"Wir könnten 70 Prozent des Lebens auf der Erde verlieren"

Jeremy Rifkin: "Wir könnten 70 Prozent des Lebens auf der Erde verlieren"

Ökonomie. Jeremy Rifkin: Welt ohne Kapitalismus

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Interview: Alfred Bankhamer

profil: Sie haben sich in den vergangenen vier Jahrzehnten stets mit den Auswirkungen von Wissenschaft und Technologie auf die Gesellschaft befasst. Es ging um Themen wie das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, eine dritte industrielle Revolution oder die Access-Gesellschaft, in welcher der Zugang zu Dingen wichtiger werden soll als das Eigentum. Ist Ihr neues Buch*) nun die endgültige Theorie über die künftige Entwicklung der Menschheit?
Jeremy Rifkin: Ich glaube, dass es das ist. Wichtig für mich ist nicht nur, die Widersprüche des bestehenden Systems aufzuzeigen, sondern eine Orientierung für die Zukunft zu bieten. Der kapitalistische Markt hat ein Wunderkind geschaffen, Shared Economy (die Ökonomie des Teilens), und damit das Wirtschaftssystem der Collaborative Commons, das auf Kollaboration und Teilen basiert.

profil: Sie glauben ernsthaft, dass der konventionelle Kapitalismus ausgedient hat?
Rifkin: Nein, er wird aber stark in Nischen verdrängt werden. Die Collaborative Commons sind das erste neue Wirtschaftssystem seit dem Kapitalismus und Sozialismus. Der Kapitalismus muss nun sein Baby füttern und ihm helfen, sich zu entwickeln, zu wachsen und zu reifen. Der Kapitalismus muss lernen, mit den Collaborative Commons eine Partnerschaft einzugehen. Das wird im nächsten halben Jahrhundert passieren. Es wird lange ein Hybridsystem existieren.

profil: Sie behaupten, dass auf dem Weg zu dem neuen Wirtschaftssystem die Grenzkosten eine zentrale Rolle spielen. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Rifkin: Das sind die Kosten für die Produktion einer zusätzlichen Einheit eines Gutes oder Dienstes, wenn die Fixkosten schon bezahlt sind. Im Kapitalismus suchen Unternehmer ständig nach neuen Technologien, um die Produktivität zu erhöhen und die Grenzkosten zu reduzieren. So können Unternehmen billiger produzieren und zugleich höhere Profite einfahren. Der optimale Markt herrscht dann, wenn man zu den Grenzkosten verkaufen kann. Aber niemand hat eine technologische Revolution vorausgesehen, die für einige Güter und Dienste die Grenzkosten wirklich gegen null gehen lässt. Die Güter sind dann fast kostenlos und im Überfluss vorhanden, etwa durch schnell replizierbaren 3D-Druck, also nicht mehr den Marktkräften ausgesetzt. Das passiert nun im massiven Ausmaß.

profil: Und zwar Ihrer These zufolge durch das neue Internet der Dinge, das alle über digitale Plattformen vernetzt, den einfachen Ausdruck von Produkten ermöglicht und sich auch noch selbst wartet. Das klingt zu schön, um wahr zu sein.
Rifkin: Allen großen Wirtschaftsrevolutionen in der Menschheitsgeschichte, von der Jägerkultur bis zum industriellen Kapitalismus, ist gemeinsam, dass drei Technologien zusammenkamen, um eine neue Technologieplattform zu bilden, und eine neue Infrastruktur, die das ganze ökonomische Leben bestimmt. Diese drei Technologien sind neue Formen der Kommunikation, innovative Quellen der Energie und neue Quellen des Transportes, um das Leben effizienter zu gestalten.

profil: Also von der Dampfmaschine, Kohle und dem Telegrafen zu Elektrizität, billigem Öl und Autos. Dann kamen das Internet und erneuerbare Energie. Was folgt nun?
Rifkin: Nun kommt die dritte industrielle Revolution. Die zweite hat ihren Höhepunkt im Juli 2008 erreicht, als die Erdölpreise auf 147 Dollar pro Barrel stiegen. Alles baut noch auf Erdöl auf, nicht nur Energie und Transport, auch die Düngemittel-, Pharma-, Bau- und Textilindustrie. Im Juli 2008 begannen die Menschen damit, nach dem konstanten Ölpreisanstieg ihren Konsum massiv einzuschränken. Das war das Erdbeben, das die globale Wirtschaft zum Stehen brachte. Der Zusammenbruch des Finanzsystems folgte 60 Tage später als klassisches Nachbeben.

