Formationstanz, Hanteltraining, Aerobic, Radfahren, Rollerbladen, Skifahren im Winter und Kitesurfen im Sommer: Die meisten Hobbys der Flugbegleiterin und Logopädin Alexa Stephanou hatten etwas mit Sport zu tun. Die Bewegung war ihr Ventil für die unbändige Energie, die sie mit sich herumtrug. Dann kam der März 2020. Die ersten Coronavirus-Infektionen hatten Österreich erreicht, und auch die damals 36-jährige Wienerin erkrankte. Sie litt an schwerer Atemnot, Fieber, Gliederschmerzen, doch das Schlimmste hatte sie noch vor sich: Zwei Jahre lang sollte sie sich kaum erholen. Wenn Stephanou sich einmal aus dem Haus quälte, büßte sie es mit mehreren Tagen Bettruhe. Eine Rückkehr zur Schweizer Fluglinie, für die sie vorher gearbeitet hatte, war undenkbar. Es war, als hätte sie jemand ausgeknipst.
Heute ist Long Covid den meisten Menschen ein Begriff. Aber im Sommer 2020 mühte sich Alexa Stephanou von Ärztin zu Ärztin. Trotzdem blieb eine Herzmuskelentzündung lange unentdeckt – die Medizin konzentrierte sich bei an Covid-19 Erkrankten anfangs zu sehr auf die Lunge. Im Frühjahr 2021 ging Stephanou mehrere Wochen auf Lungen-Rehabilitation, obwohl sich die Lunge, ebenso wie das Herz, längst erholt hatte. „Damals galt noch die alte Reha-Regel: Man trainiert über seine Grenzen, um diese zu erweitern“, sagt Stephanou. Für manche der Long-Covid-Patientinnen ein völlig falscher Ansatz, wie man heute weiß.
Nicht immer ist Covid-19 nach ein paar Wochen überstanden. Fünf bis zehn Prozent der Patienten leiden auch viele Wochen oder gar Monate nach Beginn der Erkrankung noch unter Symptomen. Sie reichen von chronischer Erschöpfung über Organschäden, anhaltende Atemnot bis hin zu neurologischen Symptomen und Depressionen. Viele dieser Beschwerden sind behandelbar und verschwinden nach einigen Monaten. Doch es häufen sich die Härtefälle wie Alexa Stephanou, die mittlerweile die Patientinneninitiative Long Covid Austria gegründet hat. Sie sind jung, im Schnitt zwischen 15 und 45, hatten meist einen leichten oder mittelschweren Verlauf, zwei von drei Betroffenen sind weiblich. Ihre Symptome ähneln oft jenen von Stephanou: völlige Erschöpfung, Schmerzen im ganzen Körper, anhaltender Schwindel, Konzentrationsstörungen. Post-Covid-Syndrom heißt diese extreme Form von Long Covid in der Medizin. „Von den Long-Covid-Erkrankten insgesamt werden zwischen 20 und 30 Prozent nach zwei Jahren noch immer nicht gesund, vor allem jene, die unter dem ME/CFS-Typ leiden“, sagt Kathryn Hoffmann, Leiterin der Abteilung für Primary Care Medicine an der Medizinischen Universität Wien und eine der führenden Expertinnen für Long Covid. Die Myalgische Enzephalomyelitis oder das Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS kann infolge von Viruserkrankungen auftreten, auch nach einer Coronavirus-Infektion.
Die gute Nachricht: Die Medizin weiß heute besser mit dem Post-Covid-Syndrom umzugehen als zu Beginn der Pandemie. Bei den meisten Patientinnen und Patienten ist eine deutliche Linderung der Symptome möglich – wenn ihr Leiden früh erkannt und die richtige Therapie für sie gefunden wird. Die äußerst schlechte Nachricht: In Österreich wurden viele Long-Covid-Ambulanzen geschlossen; folglich gibt es kaum Ärztinnen und Ärzte, die auf die Erkrankung spezialisiert sind. Die Patientinnen werden mit ihrem Leid völlig allein gelassen.
Davon kann Elke Meier* ein Lied singen. Die 42-jährige Lehrerin aus Wien schleppt sich seit einer Coronavirus-Infektion im Frühjahr 2022 durch den Alltag. Zwar hatte ihr der Hausarzt relativ schnell Long Covid diagnostiziert, helfen konnte er ihr aber nicht. Beim Kindergeburtstag, auf dem Weg zur Schule oder zum Bankomaten um die Ecke: Zu Beginn hatte Meier immer einen Liegestuhl dabei. „Die Treppen vom dritten Stock hinunter, zehn Minuten liegen; 100 Meter zum Geldautomaten, zehn Minuten Pause. Die Stufen zurück hinauf ging ich oft auf allen vieren oder ich rief die Nachbarin zu Hilfe“, sagt die zweifache Mutter.
Die Ursachen von Long Covid
Trotz umfangreicher Forschung ist noch nicht geklärt, wie es das Coronavirus schafft, manche Menschen derart nachhaltig zu schädigen. Die Wissenschaft hat mehrere Theorien, die sich gegenseitig nicht ausschließen: etwa schlummernde Virusrestbestände, die sich im Körper verstecken und immer wieder aufflammen. Möglicherweise provozieren diese das Immunsystem immer wieder von Neuem und lösen dabei eine überschießende Reaktion aus. Ebenfalls denkbar ist, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 bei manchen eine langwierige Autoimmunerkrankung auslöst; oder dass die Entzündungen, die die Erkrankung verursacht, bei manchen chronisch werden und ihre Organe schädigen.
Als Alexa Stephanous damalige Hausärztin nach unzähligen erfolglosen Therapien mit ihrem Latein am Ende war, unterstellte sie ihr psychische Probleme. So geht es vielen Menschen mit Post Covid oder ME/CFS, wie Stephanou von der Patientinnen-Initiative Long Covid Austria weiß, die sie im Frühjahr 2021 gründete. Eine im Jänner erschienene Studie aus den Niederlanden reiht sich jedoch ein in jene Riege der Untersuchungen, die auf körperliche Gründe hindeuten: „Wir haben verschiedene Anomalien im Muskelgewebe der Patienten festgestellt. Auf zellulärer Ebene sah man, dass die Mitochondrien, auch bekannt als die Energiefabriken der Zelle, in den Muskeln weniger gut funktionieren und weniger Energie produzieren“, sagt Studienautor Rob Wüst. Den Menschen mit dem Post-Covid-Syndrom geht sprichwörtlich der Saft aus.
Auch dem sogenannten Gehirnnebel ist die Forschung auf der Spur. Dubliner Medizinerinnen und Mediziner fanden bei Long-Covid-Patienten eine Störung der Blut-Hirn-Schranke, die das Gehirn normalerweise vor Schadstoffen und Erregern schützt. „Zum ersten Mal konnten wir zeigen, dass undichte Blutgefäße im menschlichen Gehirn zusammen mit einem hyperaktiven Immunsystem die Hauptursache für Gehirnnebel im Zusammenhang mit Long Covid sein können“, erklärte Studienautor Matthew Campbell im Fachmagazin „Nature Neuroscience“.
Schweizer Forschende entdeckten außerdem mögliche Biomarker bei Patientinnen und Patienten mit dem Post-Covid-Syndrom. Sie durchsuchten deren Blut systematisch nach Proteinen und verglichen sie mit jenen von Gesunden. Fazit: Bei den Erkrankten fanden sie Eiweiße, die mit einer Störung des Komplementsystems, einem Teil der Immunabwehr, einhergehen. „Bei den Patientinnen und Patienten mit Long Covid kehrt das Komplementsystem nicht, wie es sollte, wieder in den Ruhezustand zurück“, erklärte Studienleiter Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich. Dadurch gehe es auf gesunde Zellen in verschiedenen Organen los und zerstöre sie, so der Immunologe. Noch ist es zu aufwendig, auch im Klinikalltag nach Biomarkern zu suchen. Doch sie könnten den Betroffenen in Zukunft helfen, klar zu beweisen, dass sie an Long Covid leiden – und nicht etwa simulieren, wie ihnen häufig unterstellt wird.
Was neue Medikamente können
Alexa Stephanou hatte Glück. Nach zwei aufreibenden Jahren, in denen sie Untersuchung um Untersuchung und Therapie um Therapie über sich ergehen ließ, ohne Linderung zu erfahren, landete sie im Frühjahr 2022 in der Praxis von Michael Stingl. Der Wiener Neurologe hatte sich schon vor der Coronapandemie mit ME/CFS und sehr früh mit dem Post-Covid- Syndrom beschäftigt. Er erkannte Stephanous Erkrankung sofort und empfahl ihr zuerst das, was er vielen Post-Covid-Patientinnen empfiehlt: das sogenannte Pacing. Darunter versteht man das Erkennen der eigenen Grenzen – und mit der Aktivität aufzuhören, bevor diese erreicht sind. Nur so kann man die heftigen Zusammenbrüche vermeiden. Mehr zu trinken und viel Salz zu sich zu nehmen, kann gegen die Kreislaufprobleme helfen, die es manchen Betroffenen unmöglich macht, an einer Supermarktkasse zu warten oder in der Dusche zu stehen. Stützstrümpfe, die manchen guttun, weil sie gegen das in die Beine sackende Blut helfen, blieben bei Alexa Stephanou wirkungslos. „Aber entzündungshemmende Medikamente brachten mir schließlich den Durchbruch. Schon nach drei Tagen hatte ich unvergleichlich mehr Energie“, berichtet sie. Plötzlich konnte sie einkaufen gehen, ab und zu Freunde zu treffen und zu ihrem Vater nach Griechenland fliegen – wenn auch mit dem Rollstuhl-Service am Flughafen. Trotzdem hätte sie das Mittel fast wieder abgesetzt. „Ich hatte heftige Nebenwirkungen: Schlafstörungen, depressive Verstimmungen und Schmerzen im ganzen Körper“, sagt Alexa Stephanou. Doch nach neun Wochen hörten die Beschwerden auf, ein neues Leben begann – wenn auch ein langsameres als vor Covid-19.
Das besagte Medikament verschrieb Neurologe Stingl „off label“, das heißt, es wurde für andere Leiden entwickelt und ist nicht für das Post-Covid-Syndrom zugelassen. „Es ist ein vorsichtiges Herantasten an die Krankheit. Bei jeder Patientin muss ich herausfinden, was wirkt“, sagt Stingl. Manche schickt er in die Kliniken Favoriten oder Floridsdorf, wo aktuell Studien mit dem noch nicht zugelassenen Wirkstoff BC 007 laufen. Er blockiert Antikörper und hindert das Immunsystem daran, eigene Organe anzugreifen. Bei manchen Menschen wirkt das sehr gut, wie erste Fälle zeigten. Die finalen Ergebnisse werden noch heuer erwartet.
„Menschen mit Post Covid oder ME/CFS stehen so gut wie unversorgt da.“
Kathryn Hoffmann, MedUni Wien
Wer heute wegen Post Covid Hilfe sucht, hat schlechte Karten. Michael Stingl ist einer der wenigen Spezialisten in Österreich. Er wird von verzweifelten Patienten überrannt und kann schon lange keine neuen mehr annehmen. Dennoch wurden viele der Long-Covid-Ambulanzen 2023 geschlossen. „Long Covid-Patienten mit Organschäden oder Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt oder Diabetes sind meist gut betreut, weil es sich um bekannte Erkrankungen handelt. Anders schaut es für schwer kranke Menschen mit Post Covid oder ME/CFS aus. Sie stehen inzwischen so gut wie unversorgt da“, sagt Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien. Je früher die Erkrankung erkannt wird, desto höher die Chancen auf Besserung. „Darum benötigen wir dringend fächerübergreifende Diagnostik. Diese Behandlungsstellen fehlen aber in Österreich“, sagt Hoffmann.
Könnte das von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) angekündigte Referenzzentrum für postvirale Erkrankungen Erleichterung schaffen, das im Lauf des heurigen Jahres entstehen soll? Es wäre ein wichtiger Schritt, weil es als Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis fungieren soll. Aber: „Um Behandlungsstellen umzusetzen, braucht es zusätzliche Schritte und Strukturen“, sagt Medizinerin Hoffmann. Aus dem Ministerium heißt es dazu auf profil-Anfrage: „Der Oberste Sanitätsrat wurde beauftragt, Empfehlungen zur verbesserten Versorgung vorzulegen, die im November 2023 vorgestellt wurden. Aktuell werden die notwendigen Schritte für die Umsetzung vorbereitet.“
Der Kampf ums finanzielle Überleben
Elke Meier blieb monatelang nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen. Eine ehemalige Schülerin, die an ME/CFS leidet, erklärte ihr das Pacing. Meier las Studien aus aller Welt und klapperte alle möglichen Ärzte ab, um die richtige Medikation für sich zu finden. Schließlich ergatterte sie doch einen Termin bei Michael Stingl, der ihr nach eingehender Untersuchung die Berufsunfähigkeit für den Lehrberuf bescheinigte. Einen Versuch, in die Schule zurückzukehren, hatte die Lehrerin zuvor mit einem schweren Rückfall bezahlt. Wie viele Menschen mit dem Post-Covid-Syndrom muss sie sich Anstrengung und Ruhephasen selbst einteilen können, um überhaupt arbeiten zu können.
Also fasste Meier einen Plan für die Zukunft: Sie will ihren Bachelor in Psychologie zum Master ausbauen und anschließend als Psychologin arbeiten. „Da bin ich flexibler und kann weitgehend im Sitzen arbeiten“, sagt sie. Weil ihr Krankengeld bald ausläuft, stellte sie kürzlich bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) einen Antrag auf sogenanntes Umschulungsgeld. Viel Hoffnung auf einen positiven Bescheid macht sie sich allerdings nicht: „Von anderen Betroffenen höre ich ständig, dass es nur Absagen hagelt“, sagt Meier.
Das deckt sich mit den Erfahrungen von Jürgen Ephraim Holzinger, Obmann des Vereins ChronischKrank. Von den 100 Post-Covid-Betroffenen, die sein Verein aktuell rechtlich unterstützt, wurden 60 von der PVA abgelehnt. 40 bekamen Rehabilitationsgeld oder eine Berufsunfähigkeitspension zugesprochen – allerdings erst, nachdem sie Berufung gegen den Erstbescheid eingelegt hatten. „Das kann bis zu einem Jahr dauern. Die Patienten werden hier völlig allein gelassen“, sagt Holzinger. Das größte Problem sei die mangelnde Ausbildung der Gutachterinnen und Gutachter bei der PVA. „Das sind Allgemeinmediziner, die einen Tag lang geschult werden. Für alle Krankheiten, nicht speziell für Post Covid“, sagt er.
„Bei jeder Patientin muss ich neu herausfinden, was wirkt.“
Michael Stingl, Neurologe
Die Pensionsversicherungsanstalt sagt auf profil-Anfrage: „Inhalt und Umfang der Lehrgänge der Österreichischen Akademie für ärztliche Begutachtung (ÖBAK) werden laufend auf aktuellem Stand gehalten.“ Zudem werde „keine Patient*innengruppe bevorzugt oder benachteiligt. Dieser Vorwurf wird von der PVA zurückgewiesen“. 55 Betroffenen wurde laut PVA in den Jahren 2020 bis 2023 eine Berufsunfähigkeitspension bewilligt, 119 bekamen Reha-Geld. Hier sind allerdings alle Menschen mit ME/CFS erfasst, nicht nur jene mit einer vorangegangenen Covid-Erkrankung.
Alexa Stephanou muss, ebenso wie Elke Meier, den Beruf wechseln. Seit einer erneuten Infektion mit SARS-CoV-2 im vergangenen Dezember geht es ihr wieder deutlich schlechter, die Schweizer Fluggesellschaft hat ihr mittlerweile gekündigt. Sie macht nun eine Online-Ausbildung zur Grafikdesignerin. Selbstständigkeit sei auf dem aktuellen Arbeitsmarkt ihre einzige Option, sagt sie: „15 Stunden, die ich mir über die Woche hinweg frei einteilen kann, traue ich mir zu.“ Sie kann es nicht erwarten, endlich wieder eigenes Geld zu verdienen. Mittlerweile sind all ihre Ersparnisse aufgebraucht, mit der Schweizer Krankenversicherung streitet sie vor Gericht, vom österreichischen Staat bekommt sie nichts. Aktuell lebt sie von der Unterstützung ihrer Eltern und ihres Partners. „Mein Leben in Wien musste ich aufgeben“, sagt Alexa Stephanou. Sie zog vor Kurzem nach Griechenland, in die Heimat ihres Vaters. Leicht fiel ihr dieser Schritt nicht, zumal ihr Partner in der Schweiz wohnt. „Aber Athen ist billiger.“