Medizinexperte Brand: "Flüchtlinge sind keine tickenden Zeitbomben"
profil: Im Zusammenhang mit den nach Europa kommenden Flüchtlingen treten immer wieder auch medizinische Fragen auf. Zum Beispiel: Was passiert, wenn in großen Unterkünften eine Grippewelle ausbricht? Könnte dies zu einer gefährlichen Epidemie führen? Helmut Brand: Wenn viele von den Strapazen der Flucht geschwächte Menschen auf engem Raum leben, besteht immer die Gefahr des Ausbruchs einer Infektionskrankheit. Die Flüchtlinge können unterernährt oder dehydriert sein, hatten womöglich Probleme mit der Hygiene. Sie sind dann natürlich anfällig für Viren. Auf die Flucht machen sich aber hauptsächlich junge, fitte Menschen. Sie erholen sich nach der Akutversorgung schnell.
profil: Besteht die Gefahr, dass eine Grippewelle auf die Allgemeinbevölkerung überschwappt? Brand: Für die Allgemeinbevölkerung besteht keine Gefahr. Wir sind alle in einem sehr guten Gesundheitszustand, wohlgenährt und haben eher mit Über- als mit Untergewicht zu kämpfen. Wir haben genug wirksame Medikamente. Wir leben nicht im 19. Jahrhundert, als ein Teil der Bevölkerung durch Tuberkulose dahingerafft wurde.
profil: Immer wieder geistert die Vorstellung umher, die Flüchtlinge könnten eventuell Krankheiten mitbringen. Sind solche Befürchtungen berechtigt? Brand: Nicht alle Diktaturen haben lausige Gesundheitssysteme. Eine Studentin hat für mich das Gesundheitssystem Libyens nach dem Fall Muammar al-Gaddafis recherchiert. Es sah nicht schlecht aus: Die Bevölkerung war durchgeimpft, es gab Statistiken über die Verteilung der Krankheiten. Libyen hatte ein ähnliches Krankheitsschema wie Westeuropa. Inzwischen ist das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Nach vier Jahren Bürgerkrieg gibt es kein Impfprogramm mehr. Grundsätzlich gilt: Flüchtlinge sind keine tickenden Zeitbomben. Sie haben keine Defizite, die man nicht ausgleichen könnte.
profil: Sind Flüchtlinge langfristig eine Belastung für unsere Gesundheitssysteme? Brand: Die Flüchtlinge sind jung. Alterskrankheiten kann durch Vorsorge ebenso vorgebeugt werden wie bei der Durchschnittsbevölkerung. Sie zahlen, sobald sie einen Job haben, ebenso ins System ein wie wir. Natürlich werden Probleme auftauchen, auf die wir ein Auge haben müssen. Ein Beispiel: Die jungen Türkinnen in der dritten Generation in Deutschland sind selbstbewusste Frauen, die voll in den Arbeitsmarkt integriert sind. Das Problem: Manche junge Türken zweiter oder dritter Generation können mit ihnen wenig anfangen. Sie sind oft schlechter ausgebildet und wünschen sich nicht selten ein Heimchen am Herd. Die Familien organisieren dann heiratswillige junge Mädchen aus der Türkei. Sie kommen mit 18 Jahren hier an und sprechen kein Wort deutsch.
Die Sprache des Gastlandes ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie das Gesundheitssystem funktioniert, und um es in Anspruch nehmen zu können.
profil: Und was kann man da tun? Brand: Wenn eine ältere türkische Dame an der Tür klingelt, darf sie der Hausherr nicht abweisen. Bei türkischen Einwanderern in Deutschland nutzt man diese Tradition. Geschulte ältere Türkinnen besuchen junge Frauen zu Hause und klären sie zum Beispiel über Vorsorgemaßnahmen in der Schwangerschaft auf. Man kann den kulturellen Unterschied nicht wegdiskutieren, sondern muss Strukturen nutzen, die es in der Gesellschaft der Zuwanderer gibt. Dieses Jahr hat die Initiative "MiMi - mit Migranten für Migranten“ unseren European Health Award dafür bekommen, dass sie bereits integrierte Migranten in Gesundheitsfragen geschult hat, um Neuankömmlinge zu beraten. Allerdings können diese Interventionen nur begleitend sein. Die Sprache des Gastlandes ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie das Gesundheitssystem funktioniert, und um es in Anspruch nehmen zu können.
profil: Im Internet gibt es Aufklärungsvideos für syrische Einwanderer. Brand: Der Journalist Constantin Schreiber, der viel in Syrien war und fließend arabisch spricht, erklärt Syrern in kurzen Videos auf n-tv, wie die Deutschen ticken. Schreiber geht auch an heiße Themen heran wie Sex vor der Ehe oder Homosexualität. Das hilft für den Anfang, langfristig müssen wir uns aber überlegen: Wie passen sich die Flüchtlinge an unser Gesundheitssystem an, und wie passt sich das Gesundheitssystem an sie an? Diese Frage wird uns die nächsten Jahre sicherlich europaweit beschäftigen.
profil: Mit welchen gesundheitlichen Problemen von Flüchtlingen müssen die europäischen Ärzte später rechnen? Brand: Mittelfristig müssen wir mit den psychischen Traumata umgehen. Zum einen betrifft das die Kinder, die viel durchgemacht haben, was sie gar nicht verarbeiten können. Es gibt Kinder, die plötzlich nur noch in der Küche unter dem Tisch schlafen können. In ihren Herkunftsländern war die Küche oft der einzige fest gemauerte Raum, und bei Bombenangriffen schlief die Familie eben dort. Manche Kinder beginnen zu stottern, andere machen plötzlich wieder ins Bett. Wenn wir es schaffen, den Kindern bei der Bewältigung ihrer Ängste zu helfen, haben sie gute Chancen, sich normal zu entwickeln. Noch weiß keiner, wie wir das organisieren sollen. Brauchen wir Psychologen dafür oder reicht es, im Kindergarten Screenings durch die Betreuerinnen durchführen zu lassen? Frauen waren oft von Gewalt und Vergewaltigungen betroffen. Wir werden Wege finden müssen, sie zu erreichen. Auch dazu ist wieder interkulturelle Kompetenz gefragt.
profil: Syrische oder afghanische Ärzte, Schwestern und Pfleger werden schlecht in den Arbeitsmarkt integriert. Gibt es Pläne auf EU-Ebene, das zu ändern? Brand: In manchen dieser Länder übernahm das Pflegepersonal wesentliche Aufgaben der Krankenversorgung, weil es weniger Ärzte gab. Man sollte ihr Können deshalb auf keinen Fall unterschätzen. Denn auch in Europa ändern sich derzeit die medizinischen Berufsbilder. In den Niederlanden führt man gerade die Gemeindeschwester wieder ein, auch in Österreich herrscht akuter Ärztemangel auf dem Land. Häusliche Pflege ist meistens keine hochtechnologische Angelegenheit, das kann eine syrische Krankenschwester ebenso wie eine österreichische. Vielleicht hat die syrische Schwester sogar öfter und unter schlechteren Bedingungen Verbände gewechselt. Nach der Wende in Deutschland waren wir immer froh, eine ostdeutsche Schwester auf der Station zu haben. Diese Frauen waren in Improvisation unschlagbar. Innerhalb von drei Minuten wurde aus einem Kleiderhaken ein Infusionsständer. Manche Länder in der EU arbeiten an Plänen, syrische Ärzte ein Jahr unter Aufsicht auf den Stationen im Krankenhaus mitarbeiten zu lassen. Eine gute Idee, die wir schnell umsetzen sollten. Langfristig würde ich sagen: Die Integration im Gesundheitsbereich kriegen wir geregelt.
profil: Sie beschäftigen sich als Präsident des European Health Forum Gastein auch mit der Bewältigung von Naturkatastrophen und Terroranschlägen. Gibt es europaweite Notfallpläne? Brand: In den zwischenstaatlichen Grenzregionen gibt es bereits eine gute Zusammenarbeit von Rettungskräften. Bei der Explosion einer Feuerwerksfabrik im niederländischen Enschede im Jahr 2000 kooperierten die deutschen und niederländischen Feuerwehren hervorragend. Bis das so problemlos ging, war es ein weiter Weg. Wenn ein Rettungswagen aus den Niederlanden früher mit dem Signalhorn einen Patienten über die Grenze in ein Aachener Krankenhaus fuhr, weil es das nächstgelegene war, entstanden streng genommen rechtliche Probleme: Der Rettungsfahrer schmuggelte Drogen in Form von Betäubungsmitteln über die Grenze, das Auto schmetterte das falsche Signal, und die Rettungskräfte verrichteten Tätigkeiten, die in Deutschland Ärzten vorbehalten sind. Bis diese rechtlichen Probleme zwischen den Ländern gelöst wurden, half es oft nur, sich taub zu stellen und zu handeln. Aus diesem Pragmatismus in den Grenzregionen sind schon viele nützliche Ideen entstanden. Die einheitliche EU-Notrufnummer 112 wurde so entwickelt. Beim Katastrophenschutz europaweit zu kooperieren, hat Sinn.
Bestimmte Symptome werden von Notaufnahmen und Hausärzten erfasst und analysiert. So lassen sich zum Beispiel Grippewellen gut vorhersagen.
profil: Wie funktioniert das konkret? Brand: Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001 wurden sieben Briefe mit dem Milzbranderreger Anthrax verschickt. Dafür gab es kein Überwachungssystem wie für die Grippe. Auf Anthrax reagiert der Körper mit plötzlichem hohem Fieber. Die New Yorker Gesundheitsbehörde hat dann begonnen, jeden Abend alle Krankenhäuser abzufragen, ob Patienten mit plötzlichem hohem Fieber in die Notaufnahme gekommen waren, und konnten so überwachen, ob es irgendwo einen Anthrax-Anschlag gab. Wir in Europa haben ebenfalls eine Symptomüberwachung entwickelt, die das eigentlich nicht Vorhersagbare messen kann. Bestimmte Symptome werden von Notaufnahmen und Hausärzten erfasst und analysiert. So lassen sich zum Beispiel Grippewellen gut vorhersagen. Weitere Hinweise liefern Suchmaschinen wie Google. Wenn man die Suchbegriffe für Grippe verfolgt, sieht man bis zu zwei Wochen vor Beginn einer Grippewelle einen großen Anstieg von Anfragen zu Fieber, Gliederschmerzen und Kopfweh. Das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sammelt all diese Daten.
profil: Was passiert, wenn das ECDC eine Grippewelle anrollen sieht? Brand: Dann laufen die Empfehlungsprogramme in den Nationalstaaten an. Kleinen Kindern und älteren Menschen werden Impfungen angeraten. Es ist auch sinnvoll, wenn größere Betriebe Impfungen anbieten, weil sich Grippewellen dadurch abschwächen lassen. Interessant wird es auf europäischer Ebene, wenn es richtig schwere Epidemien gibt. Würden dann beispielsweise die Niederländer beschließen, den Flughafen Amsterdam zu schließen, um die Verbreitung eines Virus einzudämmen - was würde geschehen? Die meisten Leute würden dann von Brüssel oder Düsseldorf fliegen. So ein Problem bekommt man nur in den Griff, wenn alle zusammenarbeiten. Entweder machen alle Flughäfen dicht oder keiner, sonst bringt es nichts. Als vor zwei Jahren in Asien die Vogelgrippe nachgewiesen wurde, waren in Europa Medikamente wie Tamiflu vorrätig, Pläne für konkrete Maßnahmen waren ausgearbeitet. Zum Glück kamen sie nicht zum Einsatz. Auf Pläne für die Schließung von Flughäfen konnte man sich allerdings nicht einigen.
profil: Warum hat uns dann der Ausbruch von Ebola Anfang 2014 so unvorbereitet getroffen? Brand: Der Grund für die rasante Verbreitung war die extrem schlechte Situation in den afrikanischen Staaten, in denen Ebola ausbrach. Desolate, heruntergewirtschaftete Gesundheitssysteme können nur schlecht mit Seuchen fertigwerden. Für Europa haben wir das Gefährdungspotenzial von Ebola trotz allem als sehr gering eingestuft, womit wir richtiglagen. Bis auf ein paar aus Afrika zurückgekehrte Helfer gab es keine Erkrankten in Europa. Käme es dennoch irgendwann zu Ebola-Infektionen, könnten wir die Ausbreitung des Virus hier durch Isolation sehr schnell stoppen.
profil: Gibt es Versuche, in Afrika Frühwarnsysteme für Ebola zu installieren? Brand: Es gibt viele Versuche. Aber solange in vielen afrikanischen Staaten unfähige und korrupte Regierungen an der Macht sind, kommt das Geld nicht an den richtigen Stellen an. Die beste Prävention gegen Ebola wären stabile staatliche Strukturen. Die zweite Hoffnung sind Impfungen. Ebola gehörte bis zur Epidemie 2014 zu den sogenannten vernachlässigten Krankheiten, um die sich die Pharmaindustrie aus Kostengründen nicht kümmerte. Das hat man nun nachgeholt, und mittlerweile sind die ersten Impfstoffe verfügbar. Die Ebola-Epidemie hat die Schwächen unseres derzeitigen Systems aufgezeigt. Die Welt wird immer kleiner, Menschen und Güter werden immer mobiler. Auch in Afrika hat sich die Infrastruktur so verbessert, dass lokale Epidemien nicht mehr lokal bleiben.
