Konrad Lorenz' Gänse im Almtal: Ein Besuch im Zentrum der Verhaltensforschung
Von Franziska Dzugan
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Graugänse sind nachtragend. Zwei Monate ist es her, seit Sonia Kleindorfer sich zuletzt ihren Weg durch die Schar gebahnt hat, um zum Auingerhof zu gelangen. Weil sie so lange weg war, gibt es kaum Geschnatter zur Begrüßung an diesem strahlenden Tag Anfang März. Die meisten Graugänse haben den Schnabel zwischen die Flügel gesteckt und dösen vor den schneebedeckten Gipfeln des Toten Gebirges. „Hallo Dorothea, hallo Babaco“, grüßt Kleindorfer ein Pärchen, das nur müde aus den Federn blinzelt. Wissen die Gänse, wen sie da vor sich haben? „Natürlich, sonst könnten Sie als Fremde hier nicht einfach durchspazieren“, sagt Kleindorfer. In der Antike hielten die Menschen Gänse als Wachtiere, sie meldeten Eindringlinge mindestens so verlässlich wie Hunde.
Sonia Kleindorfer nimmt auf der berühmten Holzbank Platz, auf der einst Nobelpreisträger Konrad Lorenz das Verhalten der Graugänse studiert hat. Vor ihr tummeln sich die Nachkommen seiner Schar. Die Verhaltensbiologin aus Philadelphia übernahm 2018 als erste Frau die Leitung der Konrad Lorenz Forschungsstelle im Almtal. Ihr nun erscheinendes Buch „Die erstaunliche Welt der Graugänse“ hat sie anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Forschungsstelle geschrieben. Ein guter Grund, die Nachnachfolgerin des weltberühmten Tierwelterklärers zu besuchen. Was tut sich im Zentrum der Verhaltensforschung mitten in den Bergen des Salzkammerguts? Kann man Graugänsen überhaupt noch Geheimnisse entlocken? Und was tut sich bei Raben, Waldrappen, Bären und Wölfen?
Ihr Gesicht ist braun gebrannt, sie fröstelt. Sonia Kleindorfer ist gestern von den Galapagosinseln heimgekehrt, wo sie sich acht Wochen lang um ein Renaturierungsprojekt gekümmert hat. Ungewöhnlich heiße 40 Grad hatte es dort, nun muss sie sich erst wieder an die österreichischen Temperaturen gewöhnen. Auch im Almtal ist es heuer wieder zu warm, was die Graugänse allerdings wenig stört. Ihnen kommt der Klimawandel sehr gelegen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppe. Ein Ganter jagt einen anderen flügelschlagend den Hang hinunter zum Wasser. Andere mischen sich empört und lautstark ein. Wer streitet sich um wen, wer verpaart sich heuer? Bei dem milden Wetter kommen die Hormone in Wallung; in manchen Nestern liegen bereits Eier. Kleindorfer erzählt von Konrad Lorenz, von künstlicher Intelligenz in der Verhaltensforschung und von Galapagos – die Augen hat sie aber stets auf die Gänse gerichtet. „Ich muss erst wieder den Überblick bekommen über unsere gefiederte Seifenoper.“ Nirgends auf der Welt sei der Frühling so spannend wie im Almtal, sagt sie in perfektem Deutsch. Als Kind hatte die US-Amerikanerin einige Zeit in Berlin gelebt und schließlich bei einem Forschungsaufenthalt am Neusiedler See ihren österreichischen Mann Norbert kennengelernt.
Eierrollen: Wie Konrad Lorenz die Biologie revolutionierte
Heuer ist der Frühling früher dran als sonst, für die Graugänse ist das ideal. Sie versuchen jetzt, schnell ihre Eier zu legen – dann sind die Gössel schon größer, falls noch einmal Schnee kommt. Kleindorfer wird häufig gefragt, ob es denn bei den Graugänsen immer noch Neues zu erforschen gibt. Schließlich begann Konrad Lorenz bereits Mitte der 1930er-Jahre mit seiner ersten, von Hand aufgezogenen Gans Martina, die Biologie zu revolutionieren. Geboren 1903 im niederösterreichischen Altenberg bei Greifenstein, lebte Lorenz mitten in der prallen Natur der Donauauen.
Als Fünfjähriger hielt er die erste Ente namens Piepsa. Seine Begeisterung für Gänse kam wenig später bei der Lektüre von Selma Lagerlöfs Buch „Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen“. Gänseeier waren leicht zu bekommen, die Küken unkompliziert aufzuziehen – auch deshalb stellte sie der junge Biologe ins Zentrum seiner Forschung.
Eine seiner wichtigsten Beobachtungen machte Lorenz mit seinem niederländischen Freund und Kollegen Nikolaas Tinbergen 1937. Eine der Gänse in Altenberg rollte aus dem Nest gerutschte Eier stets geschickt mit dem Schnabel zurück. Nahm einer der Forscher das Ei währenddessen weg, führte die Gans die Bewegung dennoch zu Ende; sie balancierte also ein nicht mehr vorhandenes Ei ins Nest. Daraus zogen Konrad und Tinbergen eine Schlussfolgerung, die in die Geschichte eingehen und ihnen fast vier Jahrzehnte später den Nobelpreis einbringen sollte: Tiere haben angeborene Instinkte, sie spulen viele Verhaltensmuster automatisiert ab.
Für heutige Ohren klingt das weniger epochal, doch damals gab es nur zwei Theorien zum Verhalten von Mensch und Tier: Erstere nahm im Wesentlichen Gottes Wille als Ursache an. Zweitens gab es die weltweit vorherrschenden Behavioristen, die jedes Verhalten als erlernt ansahen. Nun kamen zwei junge Biologen daher und behaupteten: Das Verhalten folgt genetischen Programmen, ähnlich wie der Körperbau. Sie dehnten Charles Darwins Evolutionstheorie auf das Verhalten aus. Dieses sei außerdem zwischen verschiedenen Tierarten vergleichbar, waren Lorenz und Tinbergen sicher. Daher heißt die Disziplin heute vergleichende Verhaltensforschung. Die Wogen in der Biologie haben sich mittlerweile geglättet. „Jetzt ist klar: Manche Verhaltensweisen sind angeboren, manche erlernt. Wobei auch ein genetisch programmierter Lehrmeister eine Rolle für die Lernfähigkeit spielen kann“, sagt Sonia Kleindorfer.
Forschung mit KI: Gänse haben viele Gesichter
Zu erforschen gibt es bei den Graugänsen immer noch genug. Etwa, wie sie mit dem Klimawandel zurechtkommen – sie zählen zu den wenigen Tierarten, die von ihm profitieren. Mit GPS-Sendern lässt sich nachverfolgen, wann und ob die Gänse überhaupt noch in ihre Winterquartiere ziehen. Künstliche Intelligenz wiederum hilft, das Gesicht einer jeden Graugans zu erkennen. Denn wie beim Menschen gleicht kein Individuum dem anderen. Für Ungeübte sind die Unterschiede nicht auszumachen, doch auch für geübte Beobachterinnen wie Sonia Kleindorfer ist das nicht immer leicht. Welchen evolutionären Nutzen hat ein individuell erkennbares Gesicht eigentlich? „Gesichter machen uns verantwortlich. In einer Gemeinschaft wird das, was man getan hat, erinnert“, sagt Kleindorfer. Gänse schmieden Allianzen und wissen genau, wer ihnen einmal geholfen oder geschadet hat.
Selbst erkennen können sich die Gänse übrigens nicht, wie Kleindorfers Team herausgefunden hat. Stellt man ihnen einen Spiegel vor die Nase, gehen sie in der Regel mit Zischen und Drohgebärden darauf los und versuchen, die dreiste Konkurrentin zu vertreiben. Wahrscheinlich wundern sie sich, dass ihr Gegenüber genauso frech ist wie sie selbst.
Die Graugans ist der unschlagbare Star im Almtal, doch auch andere Tiere haben der Biologie hier schon große Erkenntnisse beschert. Thomas Bugnyar etwa erforscht seit 25 Jahren die Intelligenz von Kolkraben. Sonia Kleindorfers Vorgänger Kurt Kotrschal hatte ihn damals mit dem Argument ins Salzkammergut gelockt, Raben seien nichts anderes als „fliegende Affen“, wie Bugnyar kürzlich dem „Kurier“ erzählte. Als junger Biologe waren Affen Bugnyars bevorzugte Spezies. Kotrschal sollte recht behalten: Raben sind verdammt schlau, können sich in andere hineinversetzen, vorausplanen und haben komplexe soziale Bindungen.
Bären und Wölfe im Almtal
Die Kolonie der Waldrappe in Grünau ist spektakulär: Seit 1997 ist der in Europa lange ausgestorbene Vogel mit der struppigen Halskrause im Almtal wieder heimisch. Damit die Jungvögel den Weg ins italienische oder spanische Winterquartier finden, fliegt Projektleiter Johannes Fritz regelmäßig mit ihnen in einem Ultraleicht-Fluggerät über die Alpen.
Der Wildpark in Grünau beherbergt aber nicht nur Vögel. Hier befindet sich das einzige Gehege in Europa, das sich Bär und Wolf teilen. Von der 2021 neu gebauten Forschungsstelle aus (der Auingerhof platzte ob der großen Zahl an Studierenden aus allen Nähten) hat Sonia Kleindorfer nur ein paar Schritte bis zu den großen Raubtieren. Beim profil-Besuch ist hier alles friedlich, ein Bär döst im Schatten eines Baums, ein Wolf liegt ausgestreckt in der Sonne.
Das ist nicht immer so: Häufig beobachtete Kleindorfer bereits, wie sich die vier Wölfe verbündeten und den beiden Bären in einer geschickten Blitzaktion Hühnchen und andere Leckerbissen abluchsten. Nach dem Manöver flüchteten die Wölfe in jenen Teil des Geheges, der für die Bären unzugänglich ist, und teilten sich die Beute. Bedeuten solche Aktionen nicht Stress für alle Beteiligten? „Durchaus, aber denken Sie an die Lockdowns während der Pandemie. So langweilig, wie uns damals war, muss Tieren auch sein, wenn sie keine Abwechslung erleben“, sagt Kleindorfer. Außerdem überschneiden sich die Reviere von Wolf und Bär auch in freier Wildbahn. Die Erkenntnisse aus dem Gehege der Raubtiere sollen dazu beitragen, Tieren in menschlicher Obhut ein natürlicheres Leben zu ermöglichen. „Positiver Stress wird unterschätzt“, sagt die Verhaltensbiologin.
Weiblicher Blick: Die rabiaten Pavian-Mütter
Als Sonia Kleindorfer 1989 Biologin wurde, war das Fach noch von Männern dominiert. Eine große Ausnahme war die damals schon berühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall, die für Kleindorfer zur Mentorin wurde. „Frauen stellen andere Fragen als Männer. Damals wurde zum Beispiel eine erfolgreiche Schwangerschaft als Erfolg für das Männchen gewertet“, sagt Kleindorfer.
Bei ihrer ersten Feldforschung in Tansania untersuchte sie mit Unterstützung von Goodall, wie Pavianweibchen lernen, sich mütterlich zu verhalten. Damals ein völlig neuer Ansatz, der auch prompt Überraschendes zutage förderte. Den ewigen Klischees folgend hatte Kleindorfer erwartet, dass alle Pavianweibchen ein großes Interesse daran hatten, alle Jungen der eigenen Gruppe möglichst gut zu versorgen. Das Gegenteil war der Fall: Schon während der Schwangerschaft standen die Weibchen in unerbittlicher Konkurrenz. In kargen Jahren attackierten sich die Weibchen gegenseitig besonders brutal, was bei vielen zum Abbruch oder zum verzögerten Eisprung führte. Aus Sicht der Natur ist das durchaus sinnvoll. So haben die übrigen Babys höhere Chancen, durchzukommen.
Auch nach der Geburt wurden die Weibchen nicht „mütterlicher“: Mit dem Nachwuchs ihrer Artgenossinnen gingen sie äußerst grob um, schleiften sie zum Beispiel über den Boden, sodass das Köpfchen immer wieder am Boden aufschlug. Ganz anders die Männchen. Sie buhlten um die Aufmerksamkeit aller Kleinen und behandelten sie äußerst liebevoll – freilich nicht ohne Hintergedanken. Wer einen kleinen Affen auf dem Bauch trug, war vor den Attacken von Rivalen weitgehend geschützt.
Kleindorfers Ergebnisse kamen in der Fachwelt anfangs nicht gut an. Weibchen sollten nicht so sein! Es müssten Fehler in den Daten vorliegen, sagte man ihr immer wieder. Es sollte acht lange Jahre dauern, bis ihr die Veröffentlichung der Pavianweibchen-Studie gelang.
Gans Martina folgte Lorenz bis aufs Klo
Bei Gänsen ist das anders. Die Gössel sehen alle gleich aus, ihre Rufe klingen identisch. Nicht die Eltern erkennen ihren Nachwuchs, sondern die Jungen müssen ihre Eltern wiedererkennen. Deshalb auch die Prägung, die Konrad Lorenz schon bei seiner Graugans Martina erlebt hatte: „Als das erste Gänsekind geschlüpft und trocken war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, das reizende Wesen unter der Amme hervorzuholen und näher zu betrachten. Währenddessen schaute es mich an und stieß nach einiger Zeit das laute, einsilbige ‚Pfeifen des Verlassenseins‘ aus, das ich nach meiner Vorbildung durch Hausenten ganz richtig als Weinen zu deuten wusste. Daher antwortete ich mit einigen beruhigenden Tönen. Schließlich hatte ich genug vom Babysitting, steckte das Gänschen zurück unter die Flügel der brütenden Graugans und wollte weggehen. Ich hätte es besser wissen müssen“, schrieb Lorenz. Fortan folgte ihm Martina überallhin, selbst aufs Klo.
Weil Graugans-Eltern ihren Nachwuchs nicht von anderen Gösseln unterscheiden können, kümmern sie sich um alle Jungen gleich hingebungsvoll. Auch bei den Gänsen bemüht sich Kleindorfer um den weiblichen Blick. Weil die Ganter inbrünstig um ihre Auserwählte buhlen, wurde ihnen lange mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Doch in Wahrheit wählt das Weibchen: Kümmert sich ein Ganter nicht ausreichend um Gelege und Gössel, zögert sie nicht, ihn gegen einen besseren auszutauschen.
Sonia Kleindorfer: Die erstaunliche Welt der Graugänse.
Wie sie leben, kommunizieren und füreinander sorgen. Brandstätter Verlag. 191 Seiten, EUR 25,–
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.