Keine Frau hat dieses Jahr eine bahnbrechende Entdeckung gemacht?
Wie mag die Auswahl der Nobelpreisträger vonstattengehen? Leider kann niemand die Sitzungen der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften belauschen. Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass die Entscheidungsfindung ähnlich verläuft wie bei vielen Meetings: Jede Frage wird so lange zerkaut und durchgewalkt, bis ein lauwarmer Kompromiss herauskommt. Bloß nicht anecken, niemand soll Anstoß nehmen. Möglichst keine Angriffsfläche für Kritik bieten oder für den Vorhalt, man habe sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Zwar liegt die Vermutung nahe, dass die Kür der Kandidaten ohnehin immer diesem Muster folgt. Doch heuer ist deren Ergebnis besonders augenfällig, weil nachgerade absurd, zumindest im Bereich Medizin: Zwei amerikanische Forscher erweiterten das Verständnis der Sinneswahrnehmung durch die Beschreibung von Rezeptoren für Hitze und mechanische Hautreize. Fraglos interessante Entdeckungen, die man in anderen Jahren schlicht zur Kenntnis nehmen würde. Heuer aber hätte man geradezu zwingend einen Durchbruch der Medizin würdigen müssen, der exakt dem Anforderungsprofil Alfred Nobels entspricht. Er hatte verfügt, dass jene Leistung aus der jeweiligen Sparte auszuzeichnen sei, „die im abgelaufenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht hat“.
Und das war im Jahr 2021 ohne jeden Zweifel die mRNA-Technologie. Impfstoffe, die mithilfe der Boten-Ribonukleinsäure komponiert wurden, sind seit Ende des Vorjahres gegen Covid-19 im Einsatz und haben Millionen von Menschenleben gerettet. Das war auch schon zu Ende der Nominierungsfrist im Februar evident. Und man braucht weder besonders visionär noch übermäßig wagemutig zu sein, um zu prognostizieren, dass mRNA eine der wichtigsten Säulen einer Medizin der Zukunft sein wird: Ob Infektionskrankheiten, schwere Immunleiden oder Krebs – die gezielte Beeinflussung von Proteinen, Grundbausteinen des Lebens, wird eine ganze Generation neuer Therapeutika begründen.
Dass indes ein Temperaturrezeptor das Schicksal von Homo sapiens heuer maßgeblich geprägt hätte, dürfte den allermeisten Menschen entgangen sein. Es ist ausgeschlossen, dass sich die Schwedische Akademie dessen nicht bewusst war. Vielleicht war die halb gare Entscheidung eher von Feigheit getragen: vor dem hypothetischen Risiko, dass eines Tages, nach Milliarden erfolgter Impfungen, eine bisher unerkannte Nebenwirkung auftreten könnte und man sich dann für den Nobelpreis rechtfertigen müsste.
Dann lieber nicht. Doch selbst wenn es irgendwann zu einem Problem mit einem mRNA-Präparat kommen sollte, würde dies nichts am Potenzial der Erfindung ändern. Auch der Einwand, mRNA habe sich noch nicht ausreichend bewährt, zieht nicht: Die Grundlagen stammen aus den 1970er-Jahren, die entscheidenden Durchbrüche auf dem Gebiet liegen eineinhalb bis zwei Jahrzehnte zurück.
Womöglich fürchtete man sich in Stockholm aber auch schlicht davor, Position zu beziehen, nämlich für das Impfen? Das hätte die Akademie mit einer Verleihung eines Preises – zum Beispiel an Katalin Karikó, die Pionierin auf diesem Feld – auf jeden Fall getan. Es wäre ein so notwendiges wie erfreuliches Zeichen gewesen.
Keine einzige Frau soll in diesem Jahr bahnbrechende Entdeckungen gemacht haben, kein Chinese, keine Wissenschafterin aus Afrika?
Und die anderen Kategorien in der Naturwissenschaft, Physik und Chemie? Die Wahl in diesen Disziplinen nötigt auch nicht unbedingt Respekt ab. Auf dem Podest stehen im Wesentlichen ältere bis sehr alte, weiße Männer, darunter zwei 90-Jährige, deren wichtige Arbeiten Jahrzehnte zurückliegen. Nicht eine Frau, nicht eine Person unter 50, ausschließlich Forscher amerikanischer Institute sowie zwei Deutsche und ein Italiener. Keine einzige Frau soll in diesem Jahr bahnbrechende Entdeckungen gemacht haben, kein Chinese, keine Wissenschafterin aus Afrika? Die Wahl der Laureaten ist beschämend und vorgestrig.
Das ist keinesfalls als Kritik an den Prämierten selber aufzufassen. Die Entwicklung von Modellen, um klimatische Prozesse zu begreifen, ist enorm nützlich (Physik), Werkzeuge für die präzise Konstruktion von Molekülen ebenfalls (Chemie). Diese Wissenschafter haben unser Wissen definitiv bereichert – genau wie Tausende andere Forscherinnen und Forscher auf allen Kontinenten.
Es wäre auch im Hinblick auf das Ziel, mehr Interesse an und Begeisterung für Wissenschaft zu fördern, dringend angezeigt, diese vielfältige Szene junger und älterer, weiblicher und männlicher Forschernaturen aus allen Winkeln der Welt angemessen abzubilden, die unter großem Einsatz an drängenden Fragestellungen der Gegenwart arbeiten.
Das Signal aus Stockholm dagegen lautet: Wissenschaft ist etwas für alte Männer.