Trinkwasser großflächig zu vergiften, ist theoretisch möglich, aber nicht einfach.
profil: Wenn nicht Ebola, was sind dann die großen gesundheitlichen Bedrohungen für Europa? Brand: Am meisten Sorge bereiten aus Asien kommende Zoonosen, also von Tieren auf Menschen übertragene Krankheiten. Wir in Europa gehen mit Tieren sehr streng um, Hongkong oder Singapur ebenfalls. Wenn in einem Stall eine Seuche ausbricht, werden vorsorglich alle Tiere getötet, um eine Weiterverbreitung zu vermeiden. Im restlichen Asien ist das anders. Es gibt dort zum Beispiel eine enorme Geflügeldichte. Hühner und Gänse werden im Wohnzimmer gehalten. Kamele können die gefährliche Atemwegserkrankung MERS auf den Menschen übertragen, womit auch die arabischen Länder Gefährdungspotenzial haben. Durch die rege Reisetätigkeit sind Krankheiten schnell überall. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine größere Pandemie ausbricht. Es gibt den Ansatz One Health, also Tier- und Menschengesundheit zusammen zu betrachten. Das läuft allerdings noch ein wenig schleppend. In der EU-Kommission kümmern sich derzeit nur ein paar Beamte um diesen Bereich. Das muss dringend ausgebaut werden. Eine weitere Gefahr ist die Verunreinigung von Lebensmitteln.
profil: Wie zum Beispiel der EHEC-Skandal 2011 in Deutschland. Brand: Das ist gutes Beispiel dafür, wie es nicht funktioniert. Zuerst wurden Gurken verdächtigt, den pathogenen Stamm des Darmbakteriums Escherichia coli übertragen zu haben, schließlich wurde Sprossengemüse als Übeltäter identifiziert. Die Suche nach dem Auslöser dauerte viel zu lange. Die zuständige Landesministerin sagte damals etwas anderes als die nationale Ministerin. Unterschiedliche Kompetenzen in den Mitgliedsstaaten machen das Management nicht leichter. Dadurch kam die Frage auf: Soll das ECDC in Stockholm nicht nur, wie bisher, die Risikobewertung und das Monitoring übernehmen, sondern auch eingreifen können? Davon ist man wieder abgekommen. Eine der derzeit wichtigsten Aufgaben von EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis ist der Ausbau von EU-Kapazitäten im Bereich verunreinigter Lebensmittel.
profil: Auch die Angst vor Terror ist groß. Müssen wir uns zum Beispiel vor Anschlägen auf Wasserversorgungsnetze fürchten? Brand: Trinkwasser großflächig zu vergiften, ist theoretisch möglich, aber nicht einfach. Um einen Erreger in großer Menge zu züchten und ihn in der richtigen Dosis ins System zu schleusen, bedarf es einer ausgefeilten Logistik, großen Fachwissens und höchster krimineller Energie. In vielen Staaten gibt es viele kleine, autarke Wasserversorgungsanlagen. Um einen Effekt zu erzielen, muss man an ganz vielen Orten gleichzeitig sein. Selbst der sogenannte Islamische Staat würde das nicht hinkriegen.
Helmut Brand, 58, Der deutsche Mediziner war 13 Jahre lang Direktor des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit in Nordrhein-Westfalen, seit 2008 ist er Professor für Europäische Gesundheitswissenschaften an der Universität Maastricht. Seit 2012 leitet Brand das European Health Forum Gastein, den jährlich im Pongau stattfindenden Gesundheitskongress für Experten und Entscheidungsträger der EU. Brand berät die Europäische Kommission in den Bereichen Öffentliche Gesundheit und Sozialmedizin.
Seuchenherde
Epidemien, Pandemien und Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre.
2003 SARS: Lungenkrankheit, 8000 Erkrankte, 800 Tote, hauptsächlich in Asien
2003, 2006 Vogelgrippe H5N1: 200 Millionen tote Vögel; 270 erkrankte Menschen, 165 Tote in Asien
2009 Listeriose: Durch Listeria-Bakterien in Lebensmitteln (Quargel) ausgelöste Infektionskrankheit, 25 Erkrankte, 8 Tote, Österreich und Deutschland betroffen
2009 Schweinegrippe H1N1: Jeder fünfte Mensch weltweit infiziert, 18.100 Tote, weltweite Verbreitung
2011 EHEC: Darmbakterium, löst schwere Durchfallerkrankungen aus, 4047 Erkrankungsfälle und 53 Tote, hauptsächlich in Frankreich und Deutschland
2012 MERS-Coronavirus: Löst schwere Atemwegsinfekte aus, 1621 Erkrankte, 584 Tote im Nahen Osten
2014 Ebola: 26.000 Infizierte, 11.000 Tote in Afrika
2014/15 Chikungunyafieber: 1,4 Millionen Erkrankte, 190 Tote, Auftreten vorwiegend in Zentral- und Südamerika sowie in der Karibik
Quellen: APA, WHO