Medizingeschichte: Wie Pandemien enden
Liu Jianlun checkte am 21. Februar 2003 in Zimmer 911 des Hotels Metropark Kowloon in Honkong ein. Ein paar Tage zuvor hatte sich der 64-jährige Mediziner aus China krank gefühlt, nachdem er in Guangzhou Patienten mit mysteriösen Atemwegssymptomen behandelt hatte. Liu schluckte Antibiotika und dachte, fit für die Reise zu sein. Das war ein Irrtum. Er bekam in der ersten Nacht im Hotel hohes Fieber und begab sich tags darauf in ein Spital. Bis dahin steckte er 16 Gäste des Hotels mit einer Krankheit an, die heute als SARS bekannt ist. Diese Gäste trugen das Virus an Bord von Flugzeugen in den nächsten 72 Stunden in sieben weitere Länder. Später konnten rund 4000 Infektionen auf das Superspreading-Ereignis im Metropark zurückgeführt werden – ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die globale Vernetzung heute einen Krankheitserreger in kürzester Zeit über die ganze Welt verteilen kann.
Das Coronavirus SARS-CoV erreichte fast alle Kontinente, infizierte rund 8000 Personen und tötete knapp 800 – bevor es nach ein paar Monaten im Juli 2003 einfach verschwand. Was für ein Unterschied zu seinem Nachfolger, mit dem es genetisch zu 80 Prozent ident ist: SARS-CoV-2 hat die größte Pandemie seit der Spanischen Grippe verursacht.
Weshalb erzeugte die eine Infektionskrankheit bloß rasch erlöschende Strohfeuer, während die andere den Planeten in die Knie zwingt? Der Fall der beiden Coronaviren zeigt, dass kleine Faktoren darüber entscheiden. SARS, wiewohl auch sehr ansteckend, vermehrt sich vor allem in den unteren Atemwegen, sein Nachfolger auch im Rachenraum, was eine Übertragung deutlich effektiver macht. Bei SARS waren Infizierte etwa zehn Tage nach Krankheitsbeginn besonders infektiös, SARS-CoV-2 hingegen wird häufig von symptomfreien Personen übertragen, die nichts von ihrer Infektion wissen und uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Vielleicht spielte blanker Zufall auch eine Rolle – etwa indem nicht viele Superspreader wie Liu an kritischen Orten auftraten. SARS ließ sich jedenfalls mit Maßnahmen einfangen, die damals in unseren Breiten jenseits aller Vorstellungskraft waren, heute aber Alltag sind: Isolation ganzer Stadtteile, Maskenpflicht, Schließung von Schulen und öffentlichen Einrichtungen.
Um Pandemien handelt es sich in beiden Fällen. Denn mit einer Pandemie ist die Welt laut Definition konfrontiert, wenn ein Erreger auf allen Kontinenten (außer der Antarktis) auftritt. Die Bedrohlichkeit des Erregers ist kein Merkmal. Daher war die Schweinegrippe 2009, die trotz einer Opferzahl von 200.000 Personen relativ mild verlief, eindeutig eine Pandemie. Das Ebola-Virus dagegen, das an die 50 Prozent der Infizierten auf grausame Weise tötet, verursachte nie eine Pandemie. Gerade die Schwere der Erkrankung steht dem entgegen: „An Ebola Erkrankte sind einfach nicht mehr in der Lage zu reisen“, sagt der Wiener Virologe Norbert Nowotny. „Zoonosen, die Menschen rasch töten, kommen nicht weit.“ Daher blieben Ebola-Ausbrüche trotz aller Tragik reginal beschränkt. Es waren Epidemien.
Welche Umstände und Einflüsse sind aber generell dafür verantwortlich, dass eine Pandemie wieder endet, gleich welchen Ausmaßes und Schreckens? Vielleicht verraten die Verläufe früherer Seuchen, wann wir die aktuelle Coronaviruspandemie überstanden haben könnten?
Ein Leben inmitten von Seuchen
An Beispielen aus der Geschichte mangelt es nicht. In der behaglichen Welt des 21. Jahrhunderts, in der scheinbar alles kontrollierbar ist, mag das Faktum, dass ein Virus unser Leben dominiert, als Zumutung erscheinen, doch die längste Zeit war die Gegenwart tödlicher Seuchen eher Normalzustand denn Ausnahme. Über Dekaden setzten Pest, Cholera, Typhus, Influenza und die Pocken den Menschen mitunter gleichzeitig zu. Mitte des 14. Jahrhunderts entvölkerte der Schwarze Tod, verursacht durch das Bakterium Yersinia pestis, ganze Städte und brachte vermutlich mindestens ein Drittel aller Europäer um. Mindestens drei große Pestausbrüche erfassten die gesamte Welt, wobei deren erster, die justinianische Pest, zugleich als erste nachgewiesene Seuche pandemischen Ausmaßes gilt, zwei Jahrhunderte währte und es ab dem Jahr 541 auf immerhin 18 Wellen brachte. Das Cholerabakterium wiederum rief allein seit den 1830er-Jahren sieben Pandemien hervor. Mit anderen Worten: Die längste Zeit war es alltäglich, von Seuchen unzingelt zu sein.
Eine zentrale Lehre aus der Vergangenheit lautet: Bisher ging noch jede Pandemie vorbei – selbst wenn es die Menschen, wenn sie gerade mitten im Desaster steckten, kaum mehr für möglich hielten. Allerdings: Bis auf sehr wenige Ausnahmen werden wir die Auslöser der Infektionskrankheiten nie mehr los. „Praktisch jedes Pathogen, das die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden betroffen hat, ist immer noch unter uns“, erläutert Nükhet Varlik, Medizinhistoriker an der Rutgers University, in einer Analyse über das Ende von Pandemien. Ob Influenza-, Masern-, Gelbfieber- oder HI-Viren, ob Malaria, ob Pest- oder Cholerabakterium – keiner dieser Erreger ist je wieder verschwunden. Und es besteht kaum mehr ein Zweifel, dass uns auch SARS-CoV-2 in Zukunft begleiten wird.
Eine große Ausnahme sind die Pocken. Es ist heute kaum vorstellbar, welches Leid diese durch das Variolavirus per Tröpfcheninfektion hervorgerufene Krankheit hinterließ. Nach konservativer Schätzung starben allein im 20. Jahrhundert 300 Millionen Menschen an den Pocken, die Todesrate unter Infizierten beträgt rund 30 Prozent. Besonders grausam wüteten die Pocken unter der indigenen Bevölkerung Amerikas. Deren Immunsystem traf das von Europäern im 16. Jahrhundert eingeschleppte Virus völlig unvorbereitet, manchen Schätzungen zufolge starben mehr als 90 Prozent daran.
Seit 1979 ist die Welt pockenfrei. Das Pockenvirus ist (abgesehen von der Rinderpest) der einzige Erreger, der komplett ausgerottet wurde. Dass dies gelang, liegt zum einen am Virus selbst: Es wird ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragen. Es gibt keinen tierischen Wirt, in dem es unbemerkt überdauern könnte, um später wieder zu Ausbrüchen auszuholen. Das ist ein gravierender Unterschied zu Influenza- oder Coronaviren. Zum anderen jedoch zeigt sich bei keiner Infektionskrankheit der Nutzen des Impfens so deutlich: Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der Brite Edward Jenner gegen die Pocken die erste Immunisierung überhaupt, es war die Geburtsstunde der Impfungen. 1967 rief die Weltgesundheitsorganisation WHO eine bisher einzigartig erfolgreiche Impfkampagne aus, verbunden mit einer Impfpflicht auch in Österreich, um das Virus vom Erdball zu tilgen. Zimperlich gingen die Behörden dabei oft nicht vor: Ein WHO-Mitarbeiter berichtete, dass zum Beispiel in Bangladesh einfach Haustüren aufgebrochen und Menschen gewaltsam geimpft wurden. In jedem Fall war der Feldzug gegen die Pocken die wohl effektivste gesundheitspolitische Maßnahme aller Zeiten. Als großer Vorteil erwies sich, dass eine einzige Impfung lebenslang schützt. Diesen Gefallen machen uns Influenza- oder Coronaviren leider nicht.
Auch beim Polio- und Masernvirus bestünde grundsätzlich die Chance einer Eliminierung, da beide ebenfalls nur im Menschen vorkommen. Polio ist immerhin in der westlichen Welt ausgelöscht, tritt aber in Krisengebieten wie Afghanistan nach wie vor auf. Abgesehen von dürftiger medizinischer Infrastruktur ist Polio, das Kinderlähmung verursachen kann, auch deshalb schwerer ins Visier zu nehmen, weil Infizierte oft keine oder erst spät Symptome zeigen – anders als die Pocken, deren Symptome in kürzester Zeit zweifelsfrei erkennbar sind. Bei den Masern wiederum sind es vor allem Impfgegner, deren Verweigerungshaltung wiederholt Epidemien aufflackern lässt und eine flächendeckende Ausrottung verhindert.
Masken und Quarantäne gegen die Pest
Bakterielle Erreger wie die Pest und die Cholera haben ihr pandemisches Potenzial zwar eingebüßt, sind allerdings keineswegs verschwunden. Die letzte Cholerapandemie brach 1961 aus, doch Epidemien mit zwischen 20.000 bis 140.000 Todesopfern pro Jahr treten noch heute auf. Die Pest indes wird gleichsam in Schach gehalten: beispielsweise durch systematische Überwachung von Nager- und Präriehundpopulationen in den USA, die nach wie vor Flöhe beherbergen, die das Bakterium Yersinia pestis übertragen können. Vor allem im Süden der USA kommt es vereinzelt immer wieder zu Infektionen von Menschen, die jedoch heute mit Antibiotika gut behandelbar sind. Zwischen 2010 und 2015 erfasste die WHO weltweit mehr als 3000 Pestfälle.
Doch den einstigen Schrecken hat die Pest längst verloren. In früheren Zeiten müssen sich furchtbare Szenen abgespielt haben. Aus dem antiken Konstantinopel ist überliefert, dass man angesichts riesiger Leichenberge resignierte und mit dem Zählen der Toten aufhörte – angeblich bei 230.000. Sechs Jahrhunderte lang war die Menschheit mehr oder minder ständig von der Pest betroffen, die durch Flohbisse (bei der Beulenpest) oder Tröpfchen von Mensch zu Mensch (bei der Lungenpest) weitergereicht wird – und zeigte Verhaltensweisen, die heute nicht unvertraut klingen: Aufgrund der Hilflosigkeit der Obrigkeit sank das Ansehen von Staat und Kirche. Die Menschen wollten die Sinnlosigkeit der Plagen nicht akzeptieren und suchten Schuldige in Minderheiten wie den Juden.
Warum gibt es keine Pestpandemien mehr? Zunächst lässt sich an der Pest gut ablesen, was geschieht, wenn man einen gefährlichen Erreger durch die Gesellschaft laufen lässt: Wenn schließlich zwei Drittel der Einwohner einer Stadt tot sind und der Rest entweder nach überstandener Krankheit immun ist oder von der Pandemie verschont blieb, gerät der Erreger mangels genügend empfänglicher Personen vorerst in eine Sackgasse. Ein sehr hoher Blutzoll stoppt die Ausbreitung von Infektionen. Zudem ersann man Maßnahmen, die uns heute wieder begleiten: Man trug Masken und lange Mäntel gegen Flohbisse, sperrte Kranke und Sieche in Isolierlager, Venedig erfand Regelungen wie die Quarantäne. Der Name rührt daher, dass sie üblicherweise für 40 Tage verhängt wurde.
Langfristig war die Verbesserung von Hygiene und Wohnverhältnissen ausschlaggebend. Wenn Menschen weniger gedrängt wohnen und Schädlinge bekämpfen, sinkt das Risiko für Übertragungen. Außerdem wird debattiert, ob Veränderungen der Rattenpopulationen sowie des Bakteriums selbst die Gefahr zusätzlich senkten. Die Cholera wurde vorwiegend durch rigorose Hygiene eingedämmt: durch sauberes Trinkwasser und Kanalisation. Das ist Medizinpionieren wie Robert Koch und Max Pettenkofer zu verdanken, die den Erreger identifizierten und in Kommunen weitreichende Infrastrukturmaßnahmen durchsetzten.
Gab es unerkannte Corona-Pandemien?
Wenn wir allerdings wissen wollen, wie und wann die aktuelle Coronaviruspandemie enden könnte, müssen wir auf andere Infektionskrankheiten blicken. Für Vergleiche kommt vor allem die Influenza in Betracht. Die Viren unterscheiden sich zwar erheblich, weisen aber auch Parallelen auf: Beide stammen aus dem Tierreich, seien es Vögel oder Fledertiere, überwinden irgendwann die Artbarriere zum Menschen und grassieren eine Weile in der humanen Welt, bevor sie sich wieder ins tierische Reservoir zurückziehen – und später in veränderter Form womöglich erneut die menschliche Gesellschaft erreichen.
