Hundehalter sind oft nicht in der Lage, die Signale ihres Vierbeiners richtig zu deuten

Hundebisse: Wie man die Signale der Vierbeiner richtig deutet

Niemals hätte man damit gerechnet, ist nach Hundeattacken regelmäßig zu hören. Dabei zeigt sich, dass Tierhalter oft schlicht unfähig sind, die Signale ihres Vierbeiners zu deuten und damit das Schlimmste zu verhindern.

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"Mein Hund ist nicht aggressiv", sagte kürzlich eine Frau, deren Hund ein 17 Monate altes Kind auf offener Straße angefallen und ohne ersichtlichen Grund in den Kopf gebissen hatte. Immer wieder hört man von Hundebesitzern, ihr geliebter Vierbeiner würde so etwas nie machen. Und doch passieren solche Vorfälle beängstigend regelmäßig: unvermittelte Angriffe in der Öffentlichkeit, plötzlich und angeblich ohne Warnung zuschnappende Familienhunde, die das Kind oder den Besitzer attackieren, wenn dieser zum Futternapf greift. Die Menschen sind konsterniert und fassungslos, und meist wird umgehend ein Verbot für Rassen wie Rottweiler, Dobermänner und Pitbulls gefordert, die immer wieder für negative Schlagzeilen sorgen.

Die Wissenschaft hat jedoch längst gezeigt, dass es Kampfhunde nicht gibt. "Beißen ist keine Rassefrage", sagt die Hundeverhaltensforscherin Marleen Hentrup, die sich in ihrer Hundeschule viel mit Problemfällen beschäftigt: "Jemanden beißen kann jeder Hund, aber auch jeder Autofahrer kann Menschen totfahren." Hunde senden im Normalfall Signale aus, in welcher Stimmung sie sind und was sie eventuell vorhaben.

Teilweise hat der Mensch aber verlernt, ihnen diese Signale beizubringen, teilweise schaut er schlicht nicht genau genug hin oder deutet die Signale falsch, und manchmal gibt es Missverständnisse, oft gepaart mit dem Versagen oder der Achtlosigkeit des Besitzers.

Drei unterschiedliche Situationen:

Die jüngste Attacke

Im aktuellen Fall riss sich in Wien der Rottweiler-Rüde einer betrunkenen Dame, die bei einem Security-Dienst arbeitet, samt Leine los und biss ein einjähriges Kind in den Kopf, das dessen zwei Großeltern an der Hand führten. Es erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Der Vorfall erschien als Amoklauf eines Listenhundes, bei dem man jede Sekunde mit dem Schlimmsten rechnen muss, und auch in den sozialen Netzwerken forderten viele ein Verbot solcher Hunde - sonst wäre kein Kind mehr sicher. Doch genau wie bei Menschen gibt es bei Hunden immer Vorzeichen und eine Vorgeschichte, von der die Öffentlichkeit selten erfährt, erklärt Hentrup: "Dieser Hund wird nicht immer entspannt an der Leine gegangen und dann plötzlich ausgerastet sein." Im Training für Gebrauchshunde, zu denen neben Rottweilern auch Schäferhunde zählen, wird oft spielerisch der Jagdtrieb "aktiviert": Die Hunde dürfen etwa nach mit Stoffresten gefüllten Jutekissen schnappen, die von ihnen weggezogen werden, um später davonlaufende Einbrecher zu packen. Gut ausgebildete Hunde können dabei jederzeit unterscheiden, ob es sich um einen Menschen oder um ein Spielzeug handelt. Bei dem Unglücksfall in Wien darf bezweifelt werden, dass der Hund zu jenen Profis zählte. Zusätzlich war der Rottweiler-Rüde vermutlich verunsichert, weil seine Vertrauensperson sich seltsam verhielt; immerhin hatte sie laut Polizei 1,4 Promille Alkohol im Blut. Dann kamen die Großeltern im Halbdunkel mit dem Baby entgegen und spielten laut "Wiener Zeitung" mit ihm "Engelchen flieg". Die Besitzerin hatte den Rottweiler zwar an der Leine. Dass sie ihren 47 Kilogramm schweren Hund in diesem Zustand nicht halten kann, wenn er kräftig zieht, ist vorhersehbar. Es ist denkbar, so zynisch das klingen mag, dass bei dem verunsicherten Hund einfach nur ein Jagdverhalten aktiviert wurde. Der Ausgang war freilich fatal.

Schuld daran ist laut der Expertin aber nicht die Hunderasse. "Es hätte genauso mit einem Schäferhund oder jeder anderen großen Rasse passieren können", sagt sie. Grund ist menschliches Versagen, das durch unglückliche Umstände in einer Tragödie endete. Bei kleinen Kindern müsse man als Hundebesitzer immer aufpassen, denn gewisse Bewegungsmuster von ihnen können einen Jagdinstinkt auslösen. Fälle, in denen ein Hund eine fremde Person beißt, sind aber zum Glück extrem selten. Neun von zehn Beißopfern kennen den Hund, in der Regel ist es sogar der eigene. Zu den meisten Verletzungen kommt es auch nicht, weil der Hund von sich aus aggressiv wäre, sondern es mangelt den Opfern in der Regel einfach an Wissen, wie man sich gegenüber Hunden verhält.

Der Sinn des Schleckens

In Internetvideos kann man sehen, wie "geduldig und entzückend" mancher Hund mit Kindern umgeht. Sie dürfen ihm mit den Fingern in die Nase fahren, sich auf ihn legen, ihm nachlaufen, ihn an beliebigen Körperteilen wie Rute und Gliedmaßen festhalten und ziehen, und manchmal leckt er sie dann scheinbar liebevoll ab. Die Besitzer sind überzeugt, dass er einem Kind nie etwas zuleide tun würde. Doch immer wieder gibt es Fälle, in denen solche Hunde, wie es dann heißt, "unvermittelt und ohne Vorwarnung zubeißen". Das Vertrauen der Besitzer, dass Hunde mit Verstand gesegnete, berechenbare Lebewesen seien, löst sich in Luft auf.

"Die meisten Leute sind der Meinung, Hunde müssen sich an alles anpassen und sich alles gefallen lassen", sagt Hentrup. Sie geben sich deshalb keine Mühe, die Situation näher zu beobachten. In der Regel schreit der Hund in seiner Sprache allerdings schon laut um Hilfe. Dafür hat er sogenannte "Calming Signals" (Beschwichtigungssignale) zur Verfügung. Die norwegische Hundetrainerin und Sachbuchautorin Turid Rugaas hat sie entdeckt, als sie in den 1980er-Jahren die Kommunikation von Hunden untersuchte. Damit entschärfen Wölfe und Hunde innerartliche Konflikte, zeigen sie aber auch im Umgang mit Menschen, um ihnen zu signalisieren: "Tu mir nichts, ich bin dir freundlich gesinnt, aber diese Situation ist unangenehm für mich."

BESCHWICHTIGUNGSSIGNAL SCHNÜFFELN: Oft passiert es aus Verlegenheit, und nicht weil es hier gerade so gut riecht, dass Hunde die Nase zu Boden senken und schnüffeln.

Sie wenden dazu etwa den Kopf ab, gähnen, blinzeln, lecken sich über die Nase oder schlecken dem anderen unterwürfig ins Gesicht. In diesen Videos, aber auch bei vielen Hunde-Kinder-Begegnungen kann man solche Gesten zuhauf beobachten. Später in der Eskalationskette kommt eine Warnung des Hundes. Er zeigt dem Kind die Zähne oder knurrt es an. Dies wird entweder übersehen oder dem Hund verboten, denn viele sind der Meinung, Hunde dürfen Menschen nicht anknurren. Dem Hund bleibt nichts anderes übrig, als die Situation weiterhin leidend über sich ergehen zu lassen. Wenn der Hund den Besitzer anknurrt, ist dies bereits ein Zeichen dafür, dass viele vorangegangene Signale übergangen wurden und man als Mensch Fehler gemacht hat. Man sollte sich zum Beispiel wegdrehen und dem Hund mehr Raum lassen. Bestraft man Knurren oder einen warnenden Blick, weil man meint, dass der Hund aggressiv und dominant sei, wird er es wahrscheinlich beim nächsten Mal nicht zeigen und direkt zur nächsten Stufe auf der Eskalationsskala springen.

Manche Tiere verfallen in Resignation, die Verhaltensforscher sprechen hier von "erlernter Hilflosigkeit". Andere wiederum reagieren "proaktiv", also beißen zu, weil sie am Ende der Eskalationsskala angelangt sind und gelernt haben, dass alle anderen Signale nicht beim Menschen ankommen - und sie keinen anderen Ausweg mehr wissen. "Somit hab ich mir selber meine tickende Zeitbombe gebastelt", meint Hentrup. Jeder Biss in solchen Situationen wie der hier beschriebenen liegt also am Ende einer Reihe von übergangenen Signalen und Fehlinterpretationen. Der Hund hat in solchen Fällen sämtliche Botschaften ausgesendet, die er zur Verfügung hat, aber die Besitzer waren auf beiden Augen blind. "Dass auch der Hund seine Ruhe braucht, müssen die Kinder eben lernen", meint Hentrup. Zusätzlich kann man den vierbeinigen Freunden - wie es bei den Therapiehunden gemacht wird - Schritt für Schritt beibringen, dass Umarmungen und ausgiebiges Streicheln Spaß machen können.

Freilich sollte man Kindern auch erklären, dass etwa spontanes Umarmen einen Hund erschreckt. In Völkermarkt (Kärnten) passierte es jüngst, dass sich ein fünfjähriges Mädchen zu dem Mischlingsrüden ihres Onkels niederbeugte, um ihn in die Arme zu nehmen. Der Hund sah dies als Bedrohung und schnappte zu. Das Mädchen kam zum Glück mit oberflächlichen Verletzungen davon.

Vorsicht, Verwechslung

Die Hündin presst sich auf den Boden, mit dem Kopf zwischen den Vorderpfoten liegt sie flach wie ein Bärenfell in einer Jagdhütte am Rande des Waldweges. Sie hat zwei herannahende Reiter erblickt. Ihre Rute bewegt sich langsam von rechts nach links und zurück, sonst ist sie starr, lässt die Pferde nicht aus den Augen. Nur ja nicht rühren. Die Reiter lenken ihre Rösser rücksichtsvoll in einem Bogen um sie herum. "Oje, der arme Hund hat aber Angst vor Pferden", hört man einen sagen. Das ist leider falsch beobachtet, denn die pechschwarze Flatcoated-Retriever-Hündin hat ihnen aufgelauert, um sie mit Spielaufforderungen zu konfrontieren, wie sie es bei Artgenossen gerne macht. "Schau mal, ich bin vollkommen harmlos, du kannst ohne Risiko herkommen ", signalisiert sie ihnen mit jeder Faser ihres Körpers. Den Pferden ist im Gegensatz zu den Menschen auf ihrem Rücken bewusst, dass dieser Hund auf gewisse Art lauert und sich nicht fürchtet. Sie gehen vorsichtig an ihm vorbei, und behalten ihn im Blick. Die Hündin wiederum ist, wenn sie näherkommen, stets von der Größe dieser Tiere dermaßen beeindruckt, dass sie liegenbleibt und sie nur noch aus den Augenwinkeln beobachtet, bis sie vorbei sind. Würden die Reiter auf ihren nervösen Pferden stehenbleiben, um die Hündin zu ermuntern, dass sie keine Angst haben müsse, würde es gefährlich. Sie könnte dann aufspringen und als Spielaufforderung mit geducktem Kopf und Vorderkörper vor ihnen herumtollen. Fluchttiere kennen solche Gesten instinktiv von Wölfen, bevor sie zuspringen, und machen als Reaktion ihrem Namen unversehens Ehre. Ob die Reiter für eine solche Aktion fest genug im Sattel sitzen, ist zu bezweifeln, deshalb sollte der Besitzer sie in dieser Situation über die Intention der vierbeinigen Freundin aufklären und durch Anleinen dafür sorgen, dass sie nicht vor den Pferden herumalbert.

BESCHWICHTIGUNGSSIGNAL ERSTARREN: Kann er die Situation noch nicht einschätzen, "friert" ein Hund oft ein, um keinen Konflikt heraufzubeschwören.

Wie man sieht, liegen die Fehler also in der Regel beim Menschen. Die Körpersprache von Hunden lässt gut erkennen, in welcher Stimmung sie sich befinden und was sie möglicherweise als Nächstes vorhaben. Freilich kann man nicht wissen, welche der vier Optionen am Ende der Eskalationsskala, "Fight" (zuschnappen),"Flight" (Flucht),"Freeze" (erstarren) oder "Fiddle" (herumalbern wie ein kleiner Welpe), sie wählen, um aus einer unerträglichen Situation herauszukommen. So weit sollte man es aber gar nicht kommen lassen. Hunde handeln auch alles andere als irrational. Die amerikanische Zoologin und Verhaltenstrainerin Patricia McConnell vergleicht sie mit Automaten, die ständig ausrechnen, was in einer Situation das Beste für sie ist. Man kann erwünschtes Verhalten deshalb verstärken, wenn man es belohnt, und schlechtes meist abstellen, wenn man es ignoriert oder die Hunde gar nicht erst in Situationen kommen lässt, in denen sie es zeigen würden.

Gewonnen!

Ein gutes Beispiel ist das berüchtigte Bellen am Gartenzaun. "Nehmen wir einen kleinen Welpen, der noch nicht viel von der Welt kennt und im eigenen Garten sitzt", sagt Hentrup. "Wenn jemand vorbeigeht, findet er das wohl ein wenig gruselig und lässt ein schüchternes ,Wuff' vernehmen. Die Person geht weiter, ohne ihn zu hören, aber der Kleine verbucht das als seinen Erfolg, bellt fortan immer, wenn jemand vorbeigeht - und wähnt sich jedes Mal als Sieger, weil die Personen verschwinden. Dass sie ohnehin nur vorbeigehen wollten, weiß er ja nicht." So gebe es wenige Hunde, die nicht zu Kläffern werden, wenn sie alleine im Garten gelassen werden. Abhilfe schafft hier etwa eine zusätzliche Abzäunung, damit der Hund sich nur im hinteren Bereich des Grundstücks aufhalten kann.

