Ingeborg Rapoport promoviert mit 102 Jahren: "Alles im Kopf behalten“
profil: Ist es ein tolles Gefühl, mit über 100 Jahren Doktor der Medizin geworden zu sein? Ingeborg Rapoport: Ehrlich gesagt: Es geht. Ich hatte ja bereits einen Doktortitel aus Amerika. Schön war aber, dass die Universität Hamburg nach so langer Zeit aufarbeiten wollte, dass die Nationalsozialisten meine Promotion aus rassischen Gründen verhindert hatten.
profil: Wie kam es zu der späten Nachprüfung? Rapoport: Es war Zufall. Einer meiner Söhne ist Molekularbiologe. Beim Plaudern mit einem Kollegen aus Hamburg erwähnte er die Sache mit meiner Dissertation. So kam alles ins Rollen. Das deutsche Staatsexamen in Medizin hatte ich ja bereits, es fehlte nur noch diese eine Prüfung, um Dr. med. zu werden. Es hat dann allerdings noch einmal 18 Monate gedauert, bis ich offiziell zur Verteidigung meiner Dissertation aus den 1930er-Jahren zugelassen wurde.
profil: Warum? Rapoport: Meine Arbeit ist verschwunden. Sie muss irgendwo hier im Haus liegen, wo ich seit mehr als 60 Jahren lebe. Wir haben alles abgesucht. Zum Glück fand meine Tochter zumindest die Bescheinigung, die mir der betreuende Professor 1938 ausgestellt hatte. Er schrieb, dass er die Arbeit annehmen würde, wenn es gesetzlich möglich wäre. Aber ich war eben Halbjüdin, wie das unter den Nazis hieß, und durfte daher nicht promovieren. Die Uni Hamburg bot mir 2015 schließlich einen Ehrendoktortitel an. Als ich ablehnte, hieß es: Okay, dann müssen Sie eben die Prüfung machen.
Ich bin generell eine große Befürworterin des Impfens, auch gegen viele Kinderkrankheiten.
profil: Waren Sie aufgeregt? Rapoport: Das kann man wohl sagen. Und ich denke, ich habe schon bessere Prüfungen abgelegt. Den Experten imponierte aber, dass ich meine damalige Arbeit selbstkritisch beurteilt habe. Sie war ja, ehrlich gesagt, ziemlich jämmerlich. Wenn mir ein Doktorand heute so etwas vorlegen würde, könnte ich das nicht akzeptieren.
profil: Worüber haben Sie geschrieben? Rapoport: Es ging um Lähmungserscheinungen bei Diphtherie. Dazu hatte ich Tierversuche mit Meerschweinchen durchgeführt. Heute untersucht man solche Phänomene molekularbiologisch. Und auch über solche moderne Ansätze musste ich in der Prüfung natürlich referieren.
profil: Wie haben Sie sich vorbereitet? Rapoport: Das war nicht einfach, zumal ich stark sehbehindert bin. Ich kann nur noch ganz langsam mithilfe einer Lupe lesen. Notizen kann ich mir gar keine mehr machen. Ich muss alles im Kopf behalten. Eine meiner Schwiegertöchter hat mir geholfen. Drei Monate lang telefonierten wir mehrmals die Woche. Ich stellte meine Fragen und ließ sie in Fachbüchern und im Internet recherchieren. Beim nächsten Termin übermittelte sie mir die Antworten, und ich stellte neue Fragen.
profil: Warum das Thema Diphtherie? Rapoport: Als ich jung war, forderte diese Seuche, die die Atemwege zerstört, sehr viele Todesopfer. Und noch in den frühen 1950er-Jahren wurden in Mitteleuropa viele Menschen befallen. Da gab es zwar bereits die Möglichkeit einer Impfung, aber sie wurde noch nicht flächendeckend angeboten. Ich bin übrigens generell eine große Befürworterin des Impfens, auch gegen viele Kinderkrankheiten.
profil: Impfskeptiker sagen: Lässt man sich nicht impfen, bekämpft das körpereigene Immunsystem die Erreger selbst, und das ist gut für den Organismus. Rapoport: Das kann schon mal zutreffen. Und selbst an Diphtherie muss man nicht unbedingt sterben. Aber das Risiko ist leider groß. In den frühen 1930er-Jahren habe ich als Studentin in der Diphtherieabteilung eines Krankenhauses gearbeitet. An eine Begebenheit erinnere ich mich noch besonders gut: Ein Mädchen, etwa acht Jahre alt, sollte bald entlassen werden. Als seine Eltern durchs Zimmerfenster guckten, richtete es sich freudig im Bettchen auf, kippte nach hinten und war tot. Auch wegen solcher Erinnerungen befürworte ich das Impfen.
Um den amerikanischen Doktortitel zu erlangen, musste ich extra noch einmal zwei Jahre studieren.
profil: Ihre frühe Kindheit haben Sie in Kamerun verbracht, wo Ihr Vater Kolonialkaufmann war. Erinnern Sie sich noch an diese Zeit? Rapoport: Ich bin 1912 schon im Alter von sechs Wochen nach Deutschland gezogen. Meine Mutter konnte nicht stillen, und es gab keine Kühe in Kamerun. Milchpulver war damals noch nicht auf dem Markt. Daher mussten wir zurück nach Europa. Anfangs wohnten wir in Hamburg in einer Fünfzimmerwohnung, in einer gutbürgerlichen Gegend. Aber dann hat mein Vater die Familie verlassen, und wir waren knapp bei Kasse. Wir hatten aber reiche Verwandte, die eine Tuchfabrik besaßen. An einen grauen Herrenanzugsstoff erinnere ich mich noch gut. Daraus bekam ich ein Kleid.
profil: Ausgerechnet 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, trat Ihre Mutter zum jüdischen Glauben über. War das nicht sehr leichtsinnig? Rapoport: Sie wollte ein Zeichen setzen. Meine Mutter war ein großartiger Mensch, voller Trotz und Mut. Falls der Druck durch das Regime zu groß würde, war ihr klar, dann müssten wir eben das Land verlassen.
profil: War es 1938 Jahren ein Schock, dass Sie nicht zur Promotion zugelassen wurden? Rapoport: Auch davor wurde ich bereits diskriminiert. Ab 1933 durfte ich zum Beispiel die Mensa nicht mehr betreten und bekam als Kennzeichen einen gelben Studentenausweis. Ich war als "Halbjüdin“ von da an immer stigmatisiert.
profil: Braucht man als Ärztin denn unbedingt einen Doktortitel? Rapoport: In Deutschland oder Österreich normalerweise nicht unbedingt. Das Staatsexamen, das ich ja hatte, reicht aus. In den USA aber, wo ich nach 1938 lebte, ist man ohne den Titel "Doctor of Medicine“ kein Arzt. Anfangs musste ich daher gegen Kost und Logis den Kollegen im Spital zuarbeiten. Und um den amerikanischen Doktortitel zu erlangen, musste ich extra noch einmal zwei Jahre studieren.
profil: Haben Sie die Zeit in den USA dennoch genossen? Rapoport: Ich hatte dort großartige Professoren. Und ich habe in Cincinnati meinen wunderbaren Mann Mitja kennengelernt. Er war so humorvoll und ein sehr engagierter Arzt und Forscher. Unter anderem entwickelte er eine Methode, die Blutkonserven länger haltbar machte. Tausenden im Zweiten Weltkrieg verwundeten GIs rettete sie das Leben. Aber aufgrund unserer politischen Einstellung bekamen wir nach 1945 bald Schwierigkeiten. Dabei waren wir nur ein kleines kommunistisches Grüppchen, das sich gegen Rassismus und für bessere Arbeitsbedingungen engagierte. Das reichte zu Beginn des Kalten Krieges aus, um in den USA als Staatsfeind verdächtigt zu werden. Auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära wurden unsere Kinder im Garten mit Steinen beworfen.
Besonders wichtig war mir der Schulterschluss zwischen Gynäkologen und Kinderärzten.
profil: Und dann? Rapoport: Wir versuchten, in allen möglichen Ländern Asyl zu bekommen. Erfolglos. In der Sowjetunion wollte man aus Angst vor Spionage keine Westemigranten, im Westen hielt man uns für politisch suspekt. Mitja wollte am liebsten nach Österreich. Aufgewachsen ist er ja in Russland, aber ab dem achten Lebensjahr lebte er mit seinen Eltern in Wien. Dort hat er die Mittelschule besucht und später Chemie und Medizin studiert und promoviert. Erst 1937, kurz vor der Annexion Österreichs durch Nazideutschland, emigrierte er in die USA. Mitja hatte ein Wiener Herz, und er hat auch ein bisschen mit österreichischem Akzent gesprochen.
profil: Warum hat es mit Wien nicht geklappt? Rapoport: Ab 1950 lebten wir vorübergehend dort. Der Lehrstuhl für Medizinische Chemie an der Universität Wien war neu zu besetzen. Mitja war fachlich der beste Kandidat. Die Fakultät und der Rektor der Universität hätten ihn gern genommen. Dennoch hat es nicht geklappt. Der Dekan vertraute Mitja unter dem Siegel der Verschwiegenheit schließlich den Grund an: Der amerikanische Geheimdienst hatte interveniert und gedroht: "Wenn der Rapoport eingestellt wird, streichen wir die US-Subventionen.“ Die Wiener Uni war zu arm und abhängig, um sich zu widersetzen. Immerhin gestattete der Direktor des Physiologischen Instituts Mitja, seine Studien zur Nierenphysiologie aus den USA dort fortzusetzen. Allerdings ohne Bezahlung. Das Institut war so knapp bei Kasse, dass Mitja sogar das Klopapier selbst mitbringen musste. Wir wären trotzdem gerne in Österreich geblieben. Aber unser Antrag auf Asyl wurde zwei Mal abgelehnt. Kontakte durch die KPÖ ermöglichten schließlich unsere Emigration in die DDR.
profil: 1969 wurden Sie an der Charité in Ostberlin auf die erste Professorenstelle für Neonatologie in ganz Europa berufen. Rapoport: Eigentlich ist ja egal, wer die Erste war. Es lag damals einfach in der Luft, dass es dieses Fachgebiet braucht.
profil: Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt? Rapoport: Besonders wichtig war mir der Schulterschluss zwischen Gynäkologen und Kinderärzten: Ich wollte eine umfassende Versorgung von Neu- und Frühgeborenen ermöglichen. Als ich begann, war die Geburtshilfeabteilung der Uni in Ostberlin noch viele Kilometer von der Kinderklinik entfernt. Und Neugeborene wurden im Notfall im Rettungswagen für Erwachsene transportiert, das war sehr riskant. Alte Professoren mauerten. Doch in der ganzen DDR bildeten sich Gruppen von Ärzten, die die Zusammenarbeit vorantrieben. Noch heute habe ich Verbindungen zu Mitstreitern aus dieser Zeit.
Als ich im Bauch des Teddys statt des Blinddarms Sägespäne fand, war ich sehr enttäuscht.
profil: In Ihren Memoiren schreiben Sie: "Ab 1989 lebten wir sozusagen im Westen, mit all den Folgen.“ Das klingt wehmütig. Rapoport: Manche meiner Erinnerungen an die DDR sind in der Tat beinahe zärtlich. Ich hatte erlebt, wie das Land große Schritte vorwärts machte, gerade in meinem Fachgebiet. Ich stand hinter diesem System. Und die sogenannte Wende 1989 schmerzte mich, denn ich merkte bald: Viele unserer Errungenschaften werden sich im neuen System nicht bewahren lassen. Bei Krankenhäusern spielt es heute ja beispielsweise eine große Rolle, ob sie schwarze Zahlen schreiben. Dabei ist die Medizin kein Bereich, in dem man Profit erwirtschaften sollte. In Medizin, Kultur und Sozialwesen darf das Streben nach Gewinn aus meiner Sicht keine Rolle spielen.
profil: Die DDR war humaner? Rapoport: Wir haben dort auch Fehler gemacht. Es gab von staatlicher Seite etwa zu viel Misstrauen gegen Intellektuelle. Alle Akademiker betrachtete man als potenzielle Systemfeinde, und ihre Kinder wurden gegenüber Arbeiterkindern benachteiligt. Kinder von Politikern und Funktionären galten übrigens automatisch auch als Arbeiterkinder. Das war zum Beispiel unfair.
profil: Würden Sie sich heute noch als Kommunistin bezeichnen? Rapoport: Ich bin Sozialistin. Und ja, ich würde auch sagen, ich bin Kommunistin. Ich glaube an die Ideale der Französischen Revolution.
profil: Sie mussten selbst mehrmals fliehen. Wie nehmen Sie die aktuelle Flüchtlingskrise wahr? Rapoport: "Wir schaffen das!“ ist wahrscheinlich der einzige Ausspruch von Kanzlerin Angela Merkel, den ich unterschreiben würde. Kein Mensch verlässt sein Vaterland fluchtartig, außer er muss. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Aber derzeit macht sich leider ein Generalverdacht gegen Flüchtlinge breit: Nach den jüngsten Attentaten neigen viele Menschen dazu, alle Migranten dafür verantwortlich zu machen, was einzelne tun.
profil: Was würden Sie studieren, wenn Sie noch einmal jung wären? Rapoport: Immer wieder Medizin. Ärztin war ja schon im Alter von vier Jahren mein Traumberuf. Da wollte ich Chirurgin werden. Ich führte an meinen Kuscheltieren Operationen durch. Als ich im Bauch des Teddys statt des Blinddarms Sägespäne fand, war ich sehr enttäuscht.
Ich bin hinterher oft unglücklich, wenn ich höre, was ich gesagt habe.
profil: Mit vier Jahren wussten sie bereits über Blinddarmentzündungen Bescheid? Rapoport: Ja. Einer meiner Großväter war Arzt. Und bei uns zu Hause wurde oft über Medizin gesprochen. Die Musik war allerdings noch prägender. Meine Mutter war Pianistin.
profil: Sie werden bald 104 Jahre alt. Womit halten Sie sich geistig fit? Rapoport: Mit Hörbüchern: Biografien, Weltliteratur und Krimis, mindestens sechs Stunden pro Tag. Seit einiger Zeit nehme ich an einer Studie teil. Forscher aus den Niederlanden untersuchen Menschen, die über 100 Jahre alt sind. Unter anderem sollte ich den Inhalt einer Geschichte nacherzählen. Das fiel mir recht schwer.
profil: Tatsächlich? Rapoport: Vielleicht dachte ich, ich müsse alles wörtlich wiedergeben und war daher zu angespannt. Zahlenreihen konnte ich auch rückwärts ziemlich gut memorieren. Aber mündlich bin ich halt generell nicht so gut. Ich bin hinterher oft unglücklich, wenn ich höre, was ich gesagt habe.
Zur Person
Ingeborg Rapoport, 1912 geboren, studierte an der Universität Hamburg Medizin. 1938 schrieb sie ihre Doktorarbeit über Diphtherieforschung. Die Zulassung zur mündlichen Prüfung - und damit die Promotion - wurde ihr jedoch von den Nazis aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verweigert. Bald darauf emigrierte sie in die USA, wo sie den Doctor of Medicine erwarb. 1952 emigrierte sie mit ihrer Familie in die DDR. 1969 wurde Rapoport an der Kinderklinik der Charité Professorin für Neonatologie. Bis heute lebt sie selbstständig in ihrem Haus in Berlin. Im Mai 2015 verteidigte sie an der Uni Hamburg ihre Doktorarbeit - fast 80 Jahre nach deren Anfertigung. Mit 102 Jahren war Rapoport weltweit der älteste Mensch, der ein Promotionsverfahren abschloss.