Der österreichische Kilo-Prototyp
Warum das Kilogramm neu definiert werden muss

Masseverwaltung: Warum das Kilogramm neu definiert werden muss

Das Urkilogramm ist seit 1889 der Maßstab für alle Waagen der Welt. Doch es leidet an Gewichtsschwankungen und ist deshalb nicht genau genug.

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Sein Idealgewicht über Jahrzehnte hinweg konstant zu halten, ist eine Leistung, die kaum jemand schafft. Das 126 Jahre alte Urkilo, verwahrt in einem Tresor in Paris, ist da keine Ausnahme. Der Metallzylinder leidet, anders als die meisten Menschen, unter Gewichtsverlust. Er hat in den vergangenen Jahren um 50 Mikrogramm, also 50 Millionstel Gramm, abgenommen. Dem österreichischen Prototypen geht es nicht viel besser: Wie 100 andere Staaten auch besitzt Österreich ein nationales Kilo, nach dem die Waagen im Inland ausgerichtet werden. Alle zehn Jahre muss es nach Paris zum Rapport: Hat es abgenommen oder gar zugenommen? Als das heimische Modell 1951 zum ersten Mal mit dem Urkilo verglichen wurde, war es um 325 Mikrogramm zu leicht. Bis 1990 hatte es etwas zugenommen und war nur noch 271 Mikrogramm leichter als sein internationales Pendant. Bei der bisher letzten Musterung in Frankreich 2009 stellte sich heraus: Das österreichische Kilo ist wieder bei seinem Gewicht von 1951 angekommen.

Gewichtsschwankungen trotz akribischer Pflege

Doch warum unterliegen die Zylinder aus 90 Prozent Platin und zehn Prozent Iridium, den robustesten Metallen der Welt, derartigen Gewichtsschwankungen, obwohl sie akribisch gepflegt werden? Geschützt unter mehreren Glashauben, verschlossen hinter schweren Tresortüren, werden die wertvollen Gewichte so selten wie möglich mit Handschuhen oder speziellen Zangen angefasst. Das österreichische Maß aller Waagen befindet sich im Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen im 16. Wiener Gemeindebezirk. Es werde nur ab und zu mit einem weichen Pinsel gereinigt, sagt Robert Edelmaier, als Leiter der Gruppe Eichwesen verantwortlich für das Gewicht des heimischen Kilos. Trotz aller Vorsicht würden sich aber dünne Schichten von Kohlenwasserstoffen an der Oberfläche festsetzen - Dickmacher im Mikrogrammbereich. Gaseinschlüsse im Metall, die mit der Zeit entweichen, sorgen hingegen für Gewichtsverlust. Die Angst der Metrologen: Sollte das Urkilogramm irgendwann unbrauchbar werden, weiß niemand mehr, was genau ein Kilo ist.

Beim Kuchenbacken, an der Wursttheke oder beim Kampf gegen den Weihnachtsspeck im Fitnesscenter spielt der Jo-Jo-Effekt der Kilo-Prototypen zwar so schnell keine Rolle. Für Physiker und Metrologen - die Experten der Lehre vom Messen - hingegen sehr wohl: Eine genaue Angabe des Kilogramms ist nicht nur für hochpräzise Gewichtsmessungen nötig, sondern auch für Messungen anderer physikalischer Größen. "Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie wollen ein Gerät haben, das die Gravitationskraft der Erde hochpräzise misst, sodass Sie feststellen können, ob unter Ihnen normales Gestein oder dichteres erzhaltiges Gestein zu finden ist. Wenn Sie diese Messergebnisse in Zahlen angeben wollen, brauchen Sie eine exakte Kilogrammdefinition“, erklärt Florian Aigner von der Technischen Universität Wien.

Suche nach Ersatz für das Urkilo

Das Kilogramm ist die einzige der sieben internationalen Maßeinheiten des SI-Systems, die immer noch durch einen realen Körper und nicht durch Formeln aus Naturkonstanten bestimmt wird. Ein Meter ist zum Beispiel als Strecke definiert, die Licht in einer bestimmten Zeit zurücklegt, eine Sekunde als Vielfaches der Periodendauer einer bestimmten Strahlung. "Das Maßsystem der Physik ist ein ausgetüfteltes Gebäude aus Maßeinheiten, die alle zueinander passen müssen. Wenn in einem Bereich eine Unschärfe enthalten ist, wirkt sich das auch auf die Genauigkeit aus, mit der man andere Größen angeben kann“, sagt Physiker Aigner. Um endlich auch das Kilogramm in einem Labor bestimmen zu können, tüfteln Forscher daher weltweit an einem Ersatz für das Urkilo - einem Referenzwert, der sich in eine gleichsam ewig gültige Formel packen lässt.

Das Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Paris verlangt zwei unterschiedliche Methoden, um dieses Ziel zu erreichen: ein Mal mithilfe von Siliziumkugeln, ein Mal mit sogenannten Wattwaagen. Die Vorgabe lautet: "Zumindest drei voneinander unabhängige Experimente, durchgeführt mithilfe einer Wattwaage oder Siliziumkugeln, müssen für das Planck’sche Wirkungsquantum zu einer Messgenauigkeit von acht Stellen hinter dem Komma führen.“ Bis 2018 soll die Neudefinition des Kilogramms abgeschlossen sein.

Silbern glänzend, vollkommen rund, glatt poliert und extrem teuer: Die zwei Siliziumkugeln des Wissenschafterteams an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig sind mehr als zwei Millionen Euro wert - und Mittelpunkt eines vielversprechenden Kiloexperiments. Die deutschen Forscher vermessen die Atome in den Kugeln mittels Röntgenstrahlen und Lasertechnik: "Wir bestimmen zunächst den Durchmesser und das Volumen der Kugel, messen dann die Abstände zwischen den Atomen, die in einer Gitterstruktur angeordnet sind. Daraus errechnen wir das Volumen eines Atoms“, erklärte der Physiker Horst Bettin unlängst der Deutschen Presse Agentur.

Die Avogrado-Konstante

Kennt man den Abstand zwischen den Atomen und weiß, wie groß die Kugel ist, dann weiß man auch, wie viele Atome die Kugel enthält. Hier kommt die Avogadro-Konstante ins Spiel. Mit ihrer Hilfe lässt sich angeben, wie viele Teilchen sich in einer bestimmten Anzahl von Gramm einer Substanz befinden. "Weiß ich also, wie viele Atome ich habe und wie viele Atome man für ein bestimmtes Gewicht braucht, nämlich über die Avogadrozahl, kann man das Gewicht der Kugel ausrechnen“, erklärt Aigner.

Das Problem dabei: Die Struktur der Siliziumkugeln ist trotz aller Bemühungen noch nicht perfekt. Um die verlangte Genauigkeit von 20 Mikrogramm zu erreichen, müssen Fehler im Kristallgitter des Siliziums und die Oxidation an den Oberflächen der Kugeln korrigiert werden. Die Braunschweiger Wissenschafter sind zuversichtlich, das in den nächsten vier Jahren zu schaffen.

Gleich sieben Forscherteams rund um den Globus rittern unterdessen darum, das Kilogramm mithilfe einer Wattwaage neu zu definieren. Derzeit haben kanadische Wissenschafter bei der Entwicklung solch einer Waage die Nase vorn, aber auch Teams in den USA, China und Frankreich rechnen sich gute Chancen aus, 2018 zwei der drei vom Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Paris geforderten Experimente durchzuführen.

Die Wattwaage vergleicht die Gewichtskraft, die auf einen Kilogrammprototypen wirkt, mit jener Kraft, die durch eine magnetische Spule ausgeübt wird. Dadurch lässt sich die Messung von Masse auf die Messung von Strom und Spannung zurückführen. Mit Hilfe von quantenphysikalischen Effekten wie dem Quanten-Hall-Effekt und dem Josephson-Effekt lassen sich elektrische Größen sehr präzise bestimmen und letztlich das Kilogramm über die elektrischen Einheiten mit dem Planck’schen Wirkungsquantum in Beziehung setzen - jener von Max Planck formulierten Konstanten, welche die Grundlage der Quantenphysik bildete und zu den wichtigsten Naturgesetzen des Universums zählen.

Doch noch misst keine der Wattwaagen präzise genug. Ob die Kanadier wirklich das Rennen machen, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Fest steht: Ist das Kilogramm neu definiert, ändert sich auch die SI-Einheit Mol. Sie steht für die Stoffmenge eines Systems, das aus ebenso vielen Teilchen besteht, wie Atome in 0,012 Kilogramm des Nuklids Kohlenstoff-12 enthalten sind.

Auch Sekunde soll neu definiert werden

Mit den genannten Neujustierungen werden sich die Physiker allerdings auch nicht zufriedengeben. Denn die Definition der Sekunde ist vielen Wissenschaftern inzwischen ebenfalls zu ungenau. "Nach 2020 könnte in Paris der Beschluss zur Präzisierung der Zeit fallen“, sagt Metrologe Robert Edelmaier. Der Weg dorthin führt über Uhren mit unvorstellbarer Präzision.

Derzeit ticken über alle Kontinente verteilt 200 Cäsium-Atomuhren, aus deren Messungen die Weltzeit errechnet wird. Sie funktionieren so: Cäsium wird in einem Ofen verdampft und in einem Vakuumtank zu einem Atomstrahl gebündelt. Anschließend werden die Atome in ein magnetisches Mikrowellenfeld geleitet, in dem sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit ihren Zustand wechseln. Die Atome, die ihren Zustand gewechselt haben, werden registriert. Ihre Anzahl hängt von der Frequenz des Mikrowellenfeldes ab. Sie wird so justiert, dass möglichst viele Atome ihren Zustand wechseln. Die Schwingungen kann man zählen und auf diese Weise auch die Zeitspanne von einer Sekunde festlegen: Diese entspricht exakt der 9.192.631.770-fachen Periodendauer in der Cäsiumuhr.

Die von Raumfahrtingenieuren von Airbus Defence and Space in Friedrichshafen am Bodensee entworfene Superuhr namens "Pharao“ setzt noch eins drauf: Sie kühlt die Atome, wodurch sie langsamer werden und sich noch genauer messen lassen. Und sie verliert nicht, wie die meisten anderen Atomuhren, alle 30 Millionen Jahre eine Sekunde, sondern laut Airbus nur alle 300 Millionen Jahre. Zwar wird dies beim täglichen Vorhaben, den Zug nicht zu verpassen, eine eher untergeordnete Rolle spielen, im kosmischen Maßstab hingegen eine große: 2017 soll "Pharao“ an die Raumstation ISS andocken. Ihr achtmonatiger Weltraumflug soll zeigen, um wie viele Mikrosekunden sie in der Schwerelosigkeit anders tickt als die Atomuhren auf der Erde. Ein Experiment, das Albert Einsteins Relativitätstheorie neuerlich und noch eingehender überprüfen wird, die besagt, dass Zeit unter verschiedenen Gravitationsbedingungen unterschiedlich vergeht.

Ytterbium schlägt Caesium

Die Zukunft gehört jedoch den optischen Zeitmessern: Seit 2013 schlägt der erste im National Institute of Standards and Technology in Boulder in den USA - es ist die derzeit genaueste Uhr der Welt. Sie nutzt statt Cäsium das Element Ytterbium und arbeitet mit einer deutlich höheren Frequenz, die nicht wie bei herkömmlichen Atomuhren im Mikrowellenbereich liegt, sondern im Bereich sichtbarer Wellenlängen. Möglich wird das Zählen der Schwingungen mithilfe eines Lasers: Dieser liefert Lichtwellen von bekannter Frequenz, die mit dem zu vermessenden Lichtstrahl der Uhr interferieren. So bildet sich eine Schwebung zwischen dem Licht unbekannter Frequenz und einer Kammlinie mit bekannter Frequenz. Daraus lässt sich die gesuchte Frequenz bestimmen und die Zeitspanne von einer Sekunde festlegen. Die optische Uhr in Boulder schwingt pro Sekunde etwa 54.400 Mal schneller als die herkömmlichen Cäsium-Uhren. Anders formuliert: Sie verliert nur noch alle Milliarden Jahre eine Sekunde.

Eben, weil sie so genau ist, sind künftig neue Übertragungswege nötig. Derzeit schicken Satelliten die Zeiten verschiedener Atomuhren an das Internationale Büro für Maß und Gewicht in Paris, das daraus die Weltzeit errechnet. Doch Satellitensignale sind anfällig für atmosphärische Störungen, weshalb sie künftig durch ein Netzwerk aus Glasfaserkabeln ersetzt werden. "Wien soll neben Braunschweig einer der europäischen Knotenpunkte werden“, sagt Robert Edelmaier vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen.

Doch wozu der ganze Aufwand? Die neue Exaktheit wird nicht nur zu einer Neudefinition der Sekunde führen, sondern auch zu einer Präzisierung des Längenmaßes. Schließlich wird der Meter über die Lichtgeschwindigkeit festgelegt - und hängt somit auch von der Sekunde ab. Davon profitieren wir auch im Alltag: in Form von verbesserten Navigationssystemen und verlässlicherer Datenübertragung.

Ärzte erwarten sich außerdem eine Revolution in der Nanomedizin, die derzeit noch in den Kinderschuhen steckt: Mithilfe von kleinsten, nur aus wenigen Atomen bestehenden Teilchen, deren Maße in Milliardstel Metern, also Nanometern, gemessen werden, lassen sich beispielsweise Krebszellen zielgenau aufspüren und bekämpfen. Messungen auf einen Zehntel Nanometer genau eröffnen da völlig neue Dimensionen.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.