Am besten wäre natürlich der Vergleich mit einer anderen großen Coronaviruspandemie. Bloß mit welcher? SARS wurde nur wenige Monate alt, wiewohl das Virus gewiss im Tierreich schlummert. Und MERS, ein weiterer Verwandter, der 2012 erstmals auftrat und meist direkt von Dromedaren übertragen wird, ist zwar noch im Umlauf, aber vorwiegend auf den arabischen Raum beschränkt. Die wenigen Fälle in anderen Ländern – darunter zwei in Österreich – waren auf einzelne Reisende zurückzuführen.
Vielleicht gab es aber doch noch eine Corona-Pandemie: Manche Forschende diskutieren, ob die russische Grippe 1889 nicht auf ein Influenza-, sondern ein Coronavirus zurückging. Historische Ausbrüche sind oft nicht leicht zu rekonstruieren: Anders als heute war man nicht in der glücklichen Lage, einen Erreger in weniger Wochen genetisch komplett zu durchleuchten, und die zeitgenössischen Aufzeichnungen waren oft lückenhaft und wenig präzise. Bei der Spanischen Grippe gelang der Virusnachweis erst nach Jahrzehnten durch genetische Analysen exhumierter Opfer. Auch die Pest der Antike wurde auf diese Weise belegt.
Eine Denkschule geht davon aus, dass die russische Grippe mit rund einer Million Toten ebenfalls eine Coronaviruspandemie war – und der Erreger bis heute unter uns ist, wenn auch in stark abgeschwächter Form: in Gestalt des Coronavirus OC43, das banale Erkältungen auslöst, genau wie drei weitere Coronaviren, die uns regelmäßig in der kalten Saison Husten und Schnupfen einbrocken. Kann es sein, dass es in Wahrheit sogar mehrere unerkannte Coronaviruspandemien gab, deren Erreger eine Karriere von gefährlichen Viren zu harmlosen saisonalen Begleitern machten? Niemand weiß es, aber es wäre denkbar – und es könnte eine Blaupause dafür sein, was wir nun zu erwarten haben.
Wie eine Pandemie verblasst
Grippepandemien unterliegen ähnlichen Prozessen. Die gravierendste war jene der Jahre 1918 und 1919. Sie breitete sich zunächst in beengten amerikanischen Truppenlagern aus und vollführte mehrfach den Sprung nach Europa und wieder retour in die USA. Mit der üblichen saisonalen Grippe hatten die Auswirkungen dieses Influenzavirus wenig gemein. Erkrankte rangen nach Luft, zerrissen in Erstickungspanik Bettlaken, liefen blau und violett im Gesicht an. Die Ärzte konnten wenig unternehmen, man kannte damals nicht einmal den Erreger. Zwar waren virale Erkrankungen schon beschrieben, doch die Lehrmeinung ging von einem Bakterium als Auslöser aus. Erst später wurde klar, dass dieses bloß Sekundärinfektionen hervorrief. Tatsächlich schuld war ein Influenza-A-Virus mit der Bezeichnung H1N1, und es tötete im Zuge von drei Wellen mindestens 50 Millionen Menschen.
Influenzaviren haben eine unangenehme Eigenschaft: Sie sind nicht nur Mutationen unterworfen (wie auch Coronaviren), sondern können ganze Bausteine ihrer selbst mischen und neu zusammensetzen – und so neuartige Virentypen hervorbringen, was „Antigen-Shift“ heißt. Dies liegt daran, dass sie aus acht einzelnen RNA-Segmenten bestehen, während Coronaviren mit nur einem RNA-Strang auskommen. Viel spricht dafür, dass solch ein Ereignis die Spanische Grippe hervorbrachte. Wahrscheinlich gelangte das Virus von Wasservögeln zum Menschen – und traf auf komplett unvorbereitete Immunsysteme, die damit vorerst nicht zurechtkamen, durchaus vergleichbar mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. Der Mensch mag sich über Jahrtausende an allerlei Grippe- wie auch Coronaviren gewöhnt haben. Dennoch kann ihn ein neues Virus-Design plötzlich für eine Weile überfordern.
Wie endete die Spanische Grippe? Darauf gibt es drei Antworten, die interessanterweise alle richtig sind. Antwort eins: Sie endete zu Beginn der 1920er-Jahre und ebbte nach einer schwächeren vierten Welle sowie einigen lokalen Ausbrüchen allmählich ab. Antwort zwei: Sie endete abrupt 1919, weil die Menschen sie satt hatten. Das mag seltsam klingen, doch Pandemien können nicