Im Porträt: Katalin Karikó, die Erfinderin der mRNA-Technologie
Sie sei froh und erleichtert, sagt Katalin Kariko. Froh, dass es funktioniert und sich all die Mühe gelohnt hat; erleichtert, dass mit den ersten Impfungen gegen das Coronavirus eine Klasse völlig neuartiger Präparate endlich den Markt erreicht hat, deren Erforschung sie gut vier Jahrzehnte ihrer wissenschaftlichen Karriere gewidmet hat. Die Praxistauglichkeit der beiden Impfstoffe „Comirnaty“ und „Moderna“ ist eine späte Bestätigung und Genugtuung für die Biochemikerin, die in Ungarn geboren wurde und den Großteil ihrer akademischen Laufbahn an amerikanischen Universitäten zugebracht hat. Schon Ende der 1970er-Jahre begann sie sich mit den Grundlagen des Herzstücks der beiden Vakzine zu befassen: mit der mRNA-Technologie, die es erlaubt, den Bauplan von Proteinen in menschliche Zellen zu schleusen – mit dem Ziel, den Körper zum Beispiel gegen Viren zu wappnen.
Jetzt sitzt Kariko in ihrem Home Office in Philadelphia, berichtet vom fantastischen Potenzial künftiger mRNA-Anwendungen gegen zahlreiche Erkrankungen, von einem dadurch möglichen Paradigmenwechsel in der Medizin und vom langen, zähen Ringen um die ersten Erfolge abseits des Labors. Kariko blickt auf eine außergewöhnliche Forschergeschichte zurück. Es ist eine Geschichte voller Hürden, Rückschläge und Entäuschungen, zugleich geprägt von bahnbrechenden Entdeckungen, die jedoch verkannt oder ignoriert wurden – mit Ausnahme einiger schlauer Biotech-Entrepreneure, die deren Bedeutung verstanden und Unternehmen gründeten, deren Namen heute die ganze Welt kennt: Biontech, Moderna, Curevac. Nicht wenige Kollegen meinen, dass Katalin Kariko logische Nobelpreis-Kandidatin ist: für ihre Leistungen als wissenschaftliche Pionierin, ohne die die mRNA-Impfungen gegen Covid-19 nicht denkbar wären.
RNA ist die Abkürzung für Ribonucleic acid, die Ribonukleinsäure. Sie besteht aus Phosphor, Zucker und organischen Basen und stellt gleichsam ein Gegenstück zur DNA dar, zu unserem genetischen Code, in dem die Erbinformation gespeichert ist. mRNA ist eine spezielle Form von Ribonukleinsäure, wobei das „m“ für messenger steht, also Bote. Die Bezeichnung erklärt sich aus der Funktion der mRNA: Sie liest jene Abschnitte der DNA ab, die Gene enthalten, und fertigt eine Art Arbeitskopie davon an, was Transkriptase heißt. Die Kopie ist im Gegensatz zur DNA-Doppelhelix einsträngig und wird aus dem Zellkern, wo die Erbinformation fest gebunden ist, ins umgebende Zellplasma exportiert. Dort übersetzt der mRNA-Strang den genetischen Code in eine Anleitung zur Herstellung von Proteinen. Dieser Prozess wird Translation genannt. mRNA liefert, basierend auf dem genetischen Bauplan, die Gebrauchsanweisung und den Produktionsauftrag für die Proteinfabriken im Plasma.
Proteine sind Eiweiße, die aus Aminosäuren bestehen und elementares Baumaterial für unsere Zellen bilden – und daher für den gesamten Körper. Abertausende von ihnen formen Muskeln, Herzgewebe, Haut und Haare und steuern eine Unzahl an Funktionen unseres Organismus. Wenn er Antikörper ins Gefecht gegen Krankheitserreger schickt, kommandiert er nichts anderes ab als eine Armee aus Eiweißstoffen. Umgekehrt machen uns Proteine das Leben schwer: Allergien? Ausgelöst durch Pollenproteine. Autoimmunerkrankungen? Fatale Engleisungen von Eiweiß des Immunsystems. Virale Erreger? Entern den Körper, indem sie mittels spezieller Eiweiße an unsere Zellen andocken. Im Fall von SARS-CoV-2 handelt es sich um das Spike-Protein, gegen das sich auch alle Impfungen richten. Fehlerhafte Proteine stehen ebenso im Verdacht, Demenz und Nervenleiden wie Alzheimer und die Creutzfeld-Jakob-Krankheit zu verursachen.
Letztlich fußt alles Leben wesentlich auf Proteinen, und zahlreiche Krankheiten unterliegen ihrem Einfluss. Wer sich Zugang zum Reich der Proteine verschafft, dringt zu einem zentralen Uhrwerk der Biologie vor. mRNA ist prinzipiell das optimale Werkzeug dafür, da sie den Bauplan für die Eiweiße birgt. „messenger RNA ist die Software des Lebens“, proklamiert Stephen Hoge, der Boss von Moderna.
Karalin Kariko begann ihre Arbeit 1978 an der ungarischen Universität Szeged. Die Entdeckung der mRNA lag etwa eineinhalb Jahrzehnte zurück und war für junge Forscher ein attraktives Thema, dessen weitere Untersuchung nahelag. Man dürfe nicht glauben, sagt Kariko, sie sei eine derart visionäre Wissenschafterin gewesen, dass ihr das Potenzial auf Anhieb eingeleuchtet hätte. Vielmehr befasste sie sich einfach mit der neuen Materie, führte Experimente durch, studierte die Merkmale verschiedener Formen von Ribonukleinsäure. Die Biochemikerin interessierte sich aber auch für andere Fachbereiche, beispielsweise für Viren.
Lange währte das Forscherdasein in Szeged nicht. 1985 wurde Karikos Position gestrichen, und die damals 30-Jährige musste sich einen neuen Job suchen. In Europa hatte sie kein Glück, doch es gelang ihr, eine Stelle an der Temple University in Philadelphia zu finden. Allerdings waren der Wechsel aus Ungarn in die USA und der Aufbau einer neuen Existenz zu dieser Zeit nicht einfach: Erlaubt war die Mitnahme von nur 100 Dollar. Weitere rund 1000 Dollar schmuggelte sie außer Landes, indem sie das Geld in den Teddybären ihrer zweijährigen Tochter einnähte. Es stammte aus dem Verkauf des Autos ihrer Eltern auf dem Schwarzmarkt.
Der ersten Anstellung in Amerika folgte ein Job in Washington, ab 1989 forschte sie an der University of Pennsylvania, die bis heute ihre wissenschaftliche Heimat ist. Hier trat für sie immer deutlicher zutage, dass Boten-RNA durch Programmierung von Proteinen womöglich den Schlüssel zur Behandlung vieler Krankheiten birgt. Sie zweifelte nie daran, dass dies den Weg zu einer völlig neuen Medizin ebnen könnte. Doch mit dieser Überzeugung allein war nicht viel gewonnen. Kariko stand vor allem vor jeder Menge ungelöster Fragen und kniffliger Rätsel. Die Grundidee war zwar evident: Mithilfe von mRNA kann man Zellen dazu bringen, Proteine herzustellen, mit denen sich wiederum physiologische Prozesse im Körper anstoßen lassen – um etwa Antikörper freizusetzen oder Tumorzellen zu attackieren. Aber wie genau sollte das funktionieren?
Um den gewünschten Effekt zu erzielen, muss man wissen, welches Protein man überhaupt braucht. Man muss es zunächst identifizieren und dessen Bauplan kennen: die Abfolge der genetischen Buchstaben. Es ist, als wollte man tatsächlich eine Botschaft an die Zellen schreiben, die dort einen konkreten Befehl ausführt. Der Text der molekularen Depesche muss entsprechend sinnvoll und verständlich sein sowie klare Anweisungen enthalten. Anschließend muss das Eiweiß synthetisiert, also Buchstabe für Buchstabe nachgebaut werden.
Dann die nächste Hürde: Wie bekommt man es in die Körperzelle? RNA ist negativ geladen, die Zellmembran ist ebenfalls negativ geladen – wie lässt sich die Abstoßung überwinden? Ein weiteres Problem stellt dar, dass mRNA im Gegensatz zur DNA extrem instabil ist und in kürzester Zeit zerfällt. Der Kontakt mit ein paar Enzymen genügt, und das Material ist Biomüll. „Aus diesem Grund war die Arbeit damit lange eher unbeliebt“, erklärt der Wiener Molekularbiologe Martin Moder, weshalb die Szene der mRNA-Forscher recht überschaubar ist. Und schließlich stand Kariko vor noch einem Stolperstein, der ihr lange zu schaffen machte: Wenn sie in ihrem Labor erste Anwendungen testete, löste sie in Zellkulturen oder bei Mäusen stets eine starke Entzündung aus. Sie hatte keine Erklärung dafür.
Sie versuchte, wie in den USA üblich, Fördermittel für ihre Forschungen einzuwerben, schrieb Antrag um Antrag. Einer nach dem anderen wurde abgelehnt. Im Verlauf der 1990-Jahre sammelte sie reihenweise Absagen. Man erklärte ihr, ihre Arbeit sei abstrakt, nutzlos und führe nirgendwo hin. Sie steckte in der Sackgasse, überlegte schon, sich einem anderen Betätigungsfeld zuzuwenden, machte dann aber doch weiter; strengte sich noch mehr an, begann ihre Arbeitstage um sechs Uhr morgens, auch an Wochenenden, übernachtete manchmal im Labor.
Gegen Ende des Jahrzehnts unterhielt sich Kariko eines Tages beim Kopierer an der Uni mit einem Kollegen, dem Molekularbiologen Drew Weissman. Kariko sagte, sie könne jede Art von mRNA herstellen. Weissmann hatte eine Menge Erfahrung mit dem Einsatz von Ribonukleinsäure bei der Impfstoffentwicklung. Die beiden beschlossen, das Problem der überschießenden Immunreaktion gemeinsam zu lösen. 2005 war es geschafft: Da hatten Kariko und Weissman die Schwachstelle aufgespürt – in Form einer Base der mRNA, also eines der genetischen Bausteine. Diese Base heißt Uracil. Ist es an Zuckermoleküle der Ribonukleinsäure gekoppelt, spricht man von Uridin, und genau dieses sogenannte Nukleosid hatte die bösen Entzündungen hervorgerufen. Die Forscher ersetzten es durch eine leicht abgewandelte Form, das Pseudouridin – und die Entzündungen blieben aus. Das war der Durchbruch, den jedoch kaum jemand beachtete.
Zu den Ausnahmen zählte Derrick Rossi. Der Zellbiologe kapierte, welche Türen die Entdeckung von Kariko und Weissman öffnen würde und gründete 2010 das Unternehmen Moderna. Der Name steht für „modified RNA“. „Wieviele Krankheiten beruhen auf fehlerhaften Proteinen? Fast alle“, sagte Rossi gegenüber dem Fachjournal „Nature“. Er vertritt die Ansicht, dass Kariko und Weissman den Chemienobelpreis erhalten sollten.
Bereits 2008 entstand im deutschen Mainz ein anderes Startup, das wesentlich auf mRNA-Technologie setzt: Biontech, dessen Köpfe eine breite Öffentlichkeit kennt, seit sie den Wettlauf um die erste Impfung gegen das Coronavirus gewannen: Ugur Sahin und Özlem Türeci, zwei passionierte und immens produktive Forscher, deren Arbeit ebenfalls in wichtigen Punkten auf den Pionierleistungen von Kariko und Weissman beruht. Der Kreis hat sich mittlerweile gewissermaßen geschlossen: Seit 2013 fungiert Kariko als Senior Vice President von Biontech.
Inzwischen sind auch die anderen Probleme der Anfangsphase weitgehend gelöst: Die modernen Methoden der Sequenzierung erlauben es heute in kürzester Zeit, Proteine Buchstabe für Buchstabe auszulesen und anschließend zu synthetisieren – sofern man weiß, auf welches Eiweiß man abzielt. An der Technik mangelt es längst nicht mehr: So war das gesamte Genom von SARS-CoV-2 innerhalb zweier Wochen entschlüsselt. Weiters haben die Forscher einen Trick gefunden, um mRNA in Körperzellen zu manövrieren und sie zugleich besser haltbar zu machen. Dazu benutzen sie lipidhaltige Nanopartikel. Das sind im Grunde kleine Fetttröpfchen, an denen die mRNA-Moleküle kleben. In diesem Tandem ist die Gesamtladung positiv, sodass eine Bindung an die negativ geladene Zellmembran möglich ist. Die Lipide verleihen der mRNA außerdem Stabilität – zumindest für einige Tage, was aber genügt.
Somit waren die Grundlagen für mRNA-Therapien geschaffen. Katalin Kariko hatte zur Verfügung, was sie eine „universelle Plattform“ der Medizin nennt.
Im April 2018 fand in Massachusetts eine Tagung von Biowissenschaftern statt. Sie debattierten jüngste Erkenntnisse und Horizonte der mRNA-Technologie. Es war eine Positionsbestimmung, ein Ausblick auf eine „Disruption“ in der Medizin, auf das nächste große „Ding“ nach der ersten Welle der Gentherapien. Die Vortragenden scheuten keine griffigen Vergleiche: mRNA sei wie ein Memorystick, der den Körper mit wichtiger Information versorge; derart errichte man die Arzneimittelfabrik direkt im Körper. Immerhin würden die Zellen mRNA nutzen, um statische Gene in dynamische Proteine zu übersetzen, in Rohstoffe des Lebens.
Es ist eine überschaubare Forschergemeinde, man kennt einander seit vielen Jahren und kooperiert häufig. Sie stehe in regelmäßigen Kontakt mit ihren Kollegen, sagt Kariko. Alle paar Wochen telefoniere sie mit Leuten bei Moderna, um Sachfragen zu erörtern. Heute stehe man aufgrund der Covid-Impfungen zwar auch im Wettbewerb, dennoch tausche man sich aus und unterstütze einander. Diese gewachsene Zusammenarbeit ist neben Karikos grundlegenden Entdeckungen wohl auch ein Grund, warum die neuen mRNA-Impfstoffe sehr ähnlich funktionieren.
Bei der Konferenz 2018 präsentierten die Redner den Stand der Forschung und mögliche therapeutische Anwendungen. Beispiel Herzerkrankungen: Es gelang, ein Protein namens Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) in den Herzmuskel einzubringen. Auf diese Weise soll verletztes Herzgewebe direkt im Organismus repariert werden. Noch klappt nicht alles wie geplant, das Ziel ist aber, in Zukunft mit dieser Methode Menschen zu behandeln, die kürzlich einen Herzinfarkt erlitten haben. Beispiel Zystische Fibrose, ein erbliches Stoffwechselleiden, das verschiedene Organe, besonders aber die Lunge schädigt: Hier ist das Ziel, mittels mRNA-Bauanleitung das schadhafte Protein CFTR anzusteuern. Nach demselben Prinzip ließe sich eine ganze Reihe weiterer genetischer Erkrankungen ins Visier nehmen. Beispiel Allergien: Längst kennt man das genetische Profil der wichtigsten auslösenden Antigene – jener Moleküle in den Pollenproteinen, die das Immunsystem von Allergikern verrückt spielen lassen. Mithilfe von mRNA-Therapien kann es gelingen, auf Basis dieser Antigene maßgeschneiderte Immunbehandlungen zu entwickeln, die das Immunsystem zur Toleranz gegenüber den im Grunde harmlosen Polleneiweißen erziehen.
Die am intensivsten beforschte Anwendung ist allerdings jene gegen Krebs. Für viele Forscher und Pharmaunternehmen stand diese Form der Krebsimmuntherapie besonders im Fokus, als sie Möglichkeiten der mRNA auszuloten begannen. Ausgestattet mit molekularbiologischer Information über eine bestimmte Krebsart, soll sich das Immunsystem entsprechend umorganisieren und lernen, Tumorzellen anzugreifen. Biontech in Deutschland verfolgte, bevor die Coronaviruspandemie einsetzte, sogar hauptsächlich das Konzept, das Immunsystem gezielt gegen Tumoren zu lenken – und hat mit der Forschung auf diesem Gebiet inzwischen gut 20 Jahre Erfahrung. Heute gibt es Studien zu verschiedenen Krebsformen, darunter Melanome und Prostatakrebs.
Die Ansätze der Forschergruppen variieren von Fall zu Fall, die gemeinsame Strategie dabei ist jedoch, die Bauanleitung für tumorspezifische Rezeptoren von Immunzellen an die Körperzellen zu schicken. In der Zelle produziert, sollen die Rezeptoren nun in der Lage sein, Schlüsselstellen von Tumorzellen zu erkennen – und die Krebszellen in der Folge zu zerstören. Dies wäre eine mRNA-basierte Impfung gegen Krebs.
Gegenüber klassischen Gentherapien hat dieser Ansatz einen entscheidenden Vorteil: DNA peilt den Zellkern an und kann sich grundsätzlich in unser Erbgut integrieren. mRNA hingegen erfüllt ihre Funktion im Zellplasma, sozusagen im Vorzimmer des Zellkerns – und damit gleichsam außerhalb des Allerheiligsten humanen Seins. Und da sie außerdem anders aufgebaut ist DNA, schlüpft sie per definitionem nicht ins Erbgut – weshalb mitunter geäußerte Befürchtungen, die Corona-Impfung könne unser Erbgut verändern, nicht zutreffen. Zugleich ist ein altes Problem der mRNA hier sogar ein weiterer Vorzug: Sie ist instabil und kurzlebig, sodass sie auch im Zellplasma nicht überdauert. Sie erfüllt ihren Job und wird nach ein paar Tagen zur Gänze abgebaut.
Trotz aller theoretischen Attraktivität ist mRNA-Krebstherapie eine knifflige Aufgabe. Denn Krebszellen sind Meister der Verwandlung. Sie mutieren ohne Unterlass, verändern andauernd ihr Erscheinungsbild und sind daher hochgradig mobile Ziele, die sich geschickt tarnen. Die Taktik der Forscher ist daher die gänzlich individuelle Therapie: Man entnimmt per Biopsie eine Tumorprobe eines konkreten Patienten, sequenziert diese und identifiziert die zentralen Mutationen. Dann wird die genetische Information in einen mRNA-Abschnitt umgeschrieben, den die Körperzellen zur Produktion passender Rezeptoren benötigen.
Moderna-Boss Stephen Hoge fasste die Ambitionen der Forscher bei der Tagung in Massachusetts in folgende Worte: „Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es nicht zu schaffen ist. Es gibt jeden Grund zur Annahme, dass es harte Arbeit wird.“
Neben Krebstherapien konzentrieren sich Wissenschafter schon seit der Frühzeit der mRNA-Forschung auf einen weiteren bedeutenden Bereich, dem erst mit dem Coronavirus breite Aufmerksamkeit zuteil wurde: Impfungen gegen Infektionskrankeiten. In den vergangenen Jahren entwickelten Forscher bereits Vakzine gegen HIV, Influenza, Tollwut, gegen das Zika- und das Respiratorische Synzitialvirus. Tests beschränken sich hier aber noch auf präklinische Studien oder solche in relativ frühen Phasen.
Auch wenn keine dieser Innovationen bisher den Markt erreicht hat, stellen Impfstoffe, verglichen mit der Krebstherapie, rein wissenschaftlich eine relativ leichte Übung dar. Denn man muss nicht für jede einzelne Person einen passenden Impfstoff ersinnen, sondern nimmt klar definierte Schlüsselstellen eines Virus in den Blick. Von einer „niedrig hängenden Frucht“ sprachen mRNA-Wissenschafter bei ihrem Meeting 2018. Ein Bericht über die Tagung enthält eine aus heutiger Perspektive fast hellsichtige Passage: Die konventionelle Herstellung von Impfstoffen gehe zu langsam vonstatten, um neu aufkeimenden Epidemien angemessen zu begegnen. Sollte eine Pandemie drohen, seien daher Präparate auf mRNA-Basis die Mittel der Wahl. Denn es sei nur eine Frage von Wochen, auf diese Weise einen passenden Impfstoffkandidaten zu entwickeln.
Der genetische Code von SARS-CoV-2 war Mitte Jänner 2020 entschlüsselt. Fast augenblicklich machten sich Forscher in jenen Unternehmen ans Werk, die auf mRNA-Technologie spezialisiert sind: Moderna in den USA, Biontech in Deutschland, Curevac ebenfalls in Deutschland. Schon am 7. Februar stellte Moderna den ersten Impfstoffkandidaten fertig, Biontech annähernd zeitgleich. Rasch starteten dann die klinischen Studien. Alle mRNA-Entwickler setzten auf das Kariko-Weissman-Rezept, sodass die Präparate ähnlich wirken: Per Impfung wird die Bauanleitung des Spike-Proteins ins Zellplasma geschleust. Die Zellen produzieren anschließend selber Spike-Proteine und entsenden sie an ihre Oberfläche. Derart wird das Immunsystem auf diese Substanzen aufmerksam und prägt sie sich ein. Bei echtem Kontakt mit Coronaviren ist die Körperabwehr vorgewarnt und schickt sofort Antikörper und Immunzellen ins Geschehen, um die Eindringlinge unschädlich zu machen. Ein großer Vorteil dieser Methode ist, dass der Organismus durch die Impfung nicht mit Viren in Berührung kommt – im Gegensatz zu traditionellen Vakzinen, die Viruspartikel benutzen, um das Immunsystem zu erziehen. Bei der mRNA-Impfung indes genügt der Bauplan eines Proteins, den Rest erledigt der Körper selbst, und die eingeschleuste mRNA ist nach kürzester Zeit abgebaut.
Von Eingeweihten abgesehen, war es eine ziemliche Überraschung, als im Herbst 2020 von Biontech die Verfügbarkeit der ersten Impfung gegen Covid-19 vermeldet wurde. Selbst viele Experten hatten für ausgeschlossen gehalten, dass dies innerhalb weniger Monate möglich sein könnte – und falls doch, so die Annahme, würden gewiss klassische Tot- oder Vektorimpfstoffe das Rennen machen. Freilich war es im Wahrheit kein Erfolg weniger Monate, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung, das bloß erstmals wirklich wahrgenommen wurde. Damit ist auch der oft gehörte Einwand hinfällig, bei den mRNA-Impfstoffen handle es sich um neue, kaum erprobte Präparate, die hastig zusammengemixt worden seien.
Doch warum hat es sonst noch keine Anwendung auf den Markt geschafft, wenn so fleißig geforscht wird? Weil unter dem Eindruck der Pandemie der öffentliche Wille und auch das Geld vorhanden waren, solch einem Präparat zur Anwendung zu verhelfen – eine Unterstützung, die Katalin Kariko die längste Zeit versagt geblieben war.
Kariko hat im Moment dichte Arbeitstage. Viel Zeit für Gespräche mit Journalisten bleibt da nicht. Ein Thema sind zurzeit natürlich die Mutationen des Coronavirus. Es sei im Grunde keine große Sache, diesem Problem zu begegnen, sagt Kariko. Sobald die mutierten Stellen im Virusgenom identifiziert seien, koste es vier Tage, um eine neue mRNA-Vorlage zu erstellen und den Impfstoff anzupassen. mRNA sei auch in dieser Hinsicht bestechend: Hat man präzise Daten über das anzusteuernde Protein, geht alles sehr schnell. Zudem handle es sich um eine günstige Technologie.
Als wäre die Pandemie nicht fordernd genug, befasst sich Kariko parallel dazu noch mit weiteren Anwendungen. Im Jänner erschien ein Fachartikel im Wissenschaftsjournal „Science“, an dem sie sowie die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci beteiligt waren. Die Publikation beschreibt den Einsatz von mRNA-Therapien gegen ein so rätselhaftes wie furchtbares Leiden: Multiple Sklerose. MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der eine Fehlfunktion des Immunsystems Entzündungen auslöst, welche die Myelinscheiden der Nervenfasern zerstören. Es kommt zu schweren neurologischen Folgen, weil die Signalübertragung der Nerven beeinträchtigt ist.
Die Forscher prüften am Mausmodell den Effekt eines mRNA-Impfstoffs gegen MS. Das Prinzip, vereinfacht ausgedrückt: Die Impfung schickt einen auf die MS-Auslöser abgestimmten Protein-Code in Zellen der Lymphknoten. Anschließend wird er im gesamten Lymphgewebe verteilt und erzeugt eine Toleranz des Immunsystems gegen jene Antigene, die MS verursachen. Die teuflische Entzündung unterbleibt. An den Labormäusen zeigte sich, dass sich die Krankheit tatsächlich vermeiden lässt oder, wenn bereits im Frühstadium ausgeprägt, ein Fortschreiten gestoppt werden kann.
Immunforscher befanden, die Studie sei „höchstwertig und wissenschaftlich von größter Bedeutung“. Zugleich warnten sie jedoch vor allzuviel Enthusiasmus. Denn anders als bei der Maus seien jene Substanzen, die beim Menschen für MS verantwortlich sind, im Detail noch nicht bekannt. Diese gelte es daher zunächst aufzuspüren.
Dass es noch allerlei Hürden zu nehmen und harte Nüsse zu knacken geben wird, liegt freilich in der Natur der Sache. Welche Anwendungen könnten aber als nächstes den Praxiseinsatz erreichen? Kariko geht davon aus, dass es vor allem Therapien sein werden, die auf die Beeinflussung des Immunsystems abzielen, neben Impfungen etwa die Krebsimmuntherapie, eventuell die Behandlung von Allergien. Schwieriger könnte es in Bereichen werden, in denen Reaktionen des Abwehrsystems kontraproduktiv sind. Eine große Herausforderung sind zudem Krankheiten, die direkt auf fehlerhaften oder solchen Proteinen beruhen, deren Funktion im Genom lahmgelegt ist. Das kann neurdogenerative Symptombilder, zum Beispiel aber auch genetisch bedingte Lungenleiden betreffen.
Zugleich versprechen jüngere Technologien allerdings auch neue Therapieansätze, etwa durch die Vermählung der mRNA-Methodik mit CRISPR/Cas9 – der viel debattierten Genschere, die eine gezielte Bearbeitung von Abschnitten des genetischen Codes erlaubt. Verquickt mit mRNA, könnte es einen entscheidenden Vorzug geben: Denn die Manipulation der DNA birgt grundsätzlich das Risiko sogenannter Off-target-Effekte, unbeabsichtigter Einflüsse auf das Erbgut abseits des Zielgebiets. Da mRNA aber eben nicht das Erbgut tangiert, droht dabei diese Gefahr nicht, soweit bisher bekannt.
In jedem Fall wird es für Forscher wie Katalin Kariko noch eine Menge kniffliger Fragen zu beantworten geben, bevor mRNA-Therapien in breiterem Umfang verfügbar sind. Aber daran ist sie schließlich seit vier Jahrzehnten gewöhnt.
Zellprogrammierung
Wie die Corona-Impfung auf mRNA-Basis funktioniert.
Alle mRNA-Anwendungen für die Medizin beruhen auf der Beeinflussung von Eiweiß. Im Fall der Corona-Impfung nutzten die Forscher einen Teil des Spike-Proteins des Virus, mit dem es an humane Körperzellen andockt. Die genetische Information des Spike-Proteins wird zunächst in die Zellen geschleust. Im Zellplasma stellt unser Organismus nun selbst Spike-Proteine her und schickt sie an die Zelloberfläche. Dort sind sie für Immunzellen gut erkennbar, sodass unser Abwehrsystem sich deren Profil einprägt und beim Kontakt mit einem echten Coronavirus vorgewarnt ist. Dann schickt das Immunsystem sofort Antikörper und Immunzellen los, um die Angreifer zu bekämpfen. Die ins Zellplasma eingebrachte mRNA wird nach der Impfung rasch wieder abgebaut.