Masern-Ausbruch: Warum die Seuche zu uns zurückkehrt
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Sie sei sehr müde, sagt Olivia zu ihrem Vater. Eine Stunde später war sie bewusstlos, nach zwölf weiteren Stunden tot. Olivia wurde sieben Jahre alt. Sie starb an den Folgen einer Maserninfektion. Das Virus hatte ihr Gehirn befallen und eine schwere Entzündung ausgelöst. Das war 1962, ein Jahr, bevor die ersten Masernimpfstoffe in den USA verfügbar waren.
Olivia war die Tochter des berühmten Schriftstellers Roald Dahl. Ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod berichtete Dahl in einem offenen Brief von dem tragischen Ereignis. Der Text beinhaltete einen flammenden Appell für das Impfen. Es grenze an eine „Straftat“, seine Kinder nicht impfen zu lassen und dadurch Tragödien zu riskieren, die leicht vermeidbar seien.
Rund 40 Jahre später ist der Aufruf des Autors noch immer aktuell – und sogar drängender geworden. Denn die Masern, eine weltweit verbreitete, hochansteckende und durch Tröpfchen übertragene Infektionskrankheit, geben vermehrt Anlass zur Sorge. Und das betrifft nicht nur Afrika, Indien und Südostasien, wo die Masern eine ständige Bedrohung sind. 2022 beispielsweise starben, vorwiegend in diesen Regionen, mehr als 130.000 Menschen infolge einer Ansteckung mit dem 120 bis 140 Nanometer großen einsträngigen RNA-Virus. Doch auch in Europa flackern, mit Schwankungen nach oben und unten, lokale Ausbrüche auf. Voriges Jahr waren 17 europäische Länder davon betroffen. Derzeit hat besonders Österreich die Masern: Die Fälle stiegen deutlich an. Und das nicht zum ersten Mal: Schon 2023 war Österreich nach Rumänien die Masernhochburg Europas.
Masern-Virus
Der Erreger der Masern ist ein 120 bus 140 Nanometer großes, einsträngiges RNA-Virus. Es ist heute nur unter Menschen verbreitet, stammt ursprünglich aber von der Rinderpest ab und gelangte vor vermutlich 2500 Jahren zum Menschen. „Spillover“ nennt man diesen Übersprung vom Tier zum Menschen.
Die Zahlen sind zwar um viele Größenordnungen geringer als in anderen Weltgegenden, aber im Grunde müsste es gar keine Infektionen mehr geben: Die Masern könnten längst ausgerottet sein wie die Pocken. Stattdessen sah sich die Weltgesundheitsorganisation WHO 2019 veranlasst, die Masern zu einer der größten Gesundheitsgefahren der Gegenwart zu erklären. Österreich nimmt in Bezug auf die Zahl der Infektionen in der westlichen Welt einen wenig rühmlichen Spitzenplatz ein. Zunächst stachen Ausbrüche in Waldorf-Schulen ins Auge, zum Beispiel 2008 in Salzburg. Die Folge damals war eine Epidemie, die weitere Bundesländer und den süddeutschen Raum erfasste. In den Jahren danach loderten immer wieder Infektionsherde auf, die die Gesundheitsbehörden mit wachsender Sorge beobachteten.
Eine unrühmliche Spitzenposition
Dachte man in Österreich im Vorjahr, mit 186 Masernfällen einen neuen Rekord der jüngeren Vergangenheit erklommen zu haben, werden wir heuer vermutlich eines Besseren belehrt. 110 Infektionen wurden bis 16. Februar erfasst, beinahe halb so viele wie im gesamten Jahr 2023. „Das ist schon eine äußerst bedenkliche Entwicklung“, urteilt der Wiener Virologe Norbert Nowotny. Und man darf mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass aufgrund der enorm hohen Übertragbarkeit des Virus die Zahlen weiterhin steigen werden.
Was wissen wir über die Ursachen des aktuellen Ausbruchs? Zum Beispiel, dass er kaum einer einzelnen Quelle entspringt. Das legt erstens der Umstand nahe, dass alle neun Bundesländer betroffen sind, wobei es eine Häufung von Fällen in Wien und Tirol gibt. Zweitens zeigen genetische Analysen, dass sich die zirkulierenden Viren geringfügig unterscheiden, was auf mehrere unabhängige Übertragungen hindeutet. So dürfte es plausibel sein, dass das Masernvirus mehrfach nach Österreich eingeschleppt wurde, möglicherweise aus Osteuropa, und hier auf nicht immunisierte Bevölkerungsgruppen traf.
Was wir im Moment sehen, ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung.
Freilich: Verglichen mit früher ist die Infektionswelle immer noch überschaubar. Mitte der 1990er-Jahre kam es in Österreich zu mehreren Tausend Maserninfektionen pro Jahr. Doch das Ziel lautete, die Zahl der Erkrankten kontinuierlich immer weiter gegen null abzusenken, und die jüngsten Entwicklungen laufen diesem Trend deutlich zuwider. Theoretisch ist jede einzelne Infektion eine zu viel, die sich leicht verhindern ließe: mit einer Impfung.
Doch just an der Impfbereitschaft hapert es, und zwar bereits seit geraumer Zeit. Zunächst, vor zehn bis 15 Jahren, als Masernausbrüche wieder vermehrt als Problem wahrgenommen wurden, waren es vor allem – in Österreich und Deutschland stark präsente – Anhänger anthroposophischer Ideen und anderer esoterischer Strömungen, die der irrigen Ansicht anhingen, mit einer „natürlichen“ Infektion könne man das Immunsystem trainieren oder man solle Gott nicht mit Impfungen ins Handwerk pfuschen. Eltern schickten kranke Kinder in die Schule oder schmissen Masernpartys, damit sich die Immunabwehr der Kleinen eine Lehre fürs Leben holte. Folglich poppten Ausbrüche auf, besonders in österreichischen und deutschen Schulen, dort etwa in Berlin.
Aus Trotz ungeimpft
Die Coronaviruspandemie spitzte die Lage dann bedenklich zu. Zum einen unterließen oder verschoben viele Menschen medizinische Vorsorge, weil sie andere Nöte hatten, keine Termine in Gesundheitseinrichtungen wahrnehmen konnten oder selbst im Lockdown saßen. Zum anderen drückte ausgerechnet die in Österreich unter massivem Protest eingeführte Impfpflicht gegen das Coronavirus die Impfbereitschaft gegen Masern: Wissenschafter warnten vor der Verhängung einer Impfpflicht, weil eine solche einen Effekt namens psychologische Reaktanz begünstigt. Wenn man gegen seinen Willen zu einer Maßnahme gezwungen wird, verweigert man manchmal vehement und fast wie zum Trotz andere, auf freiwilliger Basis verfügbare Maßnahmen, zum Beispiel die Masernimpfung. „Eine bereits bestehende Impfmüdigkeit wurde durch die Pandemie wahrscheinlich noch gefördert“, meint Nowotny.
Corona-Demo am Wiener Heldenplatz
Die FPÖ nutzte die aufgeheizte Stimmung während der Pandemie für sich und polemisierte massiv gegen Impfungen und dadurch angeblich verursachte Schäden. Der Protest bezog sich unmittelbar auf Maßnahmen gegen das Coronavirus, schürte aber generell das Misstrauen in Impfungen.
Ein Booster für das weitere Abschwellen einer ohnehin schon belasteten Grundstimmung kam von rechts: Die FPÖ nutze Demonstrationen gegen Covid-Restriktionen und gegen die Impfpflicht, um den Menschen Abneigungen gegenüber einem „System“ in die Köpfe zu pflanzen, das die Bevölkerung mit unheimlichen Impfstoffen vergifte – das bezog sich zwar unmittelbar auf die Impfungen gegen das Coronavirus, düngte aber gewiss generell das Misstrauen in einen Staat, dessen Organe sowie die Pharmaindustrie, die angeblich die Menschen mit aller Macht und finsteren Absichten zu fragwürdigen Maßnahmen zwingen wollen.
Mehr noch: Die FPÖ polemisierte gegen vermeintliche „Impfschäden“, deretwegen sich die Spitäler füllen würden. Manch FPÖ-Politiker zeigte sich stolz ungeimpft. Bizarrer Höhepunkt: FPÖ-Obmann Herbert Kickl zog sogar gegen einen PR-Mann vor Gericht, weil dieser gespottet hatte, Kickl sei „heimlich geimpft“. Und verlor. Doch die Impfung war diskreditiert, Corona ein Hebel, der der FPÖ zu neuen Höhenflügen verhalf.
Der Boden, auf dem die rechten Botschaften von „Plandemie“ und „Gen-Impfungen“ in dieser Zeit prächtig gediehen, war allerdings teilweise schon bereitet: durch die Angst vor schweren Nebenwirkungen durch die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR). Wie diese Angst zustande kam, ist das vielleicht historisch eindrucksvollste Beispiel dafür, wie viel Unheil eine einzelne Person anrichten kann.
Diese Person heißt Andrew Wakefield. Als Arzt in einer Londoner Klinik veröffentlichte Wakefield 1998 eine Studie, die als Musterbeispiel für die verheerenden Folgen von Wissenschaftsbetrug in die Geschichte einging. Wakefield unterstellte einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus. Die Angst, Kinder würden durch eine Masernimpfung Autismus entwickeln, sitzt bis heute tief in den Köpfen der Menschen – auch wenn sie nachweislich unbegründet ist. Wakefields Studie war nicht nur miserabel durchgeführt, es waren außerdem Fälschung und Korruption im Spiel.
Die Wakefield-Studie
Die berüchtigte Studie, in der Andrew Wakefield einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus in den Raum stellte: Letztlich stellte sich heraus, dass es sich um Wissenschaftsbetrug handelte, die Fachzeitschrift „The Lancet“ zog die Arbeit zurück.
Die Arbeit, bloß fünf Seiten stark, hatte lediglich zwölf Kinder untersucht, viel zu wenige für statistisch belastbare Aussagen. Dann stellte sich heraus, dass manche davon bereits vor der MMR-Impfung Autismussymptome gezeigt hatten. Schließlich deckte der Journalist Brian Deer auf, dass Wakefield enorme Summen von Anwälten erhalten hatte, die Eltern autistischer Kinder vertraten. Schließlich wurde die Studie zurückgezogen, Wakefield verlor seine Zulassung in England, ging in die USA, trat gemeinsam mit Donald Trump auf und wurde zum Guru der Impfgegnerbewegung. Die Behauptung, Impfungen würden Autismus hervorrufen, ist bis heute nicht aus der Welt zu schaffen.
Knick in den Kurven
In Summe drückten all diese Faktoren auf die Impfbereitschaft, beginnend in den Nullerjahren mit Wakefields gezielter Panikmache, getragen und verstärkt durch gesellschaftliche Gruppen, die der sogenannten „Schulmedizin“ und Impfungen im Besonderen skeptisch gegenüberstanden, gipfelnd schließlich in den Verwerfungen der Pandemie, stark angetrieben durch die FPÖ und andere rechte Parteien wie der kurzfristig erfolgreichen Impfgegner-Partei MFG. Das Ergebnis schlägt sich heute nicht zuletzt in den Impfquoten gegen die Masern nieder.
95 Prozent der Bevölkerung müssten gegen das Masernvirus immunisiert sein, damit eine Ausbreitung zuverlässig verhindert wird. Davon sind wir leider weit entfernt, wie ein Dossier der Nachrichtenagentur APA zeigte: Im Jahr 2022 waren 82 Prozent der Einjährigen ein Mal geimpft, die zweite Teilimpfung hatten nur 45 Prozent erhalten. Für eine Immunisierung sind aber beide Impfungen notwendig.
