Ignaz Semmelweis: Rebell und Rüpel

Anfang Juli jährt sich der Geburtstag von Ignaz Semmelweis zum 200. Mal. Alwin Schönberger über die Frage, ob der Medizinpionier wirklich als Beispiel dafür taugt, wie das Establishment neues Wissen unterdrückt

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Der Einwand, gern laut und triumphierend vorgetragen, wird von manchen als argumentative Wunderwaffe schlechthin benutzt. Er lautet: Ja, aber Semmelweis! In diesen drei Worten verdichten speziell gepolte Geister ihre Position, wonach jede erdenkliche Theorie, und sei sie noch so abseitig, diskussionswürdig sei; und behaupten, dass die größten Querdenker, meist verspottet und gedemütigt von den bornierten Kapazitäten der jeweiligen Epoche, oft richtig liegen, auch und gerade wenn ihre Ansicht in scharfem Kontrast zur etablierten Mehrheitsmeinung, zum wissenschaftlichen Mainstream und generell zum „System“ steht. Mitunter dient der Semmelweis-Einwurf dazu, recht bizarren Gedankenkonstrukten Gewicht zu verleihen und freihändig alles infrage stellen zu dürfen – vom Naturgesetz bis zur Existenz von Viren. Hauptsache, es handelt sich um eine Randposition. Schließlich hielt man einst auch Semmelweis’ Ideen für Blödsinn.

Demnächst, so steht zu befürchten, werden wir mit dieser Argumentationslinie wieder konfrontiert sein. Denn Anfang Juli jährt sich der Geburtstag von Ignaz Semmelweis zum 200. Mal. Der heute als „Retter der Mütter“ und „Begründer der Asepsis“ titulierte Mediziner wurde am 1. Juli 1818 in eine begüterte Budapester Familie geboren. Er studierte Jus, anschließend Medizin in Budapest und Wien und fand eine Assistentenstelle an der Geburtsklinik des Allgemeinen Krankenhauses. Dort müssen entsetzliche Zustände geherrscht haben: Die Frauen, vielfach mittellos, häufig unverheiratet und unfreiwillig schwanger, entbanden unter hygienisch katastrophalen Umständen und mussten im Gegenzug zur kostenfreien Betreuung als Studienobjekte der Ärzteschaft herhalten. Manche flehten auf Knien um Entlassung aus der fragwürdigen Obsorge, was nicht zuletzt vor Augen führt, wie glücklich wir uns heute schätzen dürfen über die Professionalisierung und Weiterentwicklung der Medizin seit diesen dunklen Tagen.

Besonders furchtbar waren die Todesraten unter den gebärenden Frauen: Bis zu 20 Prozent von ihnen starben an einem mysteriösen Kindbettfieber. Die Gelehrten hatten keine Ahnung, weshalb. Lag es am Raumklima? Schlechter Ernährung? An einer ungünstigen Mischung der Körpersäfte? Erst Semmelweis heftete sich auf die richtige Fährte: Ihm fiel auf, wie das ärztliche Personal zwischen Leichenhaus und Geburtsklinik wechselte, ohne sich je die Hände zu waschen. Und er hatte eine Art Geistesblitz, als ein Professor im Frühjahr 1847 binnen kürzester Zeit an Blutvergiftung verstarb, nachdem er sich beim Sezieren eine winzige Schnittverletzung zugezogen hatte. Semmelweis postulierte: „Cadavertheile“ seien schuld an all den Todesfällen. Er gelangte zur Überzeugung dass die Hände der Mediziner mit Partikeln oder Giften kontaminiert waren (Bakterien kannte man noch nicht) und es dadurch zur tödlichen Übertragung kam.

Semmelweis setzte durch, dass das Personal fortan die Hände mit Chlorkalk zu desinfizieren hatte – und plötzlich sanken die Todesraten rapide, innerhalb von nur zwei Monaten von 18 Prozent auf nur noch ein bis zwei Prozent.

Wie reagierte nun die Kollegenschaft? Einer verbreiteten Ansicht zufolge schlugen Semmelweis trotz der eindeutigen Erfolge vor allem Feindseligkeit, Ablehnung und Spott entgegen. Man habe ihn offen bekämpft, gemobbt und ihm so lange das Leben schwer gemacht, bis er Wien verließ und nach Budapest zurückging, um dort neuerlich und zunächst ebenfalls gegen Widerstände die Wirksamkeit seiner Methode unter Beweis zu stellen. Letztlich habe man ihn, mittlerweile zermürbt und psychisch zerrüttet von all den Intrigen, hinterhältig in eine Wiener „Irrenanstalt“ gelockt und weggesperrt, wo er, erst 47 Jahre alt, nach zwei Wochen verstarb – ausgerechnet an den Folgen einer Blutvergiftung. In der Kurzfassung, verbrämt mit saftigen Verschwörungstheorien, heißt es: Semmelweis wurde von übelmeinenden Widersachern aus dem Weg geräumt oder gar ermordet.

Ganz so platt und eindimensional dürfte die Geschichte jedoch keineswegs verlaufen sein. Seitens der Fachkollegen dürfte es die verschiedensten Rückmeldungen gegeben haben. Von manchen erntete er Zuspruch, andere fanden seine Thesen zumindest interessant und einer näheren Debatte würdig, viele überschütteten ihn tatsächlich mit Kritik und Häme, ignorierten seine Daten und trachteten danach, ihn persönlich zu diskreditieren. Die heftigen und krass faktenaversen Anwürfe damaliger Koryphäen erklären sich wohl vor allem aus der als Zumutung und vielleicht narzisstische Kränkung empfundenen Erkenntnis, dass just die Ärzte selbst schuld am Tod vieler Frauen waren. Ein Mediziner, den dies schwer belastete, soll deshalb Selbstmord begangen haben.

Allerdings trug Semmelweis auch selbst einiges dazu bei, dass sich seine Lehre nicht rasch durchsetzte. Ein Biograf hielt fest: „Er hatte viele Gegner, doch sein größter Gegner war er selbst.“ Zum einen veröffentlichte Semmelweis, heute völlig undenkbar, seine Daten die längste Zeit nicht und erläutert seine Thesen zum Kindbettfieber auch nicht in Vorträgen. Fast eineinhalb Jahrzehnte verstrichen, bis er doch eine Publikation vorlegte, die aber dermaßen überbordend und teils verwirrend war, dass sich die Fachwelt vor allem irritiert zeigte. Außerdem interessierte er sich offenbar kaum für neue Forschungsresultate und wurde auch nicht hellhörig, als die Theorie der Bakterien aufkam.

Überdies änderte sich Semmelweis’ Verhalten gravierend: Er wurde zunehmend impulsiv, jähzornig und reizbar, er tobte, fluchte und beschimpfte Kollegen, hatte andererseits Phasen der Apathie und Antriebslosigkeit, vernachlässigte sein Äußeres, witterte überall Feinde, Neider und Intriganten. Forscher vermuten heute eine fortschreitende Erkrankung als Ursache. Die Symptome könnten zu einer Neurosyphilis passen, die nicht mit körperlichem Verfall einherging, aber mit einer dramatischen Veränderung des Charakters. So ging es wohl stetig bergab, bis zum jämmerlichen Ende in einer Zwangsjacke in der psychiatrischen Klinik in Wien-Döbling, wo ein Eiterherd platzte und Semmelweis’ Blut vergiftete.

In diesem Lichte ist der Fall Semmelweis wohl mehr persönliches Drama als ein symptomatisches Beispiel dafür, wie sich das „Establishment“ lästiger Kritiker entledigt. Ohne Zweifel ist es schwierig, versteinerte Überzeugungen aufzubrechen und neuen Erkenntnissen zum Durchbruch zu verhelfen, dennoch ist es ganz gewiss unzulässig, die schleppende Umsetzung effizienter Krankenhaushygiene monokausal darauf zurückzuführen – oder gar einzufordern, dass deshalb jeder gängigen Ansichten zuwiderlaufenden Minderheitenmeinung ebenfalls Berechtigung zukommt. Denn zum einen behauptete Semmelweis nicht einfach irgendetwas, zum Beispiel, dass Viren nicht krank machen, Wasser ein Gedächtnis besitzt oder der Klimawandel eine Erfindung ist. Er generierte solide Daten für seine Theorie, auch wenn er es verabsäumte, sie in angemessener Form zu publizieren. Semmelweis protokollierte penibel die Sterbestatistiken an der Geburtsklinik. Und er stellte überdies Vergleiche zu einer zweiten Klinik an, bezog also gleichsam eine Kontrollgruppe in seine Studien ein. Heute nennt man diese Praxis evidenzbasierte Medizin, eine ganz und gar dem Mainstream gehorchende Methode. Und zweitens: Bloß weil fallweise ein Pionier der Wissenschaft verkannt und ihm erst spät der verdiente Stellenwert zuteil wird, ist der Umkehrschluss noch längst nicht erlaubt: dass jede Meinung, gleich wie abwegig, Aufmerksamkeit und Respekt verdient, sofern sie sich nur vehement gegen etablierte Ansichten stemmt.

So wäre es fein, wenn wir Anfang Juli einen großen, tragischen Visionär der modernen Medizin würdigen könnten, ohne ihn gleichzeitig zum Schutzpatron der Obskuranten zu erheben.

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Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft