den Vorwürfen?

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Das Urteil der Untersuchungskommission ist auffallend scharf formuliert. Von "Datenmanipulation" ist die Rede, von "selektivem Löschen von Aufzeichnungen" und "Verletzungen der wissenschaftlichen Integrität". Die harschen Worte stammen aus einem seit Kurzem vorliegenden Bericht der Österreichischen Agentur für Wissenschaftliche Integrität (ÖAWI), einer unabhängigen Organisation zur Prüfung wissenschaftlichen Fehlverhaltens.

Die ÖAWI wurde auf Initiative der Medizinischen Universität Wien tätig. Deren Rektorat ersuchte um die Analyse einer Studie, die zum Teil an der MedUni durchgeführt wurde. Studienleiter ist Michael Frass, 68, Internist und seit Jahrzehnten einer der vehementesten Befürworter von Homöopathie.

Am Wiener AKH leitete Frass viele Jahre die Intensivstation an der Klinik für Innere Medizin. Hier setzte er sich auch massiv für den Einsatz von Homöopathie ein und betrieb eine Spezialambulanz zu diesem Zweck. Außerdem bot er ein "Wahlfach Homöopathie" an. Nachdem sich Studierende mehrfach beschwerten, dass die Globuli-Lehre nicht mit akademischer Medizin kompatibel sei, strich Rektor Markus Müller die Vorlesung 2018 vom Lehrplan, was für einige Schlagzeilen sorgte. Ein Jahr später schied Frass pensionsbedingt aus der MedUni aus.

Seine nun überprüfte Studie erstreckte sich über diesen Zeitraum hinaus. Sie begann 2012, die Ergebnisse wurden im Herbst 2020 im Fachjournal "The Oncologist" veröffentlicht. Da war Frass bereits in Rente, doch weil in der Publikation die MedUni als Frass' Wirkungsstätte genannt wird, veranlasste Vizerektorin Michaela Fritz die Untersuchung der Ergebnisse. Denn schon bald traten Zweifel an den Resultaten auf, die immerhin mit dem Label MedUni assoziiert waren. Daher, so Fritz, habe man für Aufklärung sorgen wollen.

DIE STUDIE

Dies ist die erste Seite der Arbeit, die 2020 im Fachjournal "The Oncologist" erschien. Insgesamt waren 16 Autoren beteiligt, und es gab eine sogenannte Peer-Review: Gutachter prüften den Fachartikel vor Erscheinen. Nun ist auch die Frage, warum die Gutachter keine Einwände äußerten.

200 Jahre lang fand sich kein überzeugender Beleg für die Wirksamkeit von Homöopathie. Nun soll ihn eine Studie erbringen?

Die Skepsis entsprang dem Fazit der Arbeit, die homöopathischer Behandlung wundervolle Wirksamkeit attestierte-nicht etwa bei Erkältungen, sondern bei metastasierendem Krebs in weit fortgeschrittenem Stadium, wenn die Lebenserwartung der Patienten einige Monate beträgt. Das klang fast zu schön, um wahr zu sein: Rund 200 Jahre lang gelang es nicht, überzeugende Belege für die Wirksamkeit der Homöopathie zu erbringen - und nun soll eine Studie klar beweisen, dass Krebspatienten im Endstadium davon profitieren? Das sorgte auch beim deutschen Informationsnetzwerk Homöopathie und der österreichischen Initiative für wissenschaftliche Medizin für Stirnrunzeln, die sich evidenzbasierter Medizin verpflichtet fühlen und Frass' Fachartikel ebenfalls zerpflückten.

Es war ziemliche Wühlarbeit, denn die Studie erscheint erst mal makellos: Sie wurde nach zeitgemäßen Standards durchgeführt: randomisiert, placebokontrolliert, doppelblind. Es gab eine Homöopathie- und eine Placebogruppe. Wer Homöopathie beziehungsweise Placebo bekam, war weder dem Studienteam noch den Patientengruppen bekannt. Laut Angaben in der Publikation erhielten 51 Patientinnen und Patienten ein Homöopathikum, 47 ein Placebo, weitere 52 bildeten die Kontrollgruppe. Die Personen stammten aus vier Kliniken in Wien, Lienz und Linz-allesamt Menschen mit sogenannten nichtkleinzelligen Lungenkarzinomen in weit fortgeschrittenen Stadien.