Auch unter den Zwei- bis Fünfjährigen ist die Situation nicht erfreulich: Acht Prozent von ihnen sind gar nicht geimpft, 13 Prozent haben die zweite Teilimpfung nicht erhalten. Diese Entwicklung lässt sich auch an der Zahl der Impfdosen ablesen, und es zeigt sich in den Pandemiejahren ein deutlicher Knick. Knapp 340.000 Impfdosen wurden 2019 aus den Beständen des Bundes bezogen, nicht einmal 175.000 Dosen waren es im Jahr darauf, knapp 160.000 im Jahr 2021.
Impfstatus 2022
Wieviele in Österreich Personen ein-, zweimal oder gar nicht gegen die Masern geimpft waren. Nur in wenigen Altersgruppen wird die nötige Impfrate von 95 Prozent erreicht.
Gesundheitsminister Johannes Rauch ahnte schon im Dezember 2023 Schlimmes: „Den grüßten Widerstand hat sicher die Impfpflicht ausgelöst. Das hat Folgen: Viel weniger Eltern lassen mittlerweile ihre Kinder gegen Masern impfen“, seufzte der grüne Politiker damals im profil-Interview. Rauch führte die sinkende Impfbereitschaft auf die Nachwirkungen der Pandemiebebatten zurück.
Auf jeden Fall ist Österreich ein kritisches Stück davon entfernt, die angepeilten 95 Prozent an geschützten Personen zu erreichen. Aber warum ist dieser Wert, auf den fast mantraartig verwiesen wird, so wichtig? Weil er angibt, wie viele Menschen immunisiert sein müssen, damit das Virus nicht genügend empfängliche Wirte findet, um sich weiter auszubreiten. Die Prozentzahl ist direkt an die Übertragbarkeit eines bestimmten Virus gekoppelt, und diese ist bei Masern enorm hoch: Eine einzige Person in einem Zimmer kann durch Husten oder Niesen infektiöse Tröpfchen ausstoßen, die sich mehrere Stunden im Raum halten. Jede infizierte Person steckt – je nach Berechnungsmethode – zwölf bis 18 weitere Menschen an. Damit sind die Masern die ansteckendste Infektionskrankheit überhaupt. Zum Vergleich: Bei der saisonalen Grippe steckt eine infizierte Person etwa ein bis zwei weitere Menschen an.
Der entscheidende R-Faktor
Der Kennwert, der über die Ausbreitung Auskunft gibt, ist uns spätestens seit der Pandemie vertraut: Es ist die Reproduktionszahl (R), die anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Bei den Masern beträgt R0, die Basisreproduktionszahl, eben 12 bis 18. Aus der Ziffer R erschließt sich indirekt, wie viele Menschen geimpft sein müssen, damit die Ausbreitung einer Infektionskrankheit gebremst oder gestoppt wird. Besitzt ein Virus einen R0-Wert von 3, steckt jeder Infizierte im Schnitt drei weitere Personen an. Um dies zu unterbinden, müssen zumindest zwei von drei Personen immun sein. Es müssen also etwa 66 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, damit R auf unter 1 fällt – weniger als eine Person wird nun angesteckt, und die Infektionskette stockt.
Weil Masern viel ansteckender sind, müssen auch viel mehr Personen geimpft sein, nämlich mehr als neun von zehn. Daraus ergibt sich die hohe notwendige Impfrate von 95 Prozent. Dann gerät das Virus mangels empfänglicher Opfer in eine Sackgasse und erreicht dank dieses Impfschutz-Walls auch jene Menschen nicht, die nicht geimpft werden können oder keine Immunität aufbauen.
Masern-Impfung
Masern sind das ansteckendste bekannte Virus. Eine infektiöse Person steckt bis zu 18 weitere Menschen an. Aus diesem Grund müssen rund 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, um eine Ausbreitung des Virus zu unterbinden.
Würde diese Impfquote konsequent umgesetzt, wäre dies das Ende des Masernvirus. Es könnte vom Planeten getilgt werden, weil der Mensch heute der einzige Wirt ist, anders als zum Beispiel bei Grippe-, Corona- oder Ebolaviren, die sich in tierische Reservoire zurückziehen und zeitversetzt neuerlich Ausbrüche verursachen können. Wie wir inzwischen wissen, kamen allerdings auch die Masern ursprünglich vom Tier auf den Menschen: Sie stammen vom Rinderpestvirus ab, waren einst eine sogenannte Zoonose und gelangten im Wege eines „Spillover“ von Rindern zu uns. Wann dies vermutlich geschah, konnte anhand einer in Formalin eingelegten Lunge rekonstruiert werden.
Im Jahr 1912 starb ein zweijähriges Mädchen in Berlin an einer Lungenentzündung. Pathologen präparierten die Lunge und verwahrten sie in einer Sammlung in der Charité. 2020 entdeckten Forschende darin Masernviren und nahmen genetische Analysen vor. Anhand der Mutationsrate ließ sich wie mit einer molekularen Uhr berechnen, wann sich die Viren von ihrem Vorfahren, dem Rinderpestvirus, trennten. Die Forscher datierten dieses Ereignis auf mindestens 528 vor Christus. Damit wird die Menschheit seit zumindest 2500 Jahren von den Masern geplagt.
Die Stadt, ein optimaler Nährboden
Sehr wahrscheinlich sind viele historische Epidemien auf die Masern zurückzuführen, beispielsweise die Attische Seuche, die 430 bis 426 vor unserer Zeitrechnung in Athen kursierte. Überlieferungen zufolge erlagen ihr rund 100.000 Personen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung Athens. Der griechische Historiker Thukydides schilderte, wie die Toten übereinander auf den Straßen lagen. Das Massensterben dürfte den Zusammenbruch Athens in Gang gesetzt haben. Es war jene Zeit, in der größere Städte mit mehr als einer Viertelmillion Einwohner entstanden, und in diesem Umfeld fand das Masernvirus einen optimalen Nährboden vor.
Die Beschwerden, die das Virus hervorrufen kann, sind heute dieselben wie in fernen Epochen. Es kann Menschen aller Altersgruppen treffen. Masern sind somit keineswegs eine Kinderkrankheit. Diese fälschliche Einordnung rührt vermutlich daher, dass es in Schulen besonders leicht zu Ausbrüchen kam und kommt – wo viele Menschen auf engem Raum zusammentreffen, deren Immunsystem weder mit dem Erreger noch mit einem Impfstoff Kontakt hatte.
Die Folgeerscheinungen
In den allermeisten Fällen verläuft die Infektion harmlos. Manchmal jedoch können gravierende Folgen auftreten, beispielsweise eine Entzündung des Gehirns.
Der Verlauf der Infektion folgt einem typischen Muster: Es beginnt mit grippeartigen Symptomen, mit Fieber, Husten und Schnupfen. Schon zwei, drei Tage vor dem Aufblühen des unverwechselbaren Hautausschlags sind Infizierte hoch ansteckend und infizieren fast unweigerlich alle, die nicht immunisiert sind. Der Ausschlag, das sogenannte Masern-Exanthem, setzt einige Tage nach Symptombeginn ein und hält zumeist eine Woche an. Damit ist die Infektion für viele Infizierte ausgestanden – aber nicht für alle.
Wie viele Infektionen können auch die Masern Folgeerkrankungen verursachen, die nicht immer häufig auftreten, aber sehr gravierend sein können. Eine von fünf Personen erleidet im Schnitt eine Lungenentzündung, genau wie das unglückselige Berliner Mädchen, das 1912 starb. Noch schwerwiegender ist, dass Masernpatienten eine Entzündung des Gehirns entwickeln können. Die meisten Einschätzungen gehen davon aus, dass dies in einem bis zwei von 1000 Fällen geschieht. Einige Berechnungen gehen aber auch von höheren Zahlen aus und beziffern die Quote der Hirnentzündungen mit 1:100. Etwa zehn bis 20 Prozent der derart Erkrankten überleben diese Komplikation nicht.
Eine Sonderform einer Gehirnerkrankung ist die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), die mit Abstand gefürchtetste Komplikation. Es handelt sich dabei um eine Spätfolge, die erst Jahre nach der Infektion auftritt und immer tödlich verläuft. Besonders gefährdet sind Kleinkinder, die sich im ersten Lebensjahr anstecken. Es gibt unterschiedliche Angaben über das Ausmaß des SSPE-Risikos. Eine wirklich belastbare Aussage darüber ist insofern schwierig, als man immer auf Hochrechnungen angewiesen ist: Die tatsächlich auftretenden Fallzahlen sind – glücklicherweise – in Österreich so gering, dass rein statistisch mit keinem SSPE-Fall zu rechnen ist. Daher müsste man die Masernfälle fortrechnen, um daraus das theoretische Risiko abzuleiten. Ein statistisches Risiko bedeutet freilich nicht, dass in der Realität nicht trotzdem ein SSPE-Fall auftreten kann.
Virologe Nowotny sagt: „SSPE ist sehr schlimm, aber zum Glück auch sehr selten.“ Doch es sei unangenehm genug, dass mit viel häufigeren Komplikationen wie einer Lungenentzündung zu rechnen sei. Und noch eine weitere Folge ist zu bedenken: ein Phänomen namens Immun-Amnesie. Es läuft der Annahme vieler Impfskeptiker zuwider, wonach das Immunsystem durch eine Infektion wachse und gestärkt werde. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Löschung des Immungedächtnisses
Forschungen belegen mittlerweile, dass eine Infektion mit dem Masernvirus in zehn bis 15 Prozent der Fälle die Funktion von B-Gedächtniszellen beeinträchtigt: von Immunzellen, die die Profile von Krankheitserregern abspeichern. Dies ermöglicht der Abwehr, unverzüglich auf den Kontakt mit einem bestimmten Erreger zu reagieren. Das Masernvirus löscht gleichsam diesen Speicher, sodass das Immunsystem neuerlich lernen muss, sich gegen eigentlich längst bekannte Keime zu wehren.
All diesen Problemen wäre leicht zu begegnen: mit einer Impfung. Dass diese ihren Zweck erfüllt, ist evident. „Zwei Impfungen führen zu einer lebenslangen Immunität“, sagt Nowotny. Aber birgt nicht auch die Impfung Risiken? Das tut sie wie jede medizinisch wirksame Maßnahme. Zwar muss man sich nicht um Autismus sorgen. Allerdings besteht zum Beispiel die Möglichkeit, dass eine Impfung eine Gehirnentzündung auslöst, genau wie das Virus selbst. Entscheidend ist aber, wie groß das Risiko durch die Impfung im Vergleich zum Virus ist. Eine medizinische Intervention ist naturgemäß nur dann vertretbar, wenn der Nutzen den potenziellen Schaden deutlich überwiegt. Und das ist bei der Masernimpfung der Fall. Etwa eine bis zwei Personen pro Tausend riskieren eine Hirnentzündung durch das Virus, eine Person pro Million durch die Impfung. Das Virus ist also mindestens tausendfach gefährlicher als die Impfung.
An dieser Stelle könnte man zu Roald Dahl zurückkehren, der in seinem Essay schrieb: Anders als 1962, als Olivia starb, sei längst ein effektiver Impfstoff verfügbar. Eltern müssten bloß ihren Arzt aufsuchen, um ihre Kinder zu schützen. Ziemlich sicher sei es wahrscheinlicher, an einem Schokoriegel zu ersticken, als an der Impfung zu sterben. Und diese Worte stammen immerhin vom Autor von „Charlie und die Schokoladenfabrik“.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft