BRAUN STATT GRÜN: Die Getreidesaat in Waltersdorf 
ist kahlgefressen.

Klimawandel: Biblische Mäuseplage im Weinviertel

Die Äcker des Weinviertels werden von einer beispiellosen Mäuseplage heimgesucht. Der Klimawandel beschert den Nagern – wie vielen anderen Schädlingen auch – perfekte Bedingungen. Wie können sich die Bauern dagegen wappnen?

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Das Jedenspeigener Ritterfest, ein alljährlicher Höhepunkt im östlichen Weinviertel, musste Anfang August auf zwei seiner Stars verzichten. Die beiden zur Flugshow angereisten Falken gingen zwar in die Luft, kehrten aber nicht auf den Arm des Falkners zurück. Zu verlockend war das übervolle Buffet auf den Äckern rund um die kleine Gemeinde.

Jedenspeigen im Bezirk Gänserndorf befindet sich im Kerngebiet einer beispiellosen Mäuseplage. Selbst die Ältesten können sich nicht erinnern, dergleichen je erlebt zu haben, sagt Ernst Fradinger. Der Landwirt führt über seine Felder im angrenzenden Waltersdorf an der March. Auf dem Boden reiht sich Mausloch an Mausloch. Auf einem Baum sitzen zwei junge Seeadler, am Himmel tummeln sich Habichte, Falken und Bussarde. Bis vor Kurzem folgten seinem Traktor beim Grubbern bis zu 30 Störche auf Mäusejagd, nun haben sie sich auf den Weg in den Süden gemacht. „Diese Getreidefelder müssten eigentlich grün sein“, sagt Fradinger. Stattdessen herrscht fahles Braungrau. Die Nager haben die frische Saat kahlgefressen.

Auf dem Erdäpfelacker von Hannes Andre nebenan sieht es nicht besser aus. Er sticht mit der Grabgabel ins Erdreich: Zum Vorschein kommen ein Mäusenest, zahlreiche Gänge und ausgehöhlte Knollen. „Ich rechne mit bis zu 50 Prozent Verlust“, sagt Andre. Die Zuckerrüben weisen faustgroße Löcher auf, von vielen Kürbissen ist nur mehr die Schale übrig.

Wetter spielt entscheidende Rolle

Im Weinviertel fielen die Nager über Zehntausende Hektar her, auch das Burgenland und Oberösterreich meldeten in diesem Sommer mehr Mäuse als üblich. Massenvermehrung ist bei Feldmäusen an sich nicht ungewöhnlich; sie findet alle zwei bis fünf Jahre statt. Normalerweise können die Bauern mit Fallen und Giftködern (die tief in die Gänge eingebracht werden müssen, um Greifvögel und andere Tiere zu schützen) gegensteuern, doch heuer mussten sie kapitulieren. Ähnlich starken Mausbefall meldeten Tschechien, die Niederlande, Spanien, die Schweiz und Deutschland. Seit Jahren beobachtet Jens Jacob vom Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen in Münster das Mäusetreiben im Nachbarland. Mitteldeutschland gilt als Epizentrum der Massenvermehrung, und Jacob weiß aus Erfahrung: Das Wetter spielt dabei eine entscheidende Rolle. „Von der im Wald lebenden Rötelmaus haben wir gesicherte Erkenntnisse, dass sich die Wetterbedingungen für die Massenausbreitung durch den Klimawandel häufen“, sagt Jacob. Entsprechende Beweise stehen bei der Feldmaus noch aus, sind aber durchaus wahrscheinlich.

Doch nicht nur die Mäuse befinden sich auf dem Vormarsch. Viele Schädlinge profitieren von den zunehmend trockenen, heißen Sommern und den milderen Wintern. Österreich spürt die Auswirkungen des Klimawandels besonders stark. Während die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen 100 Jahren um 0,9 Grad stieg, kletterte sie in Österreich um ganze zwei Grad in die Höhe. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen erwärmt sich die Luft über Landflächen schneller als über dem Meer. Zum anderen hat sich der subtropische Hochdruckgürtel nach Norden verlagert – ideal für Drahtwürmer, Maiszünsler, Traubenwickler, Kartoffelkäfer und andere Insekten: Sie werden den Bauern künftig vermehrt zu schaffen machen.

Wie können die Landwirte sich dagegen wappnen? „Vielfalt auf den Feldern und Vorbeugung“, rät die Pflanzenschutzexpertin Siegrid Steinkellner von der Universität für Bodenkultur (Boku). Vor dem Hintergrund der aktuellen Mäuseplage heißt das: Da die Nager vor allem über Gerste und Dinkel herfielen, ist ein Ackerbauer gut beraten, möglichst viele verschiedene Kulturen anzubauen. Wer eine vielseitige Fruchtfolge betreibt, ist vor einem Totalausfall der Ernte besser geschützt. Außerdem ist es sinnvoll, die Felder des Nachbarn mitzuberücksichtigen, um große Flächen mit nur einer Kulturpflanze zu vermeiden. In Deutschland rät man den Bauern, zu pflügen oder möglichst tief zu grubbern, um die Nester 20 bis 30 Zentimeter unter der Erde zu zerstören, und Randstreifen möglichst kurz zu mähen, damit sie nicht als Rückzugsorte dienen. „Ein Dilemma“, sagt Jens Jacob. Denn eigentlich gilt in der modernen Landwirtschaft genau das Gegenteil: Die Bauern bearbeiten ihre Äcker möglichst schonend, um der Erosion von fruchtbarem Humus und Wasserverlust vorzubeugen. Und Randstreifen gewähren auch Nützlingen dringend notwendigen Unterschlupf. Von diesen Prinzipien wolle man keinesfalls abrücken, heißt es in der Landwirtschaftskammer Niederösterreich. Derzeit sei tiefe Bodenbearbeitung unausweichlich, solle aber nicht zur Gewohnheit werden.

Hoffen auf "starken Regen"

Vorbeugend raten die Experten zudem zu Nistkästen für Eulen, Sitzstangen für Greifvögel sowie zu Hecken und Bewässerungsgräben, die Territorien schaffen und der ungehinderten Ausbreitung der Nager vorbeugen. Auch der Jagdtrieb von Katzen sei nicht zu unterschätzen, sagt Siegrid Steinkellner von der Boku.

Ernst Fradingers Sohn sät gerade Raps aus. Das geht allerdings nur auf den Feldern hinter dem Dorf, wo die eigenen Katzen und jene der Nachbarn etwas gegen die Mäuse ausrichten können. Die übrigen Äcker bleiben vorerst unbestellt, obwohl der Anbau bereits im vollen Gange sein sollte. Weizen und Wintergerste gehören unter die Erde, um noch heuer Triebe auszubilden – ein Startvorteil im kommenden Frühjahr, wenn nicht wieder die Mäuse darüber herfallen. „Seit zwei Monaten hoffen wir auf starken Regen“, sagt Ernst Fradinger. Bei heftigem Niederschlag ertrinken die Mäuse in ihren Gängen, das feuchte Erdreich fördert die Verbreitung von Krankheiten, die Population bricht zusammen.

Wird die Zunahme von Schädlingen auch zu größeren Mengen von Insektiziden auf den Feldern führen? Wahrscheinlich. Als der Drahtwurm vergangenen Herbst die Erdäpfelernte der niederösterreichischen Bauern dezimierte, ärgerten sich diese über den von Handelsketten verlangten Spritzmittelverzicht. „Im Frühjahr, als die heimischen Erdäpfel ausgingen, lagen welche aus Israel, Tunesien und Ägypten in den Supermarktregalen. Dort sind die Standards beim Gebrauch von Insektiziden wesentlich niedriger, von den Transportwegen ganz zu schweigen“, sagt Mandfred Weinhappel von der Landwirtschaftskammer Niederösterreich.

Mausmonitoring in Nachbarländern

Grundsätzlich stehen Konsumenten und Politik bei Pestiziden auf der Bremse. Neonicotinoide, die wirksamsten Mittel gegen den Kartoffelkäfer, wurden von der EU verboten, weil sie auch den Bienen schaden. Im Pflanzenschutz ist deshalb Kreativität gefragt. Der Traubenwickler, der größte Feind der heimischen Weinbauern, lässt sich zum Beispiel durch Pheromone verwirren. Durch künstliche Duftstoffe abgelenkt, sind die Männchen nicht mehr in der Lage, Weibchen zu finden. Dem Maiswurzelbohrer sei neben Pflanzenschutzmitteln mit einer konsequenten Fruchtfolge gut beizukommen, sagt Weinhappel von der Landwirtschaftskammer. Das bedeutet, nicht Mais auf Mais anzubauen, sondern ihn mit anderen Kulturen abzuwechseln. Natürliche Feinde wie Erdfliegen, Ohrwürmer, Marienkäfer, Florfliegenlarfen, Spinnen gezielt zu fördern, ist Teil der biologischen Schädlingsbekämpfung. Wie Nützlinge auf den Klimawandel reagieren werden, ist allerdings schwer abzuschätzen.

In Deutschland und der Schweiz gibt es bereits ein Mausmonitoring, in Österreich noch nicht. Frühwarnsysteme können durchaus helfen, um Plagen wie die heurige abzumildern. Diese zeichnete sich bereits im Herbst 2018 ab, als die Nager wegen des fehlenden Regens bis zu zwei Generationen mehr auf die Welt brachten als sonst. Für andere Schädlinge und Krankheiten gibt es bereits den Online-Warndienst der Kammer.

Wer kompensiert den Ernteausfall der Landwirte im Weinviertel? „Niemand“, sagt Ernst Fradinger. Von der Rapsernte hat er durch den trockenen Juni 30 Prozent verloren, bei der Sommergerste war es ähnlich, bei den Zuckerrüben rechnet er mit etwa 50 Prozent Ausfall, die Mäuseschäden an den Kürbissen sind noch nicht abzusehen. Bisher verzichteten Fradinger und Nachbar Andre auf die Trockenversicherung als Zusatz zur Hagelversicherung – zu teuer, obwohl Bund und Land 55 Prozent zuschießen. Aber nach drei Dürrejahren wollen es sich die beiden nun überlegen. Künftig sollen auch Mäuseschäden in der Trockenversicherung enthalten sein.

Aufzuhören kommt für die beiden Landwirte indes nicht infrage, ein Umstieg ebenfalls nicht. „Weinbauer werde ich keiner mehr“, sagt Andre; sein Blick schweift über die sanften, mit Reben bewachsenen Hügel am Horizont. Aber auf die Trockenheit werden sie reagieren müssen. Die Sommergerste wird über kurz oder lang im Weinviertel nicht mehr wachsen. Auch der Anbau von Mais ist zunehmend aussichtslos. Dafür experimentieren die beiden mit neuen, robusteren Getreidesorten. Und Fradingers Sohn, der den Hof schon übernommen hat, hat heuer ein paar Melonen gezogen. Die ersten sind bereits geerntet. Sie schmecken köstlich.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.