PATIENTENBEFRAGUNG

Mit Fragebögen wurde die Befindlichkeit der Krebskranken erhoben. Auffällig war, dass einige in sämtlichen Kategorien durchgehend Bestnoten vergaben-Menschen im Endstadium von Krebs.
 

Untersucht wurden zwei Fragestellungen: Wie wirkt sich Homöopathie zusätzlich zur konventionellen Behandlung auf die Lebensqualität der Krebspatienten aus? Und wie auf deren Überlebensdauer? Letztere wurde über einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren ermittelt. Zur Bestimmung der Lebensqualität füllten Homöopathie – und Placebogruppe einen standardisierten Fragebogen aus – zu Beginn, nach neun sowie nach 18 Wochen.

Die Ergebnisse, veröffentlicht im November 2020, sind dem 16-köpfigen Autorenteam zufolge eindeutig: Die Lebensqualität sei in der Homöopathiegruppe im Vergleich zu Placebo signifikant gestiegen, und auch die Überlebensdauer sei signifikant höher. Während in der Homöopathiegruppe nach zwei Jahren noch gut 45 Prozent der Patienten am Leben gewesen seien, seien es in der Placebogruppe kaum mehr als 23 Prozent gewesen. Homöopathie beeinflusse somit nicht nur die Lebensqualität positiv, sondern auch die Überlebenszeit. Frass' Arbeit behauptet somit: Homöopathie sei imstande, das Leben von Krebspatienten im Endstadium nennenswert zu verlängern.

Der offizielle Abschlussbericht der ÖAWI-Prüfkommission folgert: Zu diesem Ergebnis könne man nur durch Manipulation oder Fälschung von Daten gelangen. Einige Resultate seien anders nicht erklärbar.

Michael Frass wiederum, von profil mit diesen Vorwürfen konfrontiert, weist all die Anschuldigungen entrüstet von sich (Stellungnahme unten).

Worin besteht nun die Kritik im Detail? Genannt werden zahlreiche Problemfelder, die der Bericht auf elf Seiten auflistet.

Zentral sind folgende Punkte:

  • Zum einen ist dies die Erhebung der Lebensqualität. Anhand eines Fragebogens beantworteten die Patienten, ob sie unter Schmerzen, Schlaf - oder Appetitlosigkeit, Depressionen oder anderen Symptomen litten. Ausschließlich in der Homöopathiegruppe sagten die Menschen aus, dass es ihnen mit der Zeit immer besser gehe. Nach 18 Wochen soll beinahe die Hälfte aller Befragten in dieser Gruppe von ganz hervorragender Lebensqualität berichtet haben-todkranke Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Die Ermittler der ÖAWI glichen diese Angaben mit der Allgemeinbevölkerung ab, die mit demselben Fragebogen befragt worden waren. Das Ergebnis ist einigermaßen verblüffend: Frass' sterbenskranke Patienten sollen von einer deutlich höheren Lebensqualität berichtet haben als der Bevölkerungsschnitt. "Hochgradig unplausibel", urteilt die ÖAWI.
  • Besonders auffällig waren Fragebögen, die ausschließlich Bestnoten in ausnahmslos allen Kategorien enthielten. Auf einer Skala von eins bis vier gab es immer nur eins, die allgemeine Befindlichkeit wurde durchgehend mit "exzellent" bewertet. Michael Frass findet nicht, dass einem das ziemlich merkwürdig vorkommen muss: "Die originalen Fragebögen wurden unter den Bedingungen höchster wissenschaftlicher Standards ausgewertet." Beobachtungen an Palliativstationen würden außerdem zeigen, "dass Patienten trotz terminaler Situation ihr Befinden als sehr gut einschätzen".
  • Wenn man sich großartig fühlt, wäre freilich auch zu erwarten, dass sich dies positiv auf die Überlebensdauer auswirkt. Um herauszufinden, inwiefern hohe Lebensqualität der Studienteilnehmer deren Lebenserwartung beeinflusste, führten die Prüfer Daten aus den Fragebögen mit den Überlebenszeiten der Patienten zusammen und glichen die Faktoren miteinander ab. Das Resultat war bemerkenswert: Die Lebensqualität korrelierte nicht mit der Lebenserwartung. Sogar Personen, die Bestnoten in Bezug auf ihre Befindlichkeit vergaben, verstarben kurz darauf. Erstaunlicherweise fehlte solch ein Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Lebenszeit nur in der Homöopathiegruppe, in der Placebo-Gruppe korrelierten die beiden Faktoren dagegen sehr wohl.
    Frass sieht auch darin keinen Widerspruch: "Auch hier zeigt sich, dass es bei den meisten Krebspatienten zu einer Steigerung der Lebensqualität unabhängig von der fortgeschrittenen Krebssituation gekommen ist."Ganz besonders lasse sich daran der überzeugende Effekt der Homöopathie ablesen.
  • Auch an den Angaben zur Sterblichkeit in den beiden Gruppen zweifelt die Kommission der ÖAWI. Laut Studie lebten jene, die Homöopathie einnahmen, "signifikant" länger als Personen in der Placebo-Gruppe, im Mittel sollen es sechs Monate gewesen sein. Um die Plausibilität dieser Aussage zu prüfen, unterteilten die Rechercheure den Beobachtungszeitraum von zwei Jahren in einzelne Intervalle zu je sechs Monaten und betrachteten diese Abschnitte separat. Auf Basis der Originaldaten sahen sie nach, wie viele Personen aus welcher Gruppe in den ersten sechs Monaten gestorben waren, in den zweiten sechs und so weiter.

Die Analyse brachte ein interessantes Phänomen ans Licht: Nur in den ersten und letzten sechs Monaten war Homöopathie dem Placebo überlegen (und führte zu längerer Lebensdauer), dazwischen hingegen nicht. Das würde bedeuten: Die homöopathische Behandlung wirkte sechs Monate, dann ein ganzes Jahr nicht, dann wieder sechs Monate. Kommentar der Prüfer dazu: "Das ist hochgradig unplausibel, jedoch sind diese Zahlen kompatibel mit dem selektiven Löschen von Daten." Frass wehrt sich heftig gegen diesen Vorwurf: Die Daten seien leicht nachprüfbar und lückenlos dokumentiert. Selektives Löschen sei schon allein technisch unmöglich und wäre sofort aufgefallen. Außerdem gelte: "Die Realität sieht eben oft anders aus, als wir zuerst glauben."

Tatsächlich kann es bei jeder Studie vorkommen, dass überraschende Ergebnisse auftreten. Was aber die ÖAWI-Kommission stutzig machte, war die Summe der Ungereimtheiten. Und es kommt noch eine hinzu: Einige Parameter des Studiendesigns wurden nachträglich verändert - und zwar erst nach Abschluss der Studie, ohne dies im Fachartikel zu erwähnen. Das gilt eigentlich als Tabu. Wer nachträglich ohne Erklärung Änderungen vornimmt, setzt sich dem Verdacht aus, das Design an die Ergebnisse angepasst zu haben – als würde man die Zielscheibe um die Einschusslöcher malen.

Es geht dabei keineswegs um die Frage, ob derart tatsächlich getrickst wurde; es geht darum, jede Abänderung einer Studie so genau und nachvollziehbar zu dokumentieren, dass so ein Verdacht nicht einmal potenziell entstehen kann.

Bei klinischen Studien ist es daher heute unerlässlich, schon zu Beginn Datensätze mit Details zum Design anzufertigen. Darin steht, was genau man mit wie vielen Patienten oder welchen Präparaten untersuchen will. Diese Datensätze lädt man auf eine Website wie clinicaltrials.gov. Dort kann man auch die Funktion "History" nutzen: Sie zeigt alle Änderungen der Studieninformation an.

SCHARFE KRITIK

Hier sieht man Auszüge aus dem offiziellen Bericht der Untersuchungskommission. Unterstellt wird "Datenmanipulation oder Fälschung", ein "inakzeptabler Mangel an Transparenz" und unzulässiges Vorgehen, etwa das nachträgliche Ausschließen von Patienten. Die Kommission empfiehlt eine "Retraction": das gänzliche Zurückziehen der Studie seitens des Journals.
 

Im konkreten Fall existieren zehn Versionen dieser Datensätze zwischen Jänner 2012 und Juni 2021. Verändert wurde beispielsweise die Zahl der sogenannten Ausschlusskriterien. Wenn jemand etwa eine bestimmte Vorerkrankung hat oder spezielle Medikamente einnimmt, kann dies ein Hinderungsgrund sein, an einer Studie teilzunehmen. Die längste Zeit gab es nur ein Ausschlusskriterium, doch in der Letztversion finden sich plötzlich 15. Diese wurden hochgeladen, als die Studie längst fertig war. Eine andere Änderung betrifft die Zahl der untersuchten Krebsarten: Drei waren es anfangs, später nur noch Lungenkrebs. Auch diese Änderung wurde erst nachträglich dokumentiert.

Generell gilt: Derlei Änderungen können-rein prinzipiell-dazu führen, Patienten aus dem Datenpool zu eliminieren, was naturgemäß Einfluss auf die Auswertung der Daten und damit die Ergebnisse haben kann. Doch kam es konkret dazu? Auf gar keinen Fall, betont Frass. Sämtliche Veränderungen seien gänzlich "irrelevant für die Studienaussage" und deshalb "nicht publiziert" worden. Er räumt aber ein, dass es "leichter verständlich gewesen" wäre, "alle Kriterien zu Beginn anzuführen". Dennoch meint er: "Die Aufzählung aller Kriterien ist nicht ergebniswirksam."

Die Methodik sei völlig unzulässig, sagt hingegen die ÖAWI-Kommission und vermutet "Datenmanipulation". Und nennt ein Beispiel: Es seien anfangs 13 Patienten in die Studie aufgenommen worden, die am Ende einfach verschwunden seien-deren Existenz lasse sich nur aus den Originaldaten rekonstruieren, in der publizierten Studie tauchen sie schlicht nicht auf. Das mag nach einem Detail klingen, doch 13 Patienten stellen bei einer Gesamtzahl von 98 (Homöopathie-und Placebo-Gruppe) mehr als zehn Prozent. Wo sind sie abgeblieben?

Das sei ganz einfach erklärbar, sagt Frass. Es habe sich um Patienten mit jenen beiden weiteren Tumorarten gehandelt, die letztlich eben nicht in die Studie aufgenommen wurden. Und zwar deshalb, weil es nicht gelungen sei, genügend Patienten mit solchen Krebserkrankungen für die Studie zu gewinnen. Die Untersuchungskommission lässt dies nicht gelten: Derartige Veränderungen der Studie zu verschweigen, verstoße gegen jede gute Praxis: "Der Mangel an Transparenz ist inakzeptabel."

Letztlich klaffen die Positionen weit auseinander: Frass ist felsenfest überzeugt, eine saubere und überzeugende Studie vorgelegt zu haben. Die Kommission der ÖAWI kritisiert wissenschaftliches Fehlverhalten-und empfiehlt einen Schritt, der für jedes Fachjournal einem Alptraum gleichkommt: eine "Retraction",das offizielle Zurückziehen der Studie.

Nun bleibt abzuwarten, ob der "Oncologist" seinerseits eine Prüfung der Resultate einleitet. Relevant wäre dies gewiss. Zwar war die Resonanz der Fachwelt auf die Arbeit eher überschaubar, doch in TV-Debatten verwiesen Homöopathiebefürworter bereits begeistert auf die Studie – als Beweis, dass Homöopathie eben doch wirke.

Michael Frass über die Vorwürfe

"Die Vorwürfe sind uns allesamt bekannt und absolut unverständlich, alle können wir entkräften. Unsere Arbeit wurde unter Einhaltung aller wissenschaftlichen Standards durchgeführt. Der Vorhalt von Verstößen gegen die wissenschaftliche Integrität entbehrt jeder Grundlage. Für uns zeigt sich offenkundig, dass bei der Begutachtung unserer Studie nicht alle Unterlagen miteinbezogen wurden. Aus diesem Grund haben wir um Akteneinsicht gebeten, um die Grundlagen für das Final Statement kennenzulernen."

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft