Wien soll der neue Hotspot für das erstmals in Kuba aufgetretene Havanna-Syndrom sein. US-Geheimdienstmitarbeiter, Diplomaten und andere Regierungsbeamte sollen unter den mysteriösen Beschwerden leiden.

Ist das "Havanna-Syndrom" nun auch in Wien angekommen?

Bereits 2016 wurden mysteriöse Symptome unter US-Diplomaten und Geheimagenten bekannt. Nun sollen ähnliche Symptome auch in Wien aufgetreten sein.

Drucken

Schriftgröße

Dieser Artikel erschien erstmals im profil Nr. 38 / 2018 vom 17.09.2018.

Thanksgiving, November 2016, Havanna. Ein amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter, getarnt als Diplomat, begab sich nach dem traditionellen Truthahnessen ins Bett. Seine Villa stand im Vorort Cubanacàn, wo auch der kubanische Langzeitführer Fidel Castro eine Bleibe hatte, ebenso wie der neue Präsident Miguel Díaz-Canel. Entsprechend gesichert war die Nachbarschaft, durch die laufend Polizisten und private Sicherheitsdienste patrouillierten. Es wurde dennoch eine unruhige Nacht für den CIA-Agenten: Ein schrilles Zirpen riss ihn aus dem Schlaf. Die schützend über die Ohren gelegten Hände und Kissen halfen nicht. Benommen taumelte er über den Flur ins Wohnzimmer, was den Ton ein wenig milderte. Er habe das nervtötende Geräusch "seltsam gebündelt" wahrgenommen, in manchen Räumen stärker, in machen schwächer, gab der Mann später zu Protokoll. Es sollte ihm in den folgenden Wochen immer wieder den Schlaf rauben.

Alle klagten über quälendes Summen, Schaben oder Fiepen im Ohr

Der Agent blieb nicht der Einzige. Anfang 2017 waren 26 US-Diplomaten, Geheimdienstler und deren Familienmitglieder in der kleinen Botschaftsklinik in Havanna vorstellig geworden. Auch einige kanadische Diplomaten waren betroffen. Alle klagten über quälendes Summen, Schaben oder Fiepen im Ohr. Dazu kamen Folgeerscheinungen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Schlaflosigkeit, Gehirnschwellungen, Seh-und Sprachstörungen, Ohrenschmerzen, Angstzustände und Nasenbluten. Bald sprachen alle in der Klinik von der "perfekten Gehirnerschütterung ohne Erschütterung". Das Gehör eines damals 35-jährigen Beamten wurde angeblich so stark verletzt, dass er seither auf ein Hörgerät angewiesen ist. Im Frühjahr 2018 litten US-Diplomaten in China unter denselben Symptomen. Elf Botschaftsmitarbeiter wurden sofort aus den Städten Guangzhou, Shanghai und Peking evakuiert.

Seit Jahren laufen hektische Ermittlungen von FBI, CIA und einer von Außenminister Mike Pompeo eingerichteten Task Force. Verdächtigt wurden allen voran die Kubaner, nun scheinen sich die Behörden unbestätigten Angaben des Fernsehsenders NBC zufolge auf die Russen zu konzentrieren. Doch was war eigentlich passiert? Zahlreiche Wissenschafter beschäftigten sich mit möglichen Ursachen der Attacken: Mediziner, Nachrichtentechniker, Physiker, Psychologen, Insektologen und Schallforscher wurden auf die Causa angesetzt oder dazu befragt. Hatte ein spezielles Virus die Beschwerden ausgelöst? Oder eine geheime Ultraschallwaffe? War doch nur das laute Zirpen tropischer Insekten schuld? Oder hatte sich das Botschaftspersonal gar in eine Massenhysterie hineingesteigert?

Die plausibelste Erklärung lieferte eine Medizinerin

Die bislang - zumindest in der Theorie - plausibelste Erklärung lieferte die Medizinierin Beatrice Golomb von der University of California Anfang September. Ihre Diagnose: Konzentrierte Mikrowellen könnten die seltsamen Beschwerden ausgelöst haben. Golombs Theorie fehlen freilich stichhaltige Beweise, offiziell bestätigt wurde sie nicht.

Zunächst hatte der damalige Botschafter, Jeffrey De-Laurentis, die Klagen seiner Mitarbeiter wenig ernst genommen. Präsident Barack Obama hatte den nüchternen Diplomaten und Kubaexperten 2015 als ersten vollwertigen Botschafter seit 1961 eingesetzt. Er sollte Obamas Politik der Öffnung vorantreiben. DeLaurentis hatte bereits viele Missionen in Kuba hinter sich. Er wusste, dass Diplomaten dort häufig gepiesackt wurden. Aufgestochene Autoreifen, zurückgehaltene Pakete aus der Heimat, vergiftete Haustiere: Solch üble Streiche gab es zum Beispiel dann, wenn sich Diplomaten mit kubanischen Dissidenten getroffen oder Fidel Castros Regime sonstwie verärgert hatten. (Die Amerikaner trieben dasselbe Spiel übrigens mit kubanischen Vertretern in Washington.)

Die Angriffe hatten eine neue Qualität

Diese Angriffe hatten jedoch eine neue Qualität. De-Laurentis musste Anfang 2017 die ersten Mitarbeiter für umfassende Untersuchungen in die USA ausfliegen lassen. Dem neuen Präsidenten Donald Trump kam die Affäre nicht ungelegen: Im Wahlkampf hatte er angekündigt, die Beziehungen zu Kuba einschränken zu wollen - nun bekam er dafür einen Grund serviert. Schließlich ließ Trump einen Großteil des Botschaftspersonals evakuieren und wies 15 in Washington stationierte kubanische Diplomaten aus.

Kuba hingegen beteuerte von Anfang an seine Unschuld und vermutete eine Massenhysterie: "Wenn deine Regierung dir sagt: 'Du bist einer Attacke ausgesetzt. Wir müssen dich schnell hier rausbringen', und sich manche Menschen krank fühlen, dann besteht die Möglichkeit einer psychologischen Ansteckung", sagte Mitchell Valdés-Sosa, Direktor des Cuban Neurosciences Center. Er hatte die Vorfälle im Auftrag seiner Regierung untersucht. Glauben schenkten seiner Theorie nur wenige. Charles Rosenfarb, Chefmediziner des US-Außenministeriums, schloss psychologische Ursachen dezidiert aus. Bekräftigt wurde sein Urteil vom Neurologen Douglas H. Smith, der alle Betroffenen im Center for Brain Injury and Repair an der Universität von Pennsylvania untersucht hatte. Er attestierte dem Großteil seiner Patienten "Hirnverletzungen".

Sind tropische Zikaden oder doch konzentrierte Mikrowellen die Ursache für die Symptome?

Allan Sanborn, Biologe an der Barry Universität in Miami, staunte nicht schlecht, als eines Tages das FBI vor seiner Tür stand. Die vier Agenten hatten eine brennende Frage an den ausgewiesenen Insektenexperten: Könnten tropische Zikaden empfindlichen Diplomatenohren zugesetzt haben? Sie spielten Sanborn Tonaufnahmen vor. Sie waren von schlechter Qualität, manche kürzer, manche länger, aber alle in derselben Frequenz und mit demselben Zirpen darauf. "Es gab drei Möglichkeiten: Grillen, Zikaden oder Heuschrecken. Für mich klang es wie Zikaden", sagte Sanborn. Diese hätte man den Diplomaten allerdings in den Gehörgang stopfen müssen, um tatsächlich Schäden anzurichten, setzte der Forscher den FBI-Agenten auseinander. Er habe ihnen noch einige seiner Studien mitgegeben, anschließend aber nie wieder etwas von ihnen gehört, wie er später Journalisten erzählte.

Könnte es gar ein Versehen gewesen sein, eine neue Abhörmethode der Kubaner, die schiefgegangen war? Eher nein, erklärten frühere Geheimdienstler. Das irritierende Geräusch war vor allem nachts zu Hause und in Hotelzimmern aufgetaucht. Agenten daheim abzuhören, ist ein besonders aufwendiges Unterfangen, das man nur bei sehr wichtigen Einzelpersonen praktiziere, niemals aber in so großem Umfang. "Am Ende hat man einen Haufen Müll auf Band. Man muss sich durch Ehestreitigkeiten, Babygeschrei, Hundegebell und Stimmen aus dem Fernseher wühlen", sagte der ehemalige CIA-Agent Charles S. Faddis dem Aufdeckerportal ProPublica.

Schallwellen und Viren hatten Experten als Ursache ebenfalls relativ schnell ausgeschlossen, also stürzte sich die Medizinerin Beatrice Golomb auf Studien über die Folgen von konzentrierten Mikrowellen auf das menschliche Gehirn. Der New Yorker Neurologe Allan H. Frey hatte den Mikrowelleneffekt 1961 in einem Experiment mit Menschen nachgewiesen: Gepulste Hochfrequenzstrahlung, direkt auf die Schläfen gerichtet, kann im Bereich von 2,4 bis 10.000 Megahertz Geräusche im Ohr auslösen. Die Mechanismen dahinter sind nicht eindeutig geklärt. Vermutet wird, dass Mikrowellen die Temperatur im Gehirn minimal, aber sehr schnell erhöhen und eine akustische Druckwelle im Innenohr erzeugen (siehe Grafik). Das Phänomen heißt nach seinem Entdecker Frey-Effekt. "Alles passt bis ins Detail: Die Geräusche wurden von manchen Diplomaten gehört, von anderen nicht; die Geräusche wurden unterschiedlich wahrgenommen, als Zirpen, Läuten oder Schaben; manche beschrieben laserartige Beschallung und fühlten sich verfolgt", schreibt Forscherin Golomb. Auch die Folgeschäden stimmten mit anderen Mikrowellenstudien überein.

Mikrowellen als Hauptverdächtige?

Ein Manko hat Golombs Bericht, wie sie selbst einräumte: Sie kannte die Beschwerden selbst nur aus den Medien und hatte nie einen der Betroffenen persönlich gesehen. Doch auch Neurologe Smith, der alle Opfer untersucht hatte, bezeichnet Mikrowellen in einem Interview als "Hauptverdächtige". Offiziell bestätigt wurde das bisher nicht: "Wir stehen vor einer einzigartigen Konstellation von Symptomen ohne eine klare Ursache", sagte Charles Rosenfarb, Chefmediziner des Außenministeriums, vorvergangene Woche.

Nun versuchen die Amerikaner, die unbekannte Waffe nachzubauen. In der Kirtland Air Force Base in New Mexico experimentieren Militärs mit hochpotenten Lasern, elektromagnetischen Impulsen und Mikrowellen. Wie könnte ein Gerät aussehen, das Mikrowellen in hoher Intensität bündelt? Über welche Distanzen hinweg könnte es Schaden anrichten?

"So eine Waffe wäre nicht gänzlich denkunmöglich", sagt Wolfgang Bösch, Leiter des Instituts für Hochfrequenztechnik der Technischen Universität Graz. Er ist jedoch skeptisch wegen der großen Leistung, die sie benötigen würde, um die hohe Strahlung tatsächlich durch Mauern oder Fenster zu schicken. "Dafür bräuchte man mindestens einen Kleinbus voll Equipment", so Bösch. Dazu passt immerhin die Beobachtung einer Ehefrau eines US-Diplomaten. Sie befand sich in ihrem Haus an der Küste Havannas, als lautes Fiepen ertönte. Sie lief von Zimmer zu Zimmer, um die Quelle zu finden, schließlich schaute sie aus dem Fenster: Vor dem Haus stand angeblich ein Van, der in diesem Moment davonraste -und mit ihm das schreckliche Geräusch.

Könnten es die Russen gewesen sein?

Neu sind Mikrowellen in der Welt der Spionage nicht. Schon während des Kalten Krieges hatten Amerikaner und Russen damit experimentiert und sich Großes erhofft. Zum Beispiel die fantastische Möglichkeit, gegnerischen Agenten Botschaften in die Köpfe zu beamen. Das funktioniert freilich nicht, man kann aber heute mithilfe von elektromagnetischen Impulsen die Elektronik eines Autos, eines Flugzeuges oder eines Satelliten ausschalten. Ob dies die Absicht der Russen war, die die US-Botschaft in Moskau von 1953 bis Ende der 1970er-Jahre mit Mikrowellen bestrahlten, ist nicht bekannt. Von einem Wohnhaus 100 Meter vom Botschaftsgebäude entfernt setzten sie die Amerikaner damals unter Beschuss, die Strahlung fiel aber denkbar schwach aus. Das dürfte erklären, warum die USA nicht offensiv dagegen vorgingen. Sie reagierten erst, als die Sowjets die Strahlung 1975 intensivierten. Eine Studie stellte damals allerdings keine negativen Folgen für das Botschaftspersonal fest.

Stecken also wirklich die Russen dahinter? Präsident Wladimir Putin hat jedenfalls ein starkes Interesse, sowohl in Kuba als auch in China, nicht an Einfluss zu verlieren. Das zeigte nicht zuletzt Russlands größtes Militärmanöver seit der Sowjetunion, das vergangene Woche in Sibirien stattfand - und zu dem auch China eingeladen wurde. Die Angriffe auf Diplomaten fielen jeweils in heikle politische Perioden: Im Falle Kubas stand der Machtwechsel in den USA bevor, im Falle Chinas die Verhandlungen um einen Handelskrieg und das Treffen Trumps mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un.

Allan H. Frey, Entdecker des Frey-Effekts und jahrzehntelang Berater für amerikanische Ministerien und Behörden, hält sowohl Mikrowellenwaffen als auch eine Verschwörung Russlands mit Kräften in Kuba und China für wahrscheinlich. Das sagte Frey auch jenen Geheimdienstlern, die neulich bei ihm anklopften. Der heute 83-Jährige bezweifelt jedoch, dass es gelingen wird, dafür stichhaltige Beweise zu finden. Der "New York Times" sagte er: "Meiner Erfahrung nach wird es wohl ein Mysterium bleiben."

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.