Lichtung: Kommt das Waldsterben mit 30 Jahren Verspätung?
In Kürze wird der Wald gewissermaßen in unsere Wohnzimmer vordringen: Rund 2,3 Millionen Christbäume werden jährlich verkauft, 90 Prozent davon sind auf heimischem Boden gewachsen. Längstens drei Wochen nach dem Fest haben die Nadelbäume jedoch ausgedient, und der traurige Zustand, den sie dann abgeben, könnte durchaus Symbolcharakter haben: Den österreichischen Wäldern geht es nicht besonders. Kommt gar das Waldsterben mit mehr als 30-jähriger Verspätung?
Anfang der 1980er-Jahre hatten Ökologen vor den Folgen des Sauren Regens gewarnt: Die Bäume seien dem Tod geweiht, ganze Landstriche würden zu baumlosen Steppen verkommen. Keine 15 Jahre später konnte Entwarnung gegeben werden – nicht zuletzt dank jener Maßnahmen zur Luftreinhaltung, die aufgrund der Waldsterbenpanik umgesetzt wurden: etwa Katalysatoren und Filter für Industrieanlagen. Doch heute mehren sich wieder die Warnrufe von Wissenschaftern und Forstexperten, wonach der Wald auch in Europa gefährdet ist. In erster Linie ist es der Klimawandel, der ihm zusetzt. Dazu kommen das vermehrte Auftreten von Schädlingen wie dem Borkenkäfer (siehe Kasten am Ende) und steigender wirtschaftlicher Druck. Zwar ist der Wald in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern gut geschützt, doch gegen den Temperaturanstieg helfen weder Staatsgrenzen noch Ökostrategien.
Auf den ersten Blick scheint ja alles bestens zu sein, wenn man am Wochenende im Wald unterwegs ist.
„Der Klimawandel führt zu Veränderungen im Wald“, konstatiert Norbert Putzgruber, Leiter der Stabstelle Nachhaltigkeit der Österreichischen Bundesforste. So ist eine Verschiebung der Waldgrenzen zu beobachten. Das gibt es zwar immer wieder, dauert aber sonst Tausende Jahre. „Derzeit geht das in großer Geschwindigkeit vor sich. Die Vegetation hat wenig Zeit, sich daran anzupassen.“ Auch Gernot Hoch vom Bundesforschungszentrum Wald meint: „Es besteht die begründete Befürchtung, dass der Klimawandel Auswirkungen haben wird, etwa auf den Fichtenbestand.“
Aufenthalte im Wald sind erwiesenermaßen nicht zuletzt gut für die Gesundheit: Forscher der Medizinischen Universität Wien und der Universität für Bodenkultur sichteten entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Zentrales Ergebnis: Die Immunabwehr wird gestärkt, die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol reduziert, Blutdruck und Puls sinken. Und auf den ersten Blick scheint ja alles bestens zu sein, wenn man am Wochenende im Wald unterwegs ist. Auch das Umweltministerium jubelt im Waldbericht 2015 über mehr Waldflächen, mehr Naturnähe und einen steigenden Anteil geschützter Wälder.
Weniger begeistert klingt die Einschätzung des jüngsten Naturschutzberichts: Der österreichische Wald ist nur noch in der alpinen Region intakt, in der kontinentalen (also nicht-alpinen) Region hingegen ist er keineswegs gesund. Trockene Sommer in Kombination mit Insektenschäden sowie verstärkt auftretende Wetterextreme wie Stürme und extreme Niederschläge haben in den vergangenen Jahren Schäden hinterlassen. Heuer war der sogenannte Trockenstress wegen des extrem heißen und trockenen Sommers gut sichtbar: Schon im August verfärbten sich Laubbäume und warfen Blätter ab; sogar Nadelbäume waren sichtbar angegriffen. Das macht sie anfälliger für Stürme, Schädlinge und Krankheiten. Zudem steigt die Gefahr von Waldbränden. Im Sommer gab es so viele davon wie seit Jahren nicht. Erst Anfang November hielt ein Waldbrand im obersteirischen Stadl an der Mur zwei Tage lang rund 120 Feuerwehrleute auf Trab: Rund drei Hektar Wald brannten, für die Löscharbeiten mussten Hubschrauber eingesetzt werden.
Wir müssen verstehen, dass wir diesen Wald schützen müssen. Dazu ist vor allem Verständnis in der Bevölkerung notwendig.
Wenn am 30. November die UN-Klimakonferenz in Paris beginnt, wird nicht zuletzt die Zukunft der Wälder debattiert werden. Brasilien hat angekündigt, die Abholzung des Regenwalds bis 2030 zu beenden – ein Ziel, für das derzeit wenig getan wird. Doch in Zukunft sollten nicht nur Regenwälder im Fokus stehen, denn die Nadelwälder der nördlichen Hemisphäre sind genauso wichtig: Der sogenannte boreale Nadelwald in Russland, Alaska, Kanada und Skandinavien macht rund ein Drittel der weltweiten Waldfläche aus. Der russische Forstexperte Anatoly Shvidenko beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit diesen Regionen. Heute forscht er am IIASA (International Institute for Applied Systems Analysis) in Laxenburg bei Wien. Eine Forschergruppe um Shvidenko hat die Folgen des Klimawandels auf diese Wälder untersucht.
„Tausende Jahre hat sich der boreale Nadelwald in einem kalten Klima entwickelt, das relativ stabil geblieben ist. Nun kommt der Klimawandel, und rund vier Grad Temperaturanstieg weltweit bedeuten acht bis elf Grad Temperaturanstieg in Russland. Das hätte katastrophale Auswirkungen auf die Wälder, weil die Instabilität stark steigt“, erklärt Shvidenko. „Wir müssen verstehen, dass wir diesen Wald schützen müssen. Dazu ist vor allem Verständnis in der Bevölkerung notwendig. Die komplette Abholzung von Waldgebieten ist eine Katastrophe.“
Speziell in Russland wird die Tragweite der Veränderung noch nicht erkannt. „Die Wälder Russlands sind kaum bevölkert, es gibt in großen Gebieten keine Infrastruktur und kein Waldmanagement. Es mangelt an Aufmerksamkeit für Waldpflege und nachhaltiges Wirtschaften“, sagt Shvidenko, der unter anderem Direktor des russischen Forschungszentrums für Waldressourcen war. Offiziell wird eine Million Kubikmeter Holz pro Jahr in Russland illegal genutzt, NGO-Schätzungen sprechen aber von 30 bis 50 Millionen Kubikmeter pro Jahr.
Problematisch wird es dort, wo Bäume, egal welcher Art, am Rand ihres natürlichen Bestehens sind.
Eine noch nicht erschienene Studie von Shvidenko und anderen Wissenschaftern hat die Auswirkungen des Klimawandels auf den russischen Wald und seine Kohlenstoffbindung detailliert untersucht: Demnach führen höhere Temperaturen, länger andauernde Saisonen und mehr Wasserverfügbarkeit zwar einerseits in manchen Regionen zu einer höheren Produktivität. Andererseits können Feuer und lange Trockenperioden die Wälder extrem belasten. Der Klimawandel könnte zu einem Rückgang der Biodiversität in der Tundra führen. Dramatisch sind die Auswirkungen durch Waldbrände: In den vergangenen 15 Jahren stieg sowohl die Größe der betroffenen Regionen als auch die Schwere der Brände. „Mega-Feuer“ können Hunderttausende Hektar Wald bedecken – sie zerstören ganze Ökosysteme und die Grundlage der Forstwirtschaft, sie beeinträchtigen die Gesundheit der Bevölkerung, verändern Waldgebiete für Jahrhunderte und haben sogar Auswirkungen auf das Wetter. Denn die Wälder Russlands sind wichtig für den Kohlenstoffkreislauf der Welt; ändern sich etwa die Zustände im Permafrost, könnten große Mengen an Kohlendioxid freigesetzt werden. Wie dramatisch die Folgen sein können, erlebte Russland 2010, als das Land wegen der ausgedehnten Waldbrände von einer dreimonatigen Hitzewelle geplagt wurde.
Zwar wird sich der Klimawandel im alpinen Raum Österreichs nicht so gravierend auswirken, weil es kalt genug ist und es ausreichend Niederschläge gibt. Problematisch wird es dort, wo Bäume, egal welcher Art, am Rand ihres natürlichen Bestehens sind. Es gibt eine Art, die von den Änderungen besonders stark betroffen ist: Die Fichte wird es in den nächsten Jahren schwer haben. Zwar verlieren Fichtenplantagen an Bedeutung: Vor 25 Jahren wurden rund 45 Millionen Stück dieser Baumart produziert, heute ist es die Hälfte. Doch die Fichte, wegen ihres guten Wachstums und des hohen Ertrags die Grundlage der heimischen Forstwirtschaft und daher als „Brotbaum“ Österreichs bezeichnet, ist gegenüber dem Trockenstress anfällig und zudem als Flachwurzler gegenüber Stürmen wenig resistent.
Nach Ansicht von Naturschutzorganisationen sind es indes nicht nur Schädlinge wie der Borkenkäfer sowie globale Faktoren, die den Wald gefährden: Intensive Nutzungsinteressen würden den Druck ebenfalls erhöhen. Als Beispiel nennt WWF-Expertin Karin Enzenhofer die Bewirtschaftung durch immer größere und schwerere Maschinen, die sich tief in den Boden eingraben. Auch die Fragmentierung des Waldes – etwa durch Forststraßen – sei ein Problem. Dazu kommt wegen der steigenden Biomassenachfrage die erhöhte Attraktivität kleiner Hölzer, die bisher ungenutzt blieben. „Forstbetriebe wären gut beraten, nicht zu viel davon zu nutzen“, rät Gernot Hoch vom Bundesforschungszentrum Wald.
Den Klimawandel kann Österreich natürlich nicht aufhalten, doch zumindest werden Maßnahmen ersonnen, um die Folgen abzuschwächen.
Die langfristigen Folgen für den Wald in Österreich sind zwar auf den ersten Blick weniger dramatisch als beispielsweise in Russland, aber dennoch auf keinen Fall zu vernachlässigen: Es drohen deutlich mehr Waldbrände und mehr Schadholz durch Dürre, Wind und Schädlinge wie den Borkenkäfer. Das alles hätte gravierende Folgen für den Wald als natürlichen Lebensraum und auch für die heimische Wirtschaft – und es könnte sich auch auf die Schutzfunktion des Waldes auswirken, etwa in Zusammenhang mit Lawinen.
Den Klimawandel kann Österreich natürlich nicht aufhalten, doch zumindest werden Maßnahmen ersonnen, um die Folgen abzuschwächen: Derzeit arbeiten Expertengruppen unter Federführung des Umweltministeriums an der nationalen Waldstrategie 2020, die im Frühjahr 2016 fertig werden soll. Das Ziel: „Ausgewogene Sicherstellung und Optimierung aller Dimensionen der nachhaltigen Waldbewirtschaftung“. Mögliche Maßnahmen sind aber nicht einfach umzusetzen: Bessere Mischung unterschiedlicher Baumarten in den Wäldern (Mischwälder sind stabiler gegen Stürme und gegen Schädlinge), bessere Waldpflege, Prävention und Kampf gegen Schädlinge wie den Borkenkäufer. Generell werden Eiche, Kiefer und Buche forciert, weil sie mit geringeren Niederschlägen besser zurechtkommen. Zum Teil wird versucht, mit anderen Baumarten die Folgen des Klimawandels zu reduzieren. So wird die Douglasie, ein aus Nordamerika stammender Nadelbaum, verstärkt in Europa angepflanzt. „Dieser Baum kann aber Arten verdrängen, die bei uns heimisch sind“, warnt Enzenhofer vom WWF.
Bei den Bundesforsten verweist man darauf, dass der Anteil dieses Baums in Österreich nur bei 0,2 Prozent liege, bei Aufforstungen seien es 1,3 Prozent. Die Douglasie sei zudem vor den Eiszeiten auch in Europa heimisch gewesen. Es muss aber gar nicht die Douglasie sein, die den Wald resistenter gegen den Klimawandel machen soll. So soll der vermehrte Einsatz von Lärchen helfen – diese sind stabiler gegen starken Wind, weil sie tiefer wurzeln. Mit solchen Baumarten soll der Wald insgesamt besser gegen Klimaextreme geschützt sein.
Bundesforste-Experte Putzgruber weist auf den Wildverbiss als zusätzliches Problem hin: „Dadurch wird vielerorts ein Mischbestand verhindert.“ Hier müssten bessere Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Am wichtigsten ist aber die Erhöhung der Diversität im Wald, fordern Experten schon seit Jahren als Vorbereitung auf den Klimawandel. Ideal wäre es nach Ansicht von Naturschutzorganisationen, neben intensiv bewirtschafteten Flächen vermehrt auch solche zu haben, die wenig bis gar nicht genutzt werden. „Die richtige Strategie wird sein, Netzwerke von Wäldern mit kleinen Inseln zu schaffen, die naturnah belassen werden“, sagt Gernot Hoch. Größere Flächen ganz ohne Bewirtschaftung sind aber wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der Holzindustrie in Österreich unrealistisch. Der Wald wächst zwar (in den vergangenen 50 Jahren sind rund 300.000 Hektar dazugekommen), doch das hat primär wirtschaftliche Gründe: Der Wald ist gutes Geschäft und wertbeständige Anlage.
Infokasten
Angeknabbert Eine Vielzahl von Schädlingen bedroht inzwischen den Baumbestand.
Der Borkenkäfer, in den vergangenen Jahren zum Waldfeind Nummer eins aufgestiegen, freut sich über den Klimawandel: Je größer der Trockenstress für die Bäume, desto schwächer werden sie, und desto anfälliger sind sie für solche Schädlinge. Und je mehr Schadholz (etwa nach extrem heißen Sommern oder nach Windwürfen), desto mehr Brutraum für diesen Baumzerstörer – ein teuflischer Kreislauf, der nur mit aufwendigen Maßnahmen bekämpft werden kann. Dazu zählen engmaschige Kontrollen und die konsequente Entnahme befallener Bäume. Der diesjährige heiße Sommer hat die Schädigungen durch den Käfer nochmals erhöht; rund zehn Prozent des Holzeinschlags dürften betroffen sein. Das Umweltministerium steckt in den nächsten fünf Jahren 21 Millionen Euro in Maßnahmen zu seiner Bekämpfung.
Doch der Borkenkäfer ist nicht der einzige Schädling: Wegen der Veränderungen durch den Klimawandel – etwa mildere Winter – werden Bäume zunehmend von anderen Insektenarten heimgesucht, darunter Eichenbock und Eichenprachtkäfer. Zudem richten Heuschrecken und Raupen diverser Schmetterlingsarten vermehrt Schaden an. Dazu kommen neue Krankheiten wie das Eschentriebsterben – dieses wird durch einen aus Asien eingeschleppten Pilz namens „Falsches Weißes Stängelbecherchen“ ausgelöst. Auch der Asiatische Laubholzbock wurde eingeschleppt und fühlt sich hier wohl – zum Schrecken der Förster.
3 Billionen Bäume gibt es nach Schätzungen von US-Forschern auf der Erde. Das errechneten sie anhand von Bestandszahlen und Satellitenbildern mittels Computermodellen.
47,6 Prozent der österreichischen Staatsfläche sind mit Wald bedeckt.
124 Jahre dauert es im Schnitt, bis ein wirtschaftlich genutzter Baum von den Bundesforsten geerntet wird.
7,08 Milliarden Euro betrug das Produktionsvolumen der österreichischen Holzindustrie im Vorjahr. Diese ist größter Arbeitgeber im Industriesektor des Landes.