Medizin: Neue Erklärung für das rätselhafte Reizdarmsyndrom
Der Puls ist ruhig. Die Ärzte beobachten den Monitor, der die Herz-Kreislaufwerte aufzeichnet. Professor Annette Fritscher-Ravens nickt. Die Patientin liegt im Kurzschlaf. Langsam führt die Ärztin das Endomikroskop über Mund und Speiseröhre durch den Magen bis in den angrenzenden Zwölffingerdarm. Im flexiblen Schlauch steckt ein Lasermikroskop, das eine 1000-fache Vergrößerung der Oberfläche des Darms liefert. Die Patientin merkt vom gesamten Vorgang nichts. Sie schlummert ruhig dank Propofol, eines bei Gastroskopien für die tiefe Sedierung eingesetzten Medikaments.
Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel könnte in Bezug auf die Reizdarmdiagnostik gerade ein Meilenstein gesetzt werden. Hier forscht das Team unter Fritscher-Ravens an einem weltweit einzigartigen Test, der Akutreaktionen auf Nahrungsmittel an der Darmwand noch während der Untersuchung sichtbar machen kann. Damit sollte man bei der schwierigen Reizdarmdiagnostik einen großen Schritt vorankommen, und Reizdarmpatienten könnten sich eine weitere, oft jahrelange diagnostische Odyssee von Arzt zu Arzt ersparen.
Der Untersuchungsraum wird verdunkelt. Vier Monitore zeigen den Ablauf der Gastroskopie. Im Zentrum steht der Endomikroskopietower. Sein Herzstück ist ein miniaturisiertes konfokales Mikroskop, integriert in ein Endoskop. Mit diesem Laserendomikroskop steht seit Kurzem ein einzigartiges Bildgebungsverfahren zur Verfügung: Mit dem Gerät können entzündliche Zellen und Gefäßveränderungen mit hoher Präzision bis auf Zellebene dargestellt und sofort beurteilt werden. Histologie in vivo nennen das die Ärzte. "Blaues Laserlicht interagiert mit einem Kontrastmittel, das wir der Patientin vorher gespritzt haben“, sagt Jens Heckhäuser, Fachkrankenpfleger für Endoskopie, während er mit dem Endomikroskop einen leuchtend hellen Fleck auf seine Hand projiziert.
Lebensqualität stark eingeschränkt
Das Reizdarmsyndrom ist eine ebenso unangenehme wie rätselhafte Erkrankung. Betroffene leiden unter einer gestörten Verdauung, an Blähungen und Bauchkrämpfen, an Durchfall oder Verstopfung, oft auch an beidem abwechselnd. Zum Reizdarmpatienten wird man nach einem Marathon von Arztbesuchen, Untersuchungen und mehreren Magen- und Darmspiegelungen, die ohne erkennbaren krankhaften Befund bleiben. Oftmals lautet der ärztliche Therapievorschlag dann: entspannen und damit abfinden. Die Lebensqualität ist stark beeinträchtigt, die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Kurz: RDS ist ein schickes Kürzel für ein ausgesprochen ödes und oft schmerzhaftes Leiden.
Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung sind betroffen, schätzen Ärzte. In Österreich leiden damit eine knappe Million, im Nachbarland Deutschland mindestens acht Millionen Menschen unter RDS. Reizmagen und Reizdarm würden bereits knapp die Hälfte aller Konsultationen bei Gastroenterologen ausmachen und zählen zu den häufigsten Erkrankungen in der ärztlichen Praxis, schätzt Professor Hubert Mönnikes, Chefarzt der Inneren Medizin des Martin-Luther-Krankenhauses in Berlin.
Die RDS-Forschung machte in den vergangenen fünf, sechs Jahren immerhin Fortschritte. Es wurden ärztliche Leitlinien, also aktuell gültige Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie, erstellt. Ein Reizdarm liegt vor bei Beschwerden von zumindest drei Monaten, für die bei Routinekontrollen keine Ursache gefunden wurden, verbunden mit einer Symptomschwere, die die Lebensführung relevant beeinträchtigt - so die Definition laut Peter Layer, Chefarzt am Israelitischen Krankenhaus in Hamburg, unter dessen Leitung die deutsche Leitlinien-Konferenz stattfand.
Der lange Zeit extrem vernachlässigte Reizdarm wurde in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Schwerpunktthema auf den internationalen Kongressen. Geforscht wird jetzt in allen relevanten Bereichen: zu motorischen Funktionsstörungen im Darm, entzündlichen Veränderungen auf der Schleimhaut, zu Störungen im Mikrobiom und zum Einfluss der Psyche. Aber alles fokussiert sich auf die Frage: Was ist die wahre Ursache?
Suche nach dem Auslöser
Einen alles entscheidenden Auslöser, eine Art Hauptschalter, konnten die Wissenschafter zwar noch nicht identifizieren. Doch immerhin liegen inzwischen einige plausible Erklärungen vor, die sich dem Kern des Problems zu nähern scheinen. Schon lange stehen Reaktionen auf Nahrungsmittel im Verdacht, besonders auf Weizen. Weltweit erforschen Mediziner Zöliakie, Glutenunverträglichkeit und Weizenallergien. Doch viele RDS-Patienten bekommen Darmprobleme, obwohl sie weder an Zöliakie noch an einer Weizenallergie leiden - an Symptombildern, die zuletzt eher schon als vorschnelle Modediagnosen belächelt wurden. Ärzte sprechen in dem Fall von einer Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität. Ein langer Name für eine vielleicht tatsächlich neue Krankheit. Ist diese spezielle Form einer Weizensensitivität nun des Rätsels Lösung? Bei der Suche nach dem Auslöser rückt nun jedenfalls doch wieder das Klebereiweiß Gluten in den Fokus: Das Protein steht als Triggerfaktor für eine vermehrte Durchlässigkeit der Darmwand im Verdacht. Bei dem auch "Leaky Gut Syndrome“ genanntem Syndrom gelangen auch Toxine und Bakterien in den Organismus.
Detlef Schuppan, Experte für Molekulare und Translationale Medizin in Mainz mit einer Professur an der Harvard Medical School in Boston, hatte ebenfalls zuerst Gluten im Visier. Dann wurde er bei einer anderen Proteingruppe fündig: Amylase-Trypsin-Inhibitoren, kurz ATIs, halten als natürliche Bestandteile im Weizen Fraßschädlinge ab, können aber auch entzündliche Prozesse im menschlichen Körper verstärken. Ein erhöhter ATI-Gehalt in Hochleistungssorten könnte hinter der neuen Weizensensitivität stecken, vermutet Schuppan.
Australische Forscher wiederum berichteten, dass es ihren Patienten, obwohl diese keine Reaktion auf Gluten zeigten, ohne Weizenkost dennoch wesentlich besser ging. Nach ihrer Hypothese wären diverse Zucker die Auslöser für RDS-Beschwerden: Mit FODMAPs wird eine Gruppe schwer verdaulicher Kohlenhydrate bezeichnet, die in Milch- und Fruchtzuckern und in vielen Getreidearten vorkommen. Diese Zucker werden, so die These, bei RDS-Patienten nicht vollständig aufgenommen, die Bakterien fallen im Dickdarm darüber her und fermentieren sie. Die Folge sind Gasbildung und Durchfälle.
Um den riesigen Komplex der möglichen Auslösefaktoren für RDS zu erfassen, werden auch Enzyme und Emulgatoren in der Nahrung sowie deren Zusammenwirkung im Gesamtpaket in Betracht gezogen. So zeigte eine Studie, dass die Emulgatoren Carboxymethylcellulose und Polysorbat 80 Erkrankungen der Darmflora hervorrufen können. Beide Stoffe sind in der EU zugelassen. E 466 und E 433 kommen etwa in Desserts, Kuchen und Cremes vor.
Mögliche Problemstoffe getestet
Die Forscher am Uniklinikum Kiel konzentrieren sich bei ihrer Arbeit auf die Annahme, dass Nahrungsmittel ungünstigen Einfluss ausüben - was mit der bisherigen Diagnostik aber nicht nachweisbar war. Im Rahmen einer Studie testen sie nun der Reihe nach mögliche Problemstoffe: Soja, Hefe, Weizen, Milch. "Die Substanzen werden durch den Arbeitskanal des Endoskops auf die Schleimhaut gesprüht“, erklärt Annette Fritscher-Ravens, äußerst vorsichtig das Endoskop führend, immer mit Blick auf den zentralen Monitor. Dort ist in mikroskopisch kleiner Auflösung die Schleimhaut des Zwölffingerdarms zu sehen. Wie werden die Zellen reagieren? "Hat sie eine Unverträglichkeit gegenüber diesem Nahrungsmittel, können wir sehen, wie die Zellen förmlich aufgehen und das Fluorescein aus den Zellen entweicht.“ Nichts passiert. Nacheinander gibt die Professorin Milch, Hefe und Eiweiß auf die Schleimhaut des Zwölffingerdarmes. Zuletzt wird Weizen eingespült. Sofort ist die Reaktion sichtbar: Kleine helle Wölkchen erscheinen auf der Darmoberfläche. Helle Eruptionen, obzwar mikroskopisch klein, doch einwandfrei zu sehen. Die Zellverbände in den Darmzotten brechen auf und setzen das Kontrastmittel frei. Als Reaktion auf Weizen entstehen Defekte an den Epithelzellen im Darm - in Echtzeit zu sehen.
Die Doktorandin Marie Mösinger erklärt die Vorgänge: "Im Normalfall sorgen Proteinverbindungen zwischen den Zellen für eine funktionierende Barriere. Die auch Tight Junctions genannten Verbindungen lassen nur sehr selektiv Stoffe wie etwa einzelne Nahrungsbestandteile durch die Zwischenräume. Bei einer gestörten Barriere kommt es durch den Funktionsverlust jedoch zu einer erhöhten Permeabilität, also zu einer verstärkten Durchlässigkeit der Darmschleimhaut. Die Patienten haben dann nach dem Verzehr von Weizen Blähungen und Bauchschmerzen.“
Bis jetzt hat allerdings niemand je zuvor diese mikroskopisch kleinen Prozesse an Zellen der Darmoberfläche in Echtzeit dargestellt. Normalerweise wurden im Anschluss an eine Gastroskopie Proben genommen und zur Untersuchung in die Pathologie schickt. Viele Stunden später ist eine solche dynamische Reaktion aber nicht mehr nachweisbar, und die Patienten erhalten einen negativen Befund. Sie suchen dann verzweifelt nach anderen Ursachen. "Mit der Laserendomikroskopie zeigen wir erstmals die dynamische Veränderung von Zellen auf Nahrungsmittel, eines Krankheitsprozesses, der sich sehr schnell abspielt, sehr kurzfristig ist, aber eben deutliche Beschwerden im Körper hinterlässt“, erklärt Fritscher-Ravens. Mindestens ein Drittel der Reizdarmpatienten, so belegen die Daten der Kieler Studie inzwischen, reagiert auf bestimmte Nahrungsmittel.
Gewebsproben und Spülflüssigkeiten aus dem Darm werden zusätzlich auf bestimmte Zellen analysiert, die für Reaktionen auf Nahrungsmittel verantwortlich sein können. Außerdem werden Blutproben an Prof. Schuppan zur Universitätsmedizin Mainz geschickt, wo sie auf bestimmte Proteine überprüft werden. Die Forscher suchen nach Biomarkern, die eine verbesserte Reizdarmdiagnostik ermöglichen sollen, die dann auch in der Hausarztpraxis anwendbar ist. "Optimal wäre, eine Formel für Reizdarm zu entwickeln, eine Art Scoresystem mit einer Wahrscheinlichkeitsaussage für RDS, um die Diagnostik zu erleichtern“, sagt Mösinger.
"Ziel ist jetzt, mit einer weiteren Studie auch die Stresshormone unter dem Endomikroskop in Verbindung mit Weizen und Hefe zu untersuchen“, ergänzt Fritscher-Ravens. Die bisherigen Ergebnisse der Endomikroskopie sind bereits so aufschlussreich, dass sie international Nachahmer finden: Die amerikanische Mayo Clinic will diese Forschung übernehmen. "Unsere Methode könnte schon bald als anerkannte Methode zum Nachweis einer Nahrungsmittelintoleranz gelten“, hofft Fritscher-Ravens.
Literatur für den Bauch:
Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ. Giulia Enders, 288 Seiten, Ullstein Verlag 2014.
Scheißschlau: Wie eine gesunde Darmflora unser Hirn fit hält. David Perlmutter, 368 Seiten, Mosaik Verlag 2016.
Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit: Neueste Erkenntnisse aus der Mikrobiom-Forschung, Anne Katharina Zschocke, 368 Seiten, Knaur Verlag 2014.
Der Darm-IQ: Wie das Bauchhirn unser körperliches und seelisches Wohlbefinden steuert, von Joachim Bernd Vollmer, 240 Seiten, Integral Verlag 2014.