profil: Aber die USA stehen dank Schiefergas derzeit ausgesprochen gut da.
Rifkin: Die Erholung wird langfristig nicht mehr kommen, solange wir im alten Kommunikations-, Energie- und Transportsystem bleiben, auch wenn wir Markt-, Arbeitsreformen und Investitionsprogramme starten. Ich garantiere, dass sich keine einzige Wirtschaft in der Welt unter diesen Rahmenbedingungen erholen wird.

profil: Sie sind also wirklich überzeugt, dass die Weltwirtschaft ohne dritte industrielle Revolution verloren ist? Das klingt ziemlich überzogen.
Rifkin: In Deutschland oder China zeigt sich schon das sehr frühe Stadium der dritten industriellen Revolution. Das Kommunikationsinternet wächst mit dem digitalen Energie-Internet und dem erst heranwachsenden GPS-geleiteten Transport- und Logistikinternet zusammen. Diese drei bilden das Internet der Dinge, das jedes Gerät und jede Einrichtung mit allen Menschen in einem System verbindet. Auch für nachhaltige Städte ist es erforderlich. Rad- und Autosharing allein genügen nicht. Es muss eine echte Digitalisierung und Vernetzung aller Systeme stattfinden. Wir haben schon rund 30 Milliarden Sensoren in Städten und Verkehrssystemen, in der Landwirtschaft, in Fabriken, Autos und Häusern installiert. Diese liefern Daten in Echtzeit an die Plattformen des Internets der Dinge.

profil: Bis 2030 sollen es mehr als 100 Billionen Sensoren sein.
Rifkin: Das kann niemand genau vorhersagen. Aber jedes Gerät, jede Maschine wird mit jedem Menschen verbunden. Heute sind drei Milliarden Menschen über das Internet vernetzt. In 25 Jahren könnte jeder mit dem Internet verbunden sein.

profil: Und warum soll dies eine Kultur des Teilens begünstigen?
Rifkin: Schon heute kann jeder über Internetplattformen Carsharing oder Homesharing betreiben. Zugleich bekommen wir ein transparentes Bild über alles, was in der Wirtschaft passiert, weil Sensoren Daten von überall an alle senden. Nicht einmal die großen Konzerne konnten bislang prüfen, was alles in ihrem Bereich passiert. Sie haben versucht, ihre Informationen vor den potenziellen Konsumenten und der Konkurrenz zu verbergen.

profil: Und in Zukunft?
Rifkin: Jeder Heimbesitzer, Sozialunternehmer oder Kleinunternehmer kann sein wirtschaftliches Umfeld genau beobachten und mit Apps die großen Datenmengen analysieren, um seine Produktivität und Wertschöpfungskette zu optimieren. Die Grenzkosten liegen dabei oft nahe bei null, womit wir sehr günstig Produkte und Dienste für den Markt oder eben die Shared Economy herstellen und teilen können.

profil: Aber dass deshalb eine sozial gerechtere, ressourcenschonendere Welt entsteht, lässt sich daraus noch nicht ableiten. Sind von Ihnen beschworene Ideale wie Teilen, Besitzverzicht und ein Abdrängen des Kapitalismus in Nischen nicht völlig utopische Vorstellungen?
Rifkin: Nun, da gibt es noch einige Joker im Spiel. Die wichtigste Frage ist der Klimawandel. Es geht hier um ein bedrohliches Rennen. Wir müssen so schnell wie möglich zu einer Beinahe-null-Grenzkosten-Gesellschaft gelangen, um rechtzeitig dramatisch den Klimawandel zu bremsen. Wenn wir das nicht schaffen, ist alles umsonst. Der Klimawandel ist die größte Krise, seit unsere Spezies auf diesem Planeten lebt.

profil: Dabei soll allein die Grenzkostenreduzierung helfen?
Rifkin: Das Erschreckende am Klimawandel ist, und das wurde bisher noch nie erklärt, dass sich die Wasserkreisläufe auf dem Globus verändern. Unsere Ökosysteme, die sich in Millionen Jahren entwickelt haben, basieren auf dem Wolken- und Wasserkreislauf. Jedes Grad Temperaturerhöhung, ausgelöst durch die industrielle Klimaerwärmung, lässt die Atmosphäre sieben Prozent mehr Wasserdampf durch die Erhitzung aufnehmen. Es wird also mehr und wildere Niederschläge geben, größere Schneefallmengen, Springfluten oder auch Hurrikans. Zugleich werden anderswo die Dürren schlimmer. Derzeit haben etwa die 25 Millionen Menschen in São Paulo in Brasilien kein Wasser mehr. Auch Kalifornien und viele andere Regionen sind von extremen Dürren betroffen. Die Ökosysteme können mit den dramatischen Änderungen des Wasserkreislaufes nicht mehr mithalten. Wenn sich das Klima weiterhin so rasch ändert, könnten wir laut Studien bis zum Ende des Jahrhunderts 70 Prozent des Lebens auf der Erde verlieren.

profil: Die neue digitale Gesellschaft, die Sie gern beschwören, birgt aber auch Gefahren, darunter das Risiko einer keineswegs gerechteren Welt, wenn etwa der Zugang zum Internet der Dinge einer Elite vorbehalten bleibt.
Rifkin: Einerseits bietet das Internet der Dinge sehr große Möglichkeiten für jeden und hilft, die Wirtschaft zu demokratisieren und nachhaltiger zu gestalten. Auf der anderen Seite gibt es große Herausforderungen: Wie können wir die Netzneutralität, die Gleichbehandlung aller Internetnutzer, garantieren und erreichen, dass nicht ein paar große Konzerne das Internet übernehmen. Es gibt auch große Bedenken im Bereich Datensicherheit, Privatsphäre, Cybercrime und Cyberterrorismus.

profil: Wenn also ein paar Unternehmen einen Bereich dominieren, sieht es schlecht für Ihr neues Wirtschaftssystem aus?
Rifkin: Dann geht der ganze Nutzen des Internets der Dinge verloren. Ich glaube aber, dass das nicht passieren wird. Die Musikindustrie hat mit digitaler Rechteverwaltung und Kriminalisierung versucht, die Kids am Musikteilen zu hindern. Aber man konnte den Trend nicht stoppen. Ich bin mehr um Internetunternehmen wie Google, Facebook oder Twitter besorgt. Das sind alles kapitalistische Unternehmen.

profil: Die aber am Aufbau der neuen digitalen Welt maßgeblich beteiligt sind. Oder etwa nicht?
Rifkin: Sicherlich. Aber wenn sie zu erfolgreich sind, so, dass wir nicht mehr ohne sie können, werden sie auch zum öffentlichen Gut. Monopolisierungen hat es auch bei Energie- und Telekomkonzernen in den USA gegeben. Für diese gewinnorientierten Privatunternehmen wurden Antitrust-Regeln eingeführt und Preise geregelt. Ich glaube, das wird nun auch in den neuen Industrien passieren. Es werden eine digitale Politik und digitale soziale Bewegungen entstehen.

profil: Bewegt sich die junge Generation schon in diese Richtung?
Rifkin: Ja, die junge Millenniumsgeneration wird wahrscheinlich bald eine Digital Bill of Rights
schreiben. Es geht ja hier um ihre Inhalte und
Daten. Das wird zu Konflikten mit den Internetunternehmen und künftig mit den Energiekonzernen führen. Aber selbst die Großkonzerne können nun dank der geringen Kosten für alternative Plattformen herausgefordert werden.

profil: Folgt man Ihrer Logik, müssten auch Handelsgesellschaften mit der Zeit verschwinden. Die braucht dann wohl keiner mehr.
Rifkin: Die E-Commerce-Website Etsy ist ein Beispiel dafür: 2005 von Jugendlichen gegründet, die selbst Möbel in einem Zimmer in Brooklyn herstellen wollten und einen Marktzugang benötigten. Heute ist fast eine Million kleiner Geschäfte auf ihrer Web-site, die zu fast keinen Grenzkosten ihre Produkte der ganzen Welt zeigen und verkaufen können. Hier kommen 60 Millionen Konsumenten auf eine Website ohne Mittelsmänner. Etsy erhält nur eine kleine Provision. Es wird künftig in jedem Sektor zu mehr Demokratisierung kommen.

profil: Wird in einer Welt des Teilens auch die ungleiche Verteilung des Reichtums zurückgehen?
Rifkin: Privateigentum als Lebensstil ist eine ziemlich moderne Erfindung. Das begann erst so richtig mit dem Kapitalismus. Ganz wird das Eigentum nicht verschwinden, aber es wird sich einiges ändern. Modernes Spielzeug zum Beispiel wurde in Ravensburg erfunden. Kindern wird eingetrichtert: Dies ist dein Spielzeug. Pass darauf auf, gibt es nicht deinem vierjährigen Bruder! Mein Spielzeug gibt mir also Status, Macht, Kontrolle und vieles mehr. Das lernt das Kind, um auch im kapitalistischen System bestehen zu können.

profil: Besitzdenken resultiert aus der Erziehung? Ist das nicht schlicht eine Eigenschaft des Menschen?
Rifkin: Wir sind an sich soziale Wesen, es liegt an der Erziehung. Nun gibt es schon zahlreiche Tauschplattformen. Bleiben wir beim Kinderbeispiel: Man könnte einem vierjährigen Mädchen auch sagen, pass auf dein Spielzeug auf, damit andere auch noch damit spielen können. Es lernt, das es mit dem Spielzeug nur einen Zugang für eine Erfahrung für eine gewisse Zeit bekommt. Kinder lernen so den Zugang zur Shared Economy und damit zu einer viel nachhaltigeren Wirtschaftsform.

profil: Werden diese raffinierten Plattformen, das Internet der Dinge und Big Data die Menschen nicht auch sehr abhängig von Technologien machen?
Rifkin: Ich hatte diese Diskussion kürzlich in Brüssel bei der Europäischen Kommission. Als das Militär in den USA in den 1950er-Jahren das Internet schuf, das damalige Arpanet, ging es von einem nuklearen Kriegsszenario aus. Die Idee war, dass, wenn ein Teil eines Systems ausgeschaltet ist, der Rest noch funktionieren sollte. Eine verteiltes Internet der Dinge für Information, Energie und Transport bedeutet, dass bei einer großen Naturkatastrophe oder Cyberterrorismus nur ein Teil des Systems lahmgelegt werden kann. Aber die Infrastruktur muss gegenüber elektromagnetischen Pulsen, Cybercrime, und Naturkatastrophen geschützt werden. Technologien haben Schattenseiten. Wenn wir nicht zumindest die Hälfte unserer Zeit für Maßnahmen gegen die Verletzbarkeit und die Missbrauchsmöglichkeiten aufwenden, etwa für gut verteilte Strukturen oder den gleichen Zugang, dann ist die Sache gelaufen.

profil: Ähnliche Probleme könnten aber auch smarte Maschinen und all die Roboter bringen, die Systeme selbstständig errichten und warten.
Rifkin: Wenn keiner mehr die Software versteht und die Fähigkeiten verloren gehen, die Systeme zu begreifen, ist das eine Gefahr, genau wie ein Angriff auf die Netzneutralität. Wir werden stärker abhängig vom System, aber zugleich auch generell unabhängiger. Wichtig ist, das wir den Schattenproblemen die gleiche Bedeutung zumessen wie den Vorteilen.

profil: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass eine Elite das System kontrolliert und sich das Ganze eher George Orwells Vision aus dem Roman „1984“ annähert?
Rifkin: All die Millionen Menschen, die heute schon ihre eigenen Informationen oder eigene Energie produzieren, werden das verhindern. Auch die vier großen Energiekonzerne in Deutschland können gegen den Trend lokaler Stromproduzenten nichts machen. In sieben Jahren wird hier das geschehen, was mit Medienkonzernen und der Musikindustrie schon passiert ist. Die Unternehmen versuchen sicherlich, ihr Geschäft zu verteidigen.

profil: Wird diese neue digitale Welt nicht ein Privileg für die reichen Länder sein. Wie können armen Regionen davon profitieren?
Rifkin: Das Internet der Dinge wird sich in den Entwicklungsländern schneller entwickeln. In der Subsahara verbreitet ein Sozialunternehmen Handys und Photovoltaik-Paneele. Früher mussten die Leute zwei Wochen bis zur Bank gehen, nun reicht eine SMS. Die Investitionen sind nach Wochen drinnen. Das verbreitet sich nun wie die Pilze.

profil: Sie haben schon viele Voraussagen seit Ihrem ersten Buch vor rund 40 Jahren gemacht. Sind Ihre Bücher nicht auch voller Prognosen, die sich niemals bewahrheitet haben? Was waren Ihre größten Irrtümer?
Rifkin: Die Leute fragen mich das oft. Und ich sage, dass sie einen Blick in meine Bücher werfen sollen. Wirklich große Fehlprognosen habe ich darin noch nicht entdeckt. Ich habe die Automatisation prognostiziert und 1980 mit „Entropie“ ein erstes Buch zum Klimawandel geschrieben. Ich schaue einfach, was so passiert.

Jeremy Rifkin, 69,
geboren am 26. Januar 1945 in Denver, Colorado, sorgt mit seinen Büchern, die sich vor allem mit dem Wandel der Gesellschaft und Wirtschaft durch Technologien auseinandersetzen, immer wieder für Aufsehen. Der Soziologe und Ökonom, der an der Wharton School unterrichtet, der ältesten Business School der Welt, zählt zu den maßgeblichen Gesellschaftstheoretikern und Visionären. Er berät zudem China, die EU und Regierungschefs wie Angela Merkel. Sein jüngstes Buch summiert viele seiner bisherigen Theorien. Das profil-Interview fand im Rahmen der Urban Future Conference in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in Graz statt.