Natürlich kann man Vierbeiner auch "falsch programmieren", also ihnen etwa schrittweise beibringen, Menschen zu attackieren. Das funktioniert aber beim angeblichen Familienhund Golden Retriever genauso wie bei Rottweilern. Das Risiko, von einem Hund getötet zu werden, ist hierzulande so gering, wie von einem Blitz getroffen zu werden, während jährlich mehr als 400 Menschen bei Autounfällen sterben. Im Gegensatz zum Autofahren haben viele Leute aber verlernt, mit Hunden umzugehen. Man solle daher die Besitzer im neutralen Beobachten und Interpretieren des Hundeverhaltens schulen, damit sie die Situationen besser einschätzen, so Hentrup. Dies sollte schon bei Kindern in der Schule und von den Eltern passieren.

BESCHWICHTIGUNGSSIGNAL GÄHNEN: Hunde gähnen nicht aus Langeweile, sondern wenn sie aufgeregt sind, um sich zu beruhigen.

Dann müssten sie sich nicht auf Faustregeln verlassen, die ohnehin meist falsch sind -etwa, dass ein schwanzwedelnder Hund immer freundlich ist. Wedeln zeigt nur einen Erregungszustand an, vor dem Zuschnappen schwingen Hunde ihre Rute ebenso wie bei freudigen Begrüßungen. In einer wissenschaftlichen Studie wurde zwar gezeigt, dass es einen Unterschied macht, ob der Hund mehr nach rechts oder links wedelt, aber "dies kann man mit bloßem Auge nicht genau genug verfolgen, und man sollte sich also nicht darauf verlassen, hier bei Begegnungen Unterschiede zu erkennen", so Hentrup.

Bellen & beißen

Genauso viel sei von dem Sprichwort zu halten, dass bellende Hunde nicht beißen. Das stimmt nur insofern, als man mit vollem Mund auch nicht gut schimpfen kann. Hat man hinuntergeschluckt, kann die Tirade losgehen. Auch dass ein Hund Dominanz zeigt, wenn er sich auf der Couch breitmacht oder als Erster durch die Tür geht, ist, wissenschaftlich betrachtet, Humbug. Diverse "Hundeflüsterer" propagieren, dass jeder Hund jedem Menschen vom Baby bis zum Erwachsenen gegenüber Unterwürfigkeit zeigen muss. "Meiner Meinung nach sollte ein Hund Menschen gegenüber aber neutral als Sozialpartner eingestellt sein", erklärt Hentrup. Er sollte klare Regeln kennen, und ob er sich gut oder schlecht benimmt, ist normalerweise erlerntes Verhalten, das man ihm mit liebevoller Konsequenz beigebracht hat und nicht vermittels Unterwürfigkeit. Die Menschen dominieren ohnehin den Alltag. "Ich bestimme, wann und was und wie viel meine Hunde zu essen bekommen, wann sie rausdürfen, wohin wir fahren und gehen und vieles mehr", sagt die Expertin. "Letztlich bestimme ich sein ganzes Leben. Wie sollte er da mich dominieren?"

Außerdem sollte man verstehen, dass Hunde keine Primaten sind. Sie gehen bei Begrüßungen nicht direkt aufeinander zu, blicken einander nicht in die Augen und halten sich nicht gegenseitig fest, wie es Menschen und Affen als Zeichen von Zuneigung tun. Dies stresst sie, weil dies in Hund-Hund-Begegnungen Merkmale einschüchternden und provokativen Verhaltens sind, es sei denn, man gewöhnt sie von klein auf daran, dass sich Menschen eben so benehmen. "Wenn man also auf die Körpersprache des Hundes eingeht, sind sie sehr berechenbar", sagt Hentrup. Es sei nur leider so, dass viele erwarten, dass der Hund sich anpasst, aber ihrerseits nicht lernen wollen, wie er tickt. Dass die Besitzer von Listenhunden einen Hundeführerschein machen müssen, sei ein Schritt in die richtige Richtung. "Dies sollte aber für alle Rassen gelten und nicht nur für einzelne", findet die Verhaltensforscherin. Vor allem, wie derzeit der Fall, die Deutschen Schäferhunde auszunehmen, die sämtliche Bissstatistiken anführen, sei schlichtweg skurril.

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