Dossier: Crime

Joachim Wahl: „Ausgeweidet, geköpft und gevierteilt"

Der deutsche Anthropologe Joachim Wahl untersucht Tötungsdelikte aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Den Skeletten von Gladiatoren, Kannibalen und Königen entlockt er Erstaunliches über ihr Leben, Leiden und Sterben.

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Wenn eine Leiche gefunden wird, ist nicht immer sofort klar, ob die Mordkommission oder ein forensischer Anthropologe wie Sie zuständig sind. Woran liegt das?
Wahl 
Mord verjährt zwar nicht, aber wenn eine Leiche erst nach über 50 Jahren gefunden wird, werden üblicherweise keine polizeilichen Ermittlungen mehr eingeleitet. Diese Grenze ist schwerer zu bestimmen, als man denkt. Nach Jahrzehnten liefert oft nur noch die Durchwurzelung der menschlichen Überreste oder die Beurteilung eines Knochenquerschnitts im UV-Licht grobe Anhaltspunkte. Hinweise können auch Zahnprothesen, Kleidungsreste oder andere zeittypische Beifunde geben.
Kann man sich dabei irren?
Wahl
Es ist schon vorgekommen, dass Polizei und Rechtsmedizin ein 3000 Jahre altes Frauengrab aus der Bronzezeit als Fall für den Staatsanwalt einstuften. Die grünlich korrodierten Accessoires hielt man für billigen Modeschmuck.
Wer hat es schwerer: die Rechtsmedizinerin oder der Anthropologe?
Wahl
Letzterer. Ich kann keine Weichteile mehr analysieren, keine Körperflüssigkeiten oder Haare auf Gifte untersuchen. Aber einige Krankheiten und Gewalttaten können Spuren im Skelett hinterlassen. Für Anthropologen sind Knochen ein Archiv des Lebens, die durch neue forensische Methoden immer mehr Details preisgeben.
Welche Geheimnisse konnten Sie und Ihre Kollegen den Neandertalern entlocken?
Wahl
Heute sind DNA- und Isotopenanalysen unsere wichtigsten Instrumente. Sie liefern tiefe Einblicke in Herkunft, Aussehen und Lebensweise. Bei der Isotopenanalyse untersuchen wir jene chemischen Stoffe, die ein Individuum zu Lebzeiten durch Nahrung und Trinkwasser in Knochen und Zähne einlagerte. Demnach waren Neandertaler eher hellhäutig, häufig rothaarig und sommersprossig, die meisten von ihnen waren Rechtshänder. Sie pflegten ihre Kranken und bestatteten ihre Toten. Manche Neandertaler waren sogar Vegetarier, die meisten von ihnen aßen aber Fleisch von Mammuts, Pferden, Hirschen, Auerochsen, Hasen, Federwild und ab und zu von Menschen.
Die Neandertaler waren Kannibalen?
Wahl
Ja. Definitiv wissen wir das erst seit ein paar Jahren. Man fand Menschenknochen, die eindeutige Schlachtspuren aufweisen. Rein kulinarische Aspekte dürften aber in den seltensten Fällen eine Rolle gespielt haben. Wir gehen davon aus, dass die Neandertaler und frühe moderne Menschen ihre Artgenossen nicht gezielt erlegten, sondern zugegriffen haben, wenn sich die Gelegenheit oder Notwendigkeit ergab, zum Beispiel beim Tod eines Angehörigen oder bei Nahrungsengpässen. Schätzungen zufolge liefert ein 60 Kilo schwerer Mensch zwischen 114.000 und 126.000 Kilokalorien.
Auch bei den Azteken soll es Kannibalismus gegeben haben.
Wahl
Ja, wenn auch aus anderen Gründen. Das Weltbild der Azteken verlangte eine stetige Sicherung der kosmischen Ordnung. Im Zuge einer Dürreperiode Ende des 15. Jahrhunderts mussten ein Dutzend Gottheiten durch Menschenopfer befriedigt werden. Dabei ging man brutal zu Werke: Ein für den Gott Huitzilopochtli Auserwählter wurde von vier Priestern festgehalten, während ein fünfter dessen Brust mit einem Messer öffnete, das pochende Herz herauszog, gen Himmel streckte und schließlich in einer Opferschale verbrannte. Der Schädel wurde anschließend ausgestellt, der Körper jenem Krieger überlassen, der den Geopferten überwältigt hatte. Es waren Kriegsgefangene, die dem rituellen Kannibalismus zum Opfer fielen.
Sie können sogar Berufe oder Hobbys an einem Skelett ablesen. Wie geht das?
Wahl
Anhand der Muskelansatzstellen am Knochen. Sie zeigen, welche Muskeln stärker oder schwächer ausgeprägt waren. Das Skelett eines Keltenfürsten, der um 500 vor Christus im heutigen Baden-Württemberg lebte, wies auf ein häufiges Beugen der Unterarme hin. Demnach dürfte Bogenschießen ein bevorzugtes Hobby für Entwurfdie hohen Herrschaften der damaligen Zeit gewesen sein.
Dieser Keltenfürst war ein Genussmensch. Wie stellten Sie das fest?
Wahl
Erstens anhand eines 500 Liter fassenden Bronzekessels, der in seiner Grabkammer gefunden wurde und bei seiner Beisetzung mit Met gefüllt war. Typische Anzeichen am Gebiss ließen außerdem eine Vorliebe für säurehaltige Nahrung wie Früchte und Wein erkennen.
Mit 1,80 Metern war der Fürst ungewöhnlich groß. Hatten seine Zeitgenossen deshalb Angst, er könnte als Zombie wiederkommen?
Wahl
Möglicherweise. Der Grund für seinen hohen Wuchs war wahrscheinlich ein Tumor im Bereich der Hirnanhangdrüse, der eine verstärkte Ausschüttung von Wachstumshormonen verursachte. Eine Vertiefung an der Schädelbasis ist dafür ein Indiz. Um den Fürsten als Wiedergänger zu verhindern, vergriffen sich seine Zeitgenossen an den Grabbeigaben: Dem vierrädrigen Wagen fehlten die Achsnägel, die Schuhbeschläge des Fürsten lagen seitenverkehrt, ebenso wie die Pferdegeschirre am Wagen. Um ganz sicherzugehen, war die Grabkammer mit 50 Tonnen Gestein überhäuft worden.
Waren Maßnahmen gegen Zombies oder Vampire ein häufiges Phänomen?
Wahl
Schätzungsweise zehn Prozent der auf mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Friedhöfen Bestatteten hielt man für Untote. Sie bekamen eine Sonderbehandlung: Sie wurden post mortem gefesselt, gepfählt, ihnen wurden Organe entnommen oder Sicheln quer über die Kehlen gelegt.

Joachim Wahl,

Jahrgang 1954, ist Anthropologe und untersucht im Landesamt für Denkmalpflege in Konstanz seit über 30 Jahren Skelettfunde von der Steinzeit bis heute, die aufgrund ausgefeilter Analysemethoden immer mehr über den Alltag und das Sterben unserer Vorfahren preisgeben. Sein Buch „Knochenarbeit" beschreibt er 42 der spektakulärsten Fälle seiner Zunft.

Anthropologen werden auch bei aktuellen Mordfällen hinzugezogen. Was sind ihre Aufgaben?
Wahl
Dabei geht es vorrangig um die Feststellung des Sterbealters und der Herkunft des Opfers. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein komplexer Fall in Rottenburg bei Tübingen, wo Beerensammler im Jahr 1990 im Wald eine stark verweste, gefesselte Frauenleiche entdeckten. Wir fanden heraus, dass es eine Frau zwischen 25 und 30 Jahren aus Südeuropa gewesen sein musste, aber sie war weder in den Vermisstenanzeigen zu finden, noch brachte ein Aufruf bei "Aktenzeichen XY" entscheidende Hinweise. Bis ein Jahr später etwa einen Kilometer entfernt eine weitere, männliche Leiche gefunden wurde, in deren Hemdtasche sich ein Ausweis befand. Demnach handelte es sich um einen Ungarn, 57 Jahre alt, wohnhaft in der Schweiz. Die Frau war seine 26-jährige Lebensgefährtin, ebenfalls aus Ungarn stammend. Ein zwei Monate vor der Toten gefundenes, ausgebranntes Auto, in dem sich Reste von Campingausrüstung und Reisegepäck fanden, konnte man im Nachhinein ebenfalls dem Paar zuordnen.
Wurde der Mörder je gefasst?
Wahl
Leider nicht. Auch die Todesursache konnte nicht endgültig festgestellt werden, die zerrissene Kleidung der Frau deutete allerdings auf ein Sexualdelikt hin. Das Paar wurde wahrscheinlich zum Zufallsopfer.
Sie haben es mit vielen grausamen Todesarten zu tun. Welche Epoche war die brutalste?
Wahl
Das ist schwer zu sagen, da wir von bestimmten Kulturen kaum Gräber kennen, von anderen wiederum fast ausschließlich Gräber. Generell lässt sich sagen, dass Menschen seit der Altsteinzeit Gewalt gegeneinander ausüben. Als die Menschen sesshaft wurden, stiegen Bevölkerungsdichte, soziale Ungleichheit und damit das Konfliktpotenzial.
Besonders spektakulär war die Nachuntersuchung eines 1970 im britischen Staffordshire gefundenen Skeletts aus dem Mittelalter. Warum wurde der Mann im 14. Jahrhundert gevierteilt?
Wahl
Ursprünglich dachte man, auf die Überreste eines im Kampf Getöteten gestoßen zu sein. Tatsächlich handelte es sich bei dem Toten um Hugh Despenser den Jüngeren, den einflussreichen Berater von König Edward II. und, der Überlieferung nach, auch dessen Liebhaber. Er befand sich nach der Abdankung des Königs mit diesem auf der Flucht, wurde 1326 festgenommen und öffentlich hingerichtet: Er wurde an einer stehenden Leiter festgezurrt, gewürgt, dann schnitt man ihm die Hoden ab und warf sie vor seinen Augen ins Feuer. Er wurde anschließend ausgeweidet, geköpft und gevierteilt. Davon zeugen vertikale und horizontale Schnittspuren an der Wirbelsäule.
Waren Gladiatorenkämpfe weniger bestialisch?
Wahl
Nicht unbedingt. 80 Skelette aus dem römischen Legionslager Eboracum im nordenglischen York geben besonders tiefen Einblick in das Leben und Sterben der Gladiatoren. Es waren fast keine Briten darunter, sondern gut trainierte Männer zwischen 20 und 45 vom europäischen Festland, aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Mehr als die Hälfte waren geköpft worden oder durch Hammerschläge auf den Schädel gestorben. Einer der Gladiatoren wies Bissspuren eines großen Karnivoren - Löwe, Tiger oder Bär -auf. Unterlegene Gladiatoren wurden demnach wahrscheinlich gezielt exekutiert, während die überlegenen Kämpfer medizinisch hervorragend versorgt wurden. Das zeigten perfekt verheilte Frakturen.
Die Gladiatoren aus Ephesos in der heutigen Türkei litten häufiger unter Karies als der Rest der Bevölkerung. Warum?
Wahl
Ihre Diät bestand hauptsächlich aus Gerste und Bohnen. Dazu bekamen die Gladiatoren Getränke, die man mit Pflanzen-, Holz- oder Knochenasche anreicherte, um sie optimal mit Mineralien zu versorgen. Diese eintönige, breiig-klebrige Ernährung förderte zwar die Heilung, aber auch Karies. Dazu kam der vermutlich stark reduzierte Speichelfluss infolge häufiger psychischer Stresssituationen.

„Generell lässt sich sagen, dass Menschen seit der Altsteinzeit Gewalt gegeneinander ausüben. Als die Menschen sesshaft wurden, stiegen Bevölkerungsdichte, soziale Ungleichheit und damit das Konfliktpotenzial.

Das Verformen von Schädeln von Geburt an hatte vor allem in Südamerika und bei den Hunnen Tradition. Sie haben auch in Deutschland solche Schädel entdeckt. Wie das?
Wahl
Auf den Friedhöfen von Goten, Bajuwaren, Thüringern, Burgundern und Alemannen finden sich immer wieder Einzelne mit künstlich deformierten Schädeln. Bei den Hunnen in Zentralasien galt es offenbar als Schönheitsideal, Kindern jahrelang mit Bandagen den Kopf zu verformen. Das Einbinden von Steinen oder anderen harten Gegenständen machte die Kopfform noch spezieller. Lange Zeit dachte man, dass ausschließlich hunnische Frauen sie trugen, die nach Mitteleuropa heirateten. Doch neuere Isotopenanalysen zeigten eindeutig, dass auch Mitteleuropäer die Tradition praktizierten, und zwar bis 100 Jahre nach dem Tod Attilas und dem Zusammenbruch des Hunnenreichs.
Schädigte die Schädelform nicht das Gehirn?
Wahl
Neurologische Defizite waren nicht zwangsweise zu erwarten. Ob die Betroffenen eine Neigung zu Epilepsie entwickelten, ist allerdings medizinisch umstritten.
Welcher Fall hat Sie besonders gefesselt?
Wahl
Ein 7000 Jahre altes, sehr gut erhaltenes Skelett aus Schwetzingen in Baden-Württemberg. Der etwa 25-jährige Mann litt an einem sogenannten Nasenzahn. Das ist ein zusätzlicher Zahn, der in umgekehrter Richtung wächst und bei dem neolithischen Schwetzinger neun Millimeter in die Nasenhöhle ragte. Der Mann dürfte an einer heftigen Entzündung gelitten, längere Zeit von Fieberschüben geplagt worden und schließlich an einer Blutvergiftung gestorben sein. Dieses Krankheitsbild ist extrem selten und führt dennoch gut vor Augen, wie ein Leben ohne Medizin einst aussah. Heutzutage hätte man den Zahn operativ entfernt, Antibiotika verabreicht, und die Sache wäre erledigt gewesen.
Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.