Wissenschaft

Medikamente: Mit Gentests zu weniger Nebenwirkungen

Arzneimittel können bei jedem Menschen anders wirken. Enzym-Tests verraten, welche Präparate einer konkreten Person am besten helfen – und am wenigsten schaden.

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Man kennt das Phänomen: Bei einer Patientin wirkt ein Medikament scheinbar wahre Wunder, während ein anderer Anwender über exakt dasselbe Präparat schimpft, es helfe überhaupt nicht. Oder: Eine Verwandte schwört auf ein Mittel, während einem selber davon übel wird. Alles nur Einbildung? Nicht unbedingt: Tatsächlich können Medikamente bei verschiedenen Personen sehr unterschiedliche Wirkung entfalten. Ein Grund dafür liegt in den Genen, weshalb sich ein eigener Forschungszweig mit dem Thema befasst: die Pharmakogenetik, die Zusammenhänge zwischen der genetischen Ausstattung und der Verarbeitung von Medikamenten im Körper studiert.

Die Gene bestimmen bei jedem einzelnen Menschen mit, wie gut oder schlecht er ein Arzneimittel verträgt, ob es überhaupt nützt und ob bedenkliche Überdosierungen drohen. Pharmakogenetik zielt auf eine individualisierte Verschreibung von Medikamenten ab, was nicht nur Patientinnen und Patienten nutzlose Therapien sowie Nebenwirkungen ersparen, sondern auch einen Beitrag zur Eindämmung des Medikamentenmangels leisten könnte – weil das langwierige, frustrierende und teure Ausprobieren mehrerer Präparate bis zum Therapieerfolg reduziert werden würde.

Wolfgang Schnitzel nennt ein Beispiel: Er nimmt zeitweise Sirdalud, ein altbewährtes Präparat zur Muskelentspannung, das eingesetzt wird, wenn verkrampfte Muskeln Schmerzen verursachen. Seine Leber baut Sirdalud jedoch schnell ab, weshalb die Wirkung stark abgeschwächt wird. Viele Anwender würden das Medikament enttäuscht weglassen, Schnitzel aber weiß: Er muss einfach eine höhere Dosis schlucken, dann funktioniert es bestens.

Genetisches Profiling

Für ihn war es leicht, diese Einsicht zu gewinnen: Schnitzel ist Genetiker und Geschäftsführer des im Jahr 2015 in Salzburg gegründeten Medizin-Start-ups PharmGenetix, das mittels genetischer Analysen maßgeschneiderte Verschreibungen und Dosierungen von Medikamenten ermöglichen will. Es handelt sich um die Idee einer personalisierten Medizin: Nach molekularbiologischer Auswertung einer Blutprobe wird das genetische Profil einer Person mit Hunderten pharmakologischen Wirkstoffen abgeglichen. Aus diesen Daten sollte dann ablesbar sein: Wie gut wirkt ein bestimmtes Medikament bei dieser Person? Ist mit Nebenwirkungen zu rechnen? Und was kann passieren, wenn jemand mehrere Medikamente einnimmt und diese miteinander wechselwirken?

Genetiker Wolfgang Schnitzel

Er weiß nun selbst, wie er ein bestimmtes Präparat zur Muskelentspannung dosieren muss, damit es die erwünschte Wirkung hat.

Wissenschaftliche Basis dafür sind Enzyme hauptsächlich in unserer Leber, die dafür sorgen, dass und wie Medikamente wirken und vom Organismus wieder abgebaut werden. Es gibt eine Vielzahl davon, doch rund ein halbes Dutzend übernimmt den Hauptjob. Besonders wichtig ist eine Gruppe namens Cytochrom-P450, die zu 90 Prozent in Leberzellen aktiv sind. Es gibt aber noch weitere bedeutende Enzyme wie UDP-Glucoronosyltransferase oder N-Acetyltransferase.

Allerdings: Nicht bei allen Menschen funktionieren diese Enzyme gleich. Schuld ist die Evolution. Unser Erbgut trägt Mutationen, die entweder von unseren Eltern und Großeltern stammen oder die wir in einer genetischen Lotterie im Lauf des Lebens erwerben. Gene wiederum bestimmen darüber, ob und wie Enzyme aktiviert werden – Mutationen können daher die Funktion von Enzymen beeinflussen, und zwar bei jedem Menschen auf andere Weise.

In Bezug auf Medikamente bedeutet dies: Individuelle Enzym-Varianten entscheiden auch darüber, wie der Körper mit Wirkstoffen zurechtkommt. Enzyme erfüllen ihre Aufgaben auf mehreren Wegen, zum Beispiel in Zusammenhang mit sogenannten Prodrugs: Das sind Medikamente wie das Brustkrebstherapeutikum Tamoxifen oder das Schmerzmittel Tramadol. Bei der Einnahme sind sie zunächst wirkungslos, erst körpereigene Enzyme wandeln sie in eine wirksame Form um, sodass sie therapeutischen Nutzen entwickeln. Im Fall von Tamoxifen und Tramadol ist dies das Enzym CYP2D6, das zum Cytochrom-P450-Komplex gehört. Ist die Funktion dieser Enzyme durch Mutationen eingeschränkt oder gar komplett stillgelegt, wirken die Substanzen schlechter – oder versagen gänzlich.

Risiko von Nebenwirkungen

Enzyme sind auch daran beteiligt, Wirkstoffe zu den Zielzellen im Organismus zu transportieren, also an den Ort des Krankheitsgeschehens. Wieder andere beeinflussen die Metabolisierung: den Abbau im Körper, wobei zwei Problemfelder auftreten können: Erfolgt der Abbau zu schnell, ist man ein „Rapid Metabolizer“, und die Wirkung eines Medikaments ist eingeschränkt; verläuft er sehr langsam, reichern sich die Wirkstoffe übermäßig im Gewebe an und können im schlimmsten Fall schwere Nebenwirkungen auslösen. Die Rate der Verstoffwechselung durch Enzyme ist beispielsweise bei Cholesterinsenkern, Antidepressiva und verschiedenen Schmerzmitteln von großer Bedeutung.

Besonders relevant ist diese Frage für Menschen, die mehrere Medikamente einnehmen müssen. Multimedikation, auch Polypharmazie genannt, kann gravierende Folgen haben, wenn Substanzen von der Leber nicht schnell genug abgebaut werden – und ist alles andere als selten: Im Mai veröffentlichte der Medizin-Informationsdienst Medscape Daten, wonach 14 Prozent der deutschen Patientinnen und Patienten fünf oder mehr Wirkstoffe benötigen. Am stärksten ausgeprägt ist Multimedikation bei Personen mit Herzleiden: Fast 82 Prozent der Erkrankten nehmen mindestens fünf Präparate, beinahe ein Viertel zehn oder mehr. Die Situation dürfte in Österreich ähnlich sein.

Eine Analyse der genetischen Konstellation im Vorfeld könnte helfen, Behandlungen präziser, effektiver und verträglicher zu gestalten. „Wenn ich zum Beispiel weiß, dass ein Patient ein bestimmtes Medikament nur sehr schlecht abbauen kann, brauche ich es erst gar nicht zu verschreiben“, sagt Wolfgang Schnitzel. Derart könnten somit sinnlose und eventuell sogar riskante Verschreibungen unterbleiben und auch Medikamente eingespart werden, die für andere Patienten besser geeignet sind.

Abgleich mit 900 Wirkstoffen

Während in den USA die Erstellung individueller Enzymprofile beinahe gängige Praxis ist, gibt es in Österreich bisher nur wenige Unternehmen wie PharmGenetix, die solche Analysen anbieten. Untersucht werden rund 30 Enzyme, und zwar im Hinblick auf die Aktivierung von Prodrugs im Körper, auf den Transport der Wirkstoffe zu den gewünschten Organen und auf deren Abbau. Zunächst wird dazu eine Blutprobe entnommen. Im Labor erfolgen dann DNA-Sequenzierung und Vervielfältigung mit der spätestens seit der Pandemie bekannten PCR-Technologie. Nach etwa zehn Tagen liegt das Ergebnis vor, und die Enzymwerte der jeweiligen Person lassen sich im Moment rund 900 Wirkstoffen gegenüberstellen. Woher weiß man, wie diese Substanzen mit Enzymen interagieren? Das ist bekannt, weil diese Daten bereits in Zulassungsstudien der Medikamente erhoben werden. Sie sind anschließend in der sogenannten Fachinformation verschreibbarer Arzneimittel erfasst, auf die Ärzte Zugriff haben. Mediziner könnten also dort nachsehen und recherchieren, ob und wie die Wirkung eines Medikaments durch das Enzymprofil ihres Patienten beeinflusst wird.

Befund am Computer

Mithilfe einer Software lässt sich die genetische Analyse einer bestimmten Person mit Hunderten Wirkstoffen abgleichen. So lässt sich ermitteln, welche Medikamente für diese Person am ehesten geeignet sind.

Oder sie installieren eine Software, die diesen Job für sie erledigt. Dann würden einfach Pfeilsymbole, die nach oben oder unten weisen, Aufschluss darüber geben, ob ein Medikament höher oder geringer dosiert werden muss. Ein rotes X würde gegebenenfalls davor warnen, dieses Präparat überhaupt zu verschreiben.

Studie an 7000 Patienten

Ein Schnäppchen ist so eine genetische Analyse im Moment freilich nicht: Sie kostet rund 900 Euro und muss aus eigener Tasche bezahlt werden. Allerdings müsste man sie nur einmal im Leben durchführen – und könnte dann vor jeder Verschreibung prüfen, ob das Präparat individuell geeignet ist und eventuell ein besseres auswählen. Im Gegensatz zu Österreich hat sich Südtirol bereits entschlossen, das System von PharmGenetix ins öffentliche Spitalwesen zu integrieren: Seit Jänner wird es in sieben Krankenhäusern eingesetzt, zunächst in der Onkologie, ab Herbst auch in der Kardiologie und der Psychiatrie.

Dass pharmakogenetische Tests Nutzen stiften können, ist inzwischen durch Studien gut belegt, meist aus den USA. Die Arbeiten zeigen Benefits wie weniger Hospitalisierungen und Notfälle sowie Einsparungen von bis zu 7000 Dollar pro Person. Seit Februar dieses Jahres liegt auch eine große europäische Studie dazu vor, die im Fachjournal „The Lancet“ erschien. Fast 7000 Personen, darunter aus Österreich, Slowenien, Italien und Griechenland, wurden dafür drei Monate in ihrem Alltag beobachtet. Bei einer Gruppe fand vor der Einnahme ihrer Medikamente ein genetisches Screening statt, bei der anderen nicht. Bei Ersterer, so stellte sich heraus, traten um rund 30 Prozent weniger unerwünschte Wirkungen auf.

Wolfgang Schnitzel schlug auch der Österreichischen Gesundheitskasse das Testsystem vor. Das Interesse war eher lauwarm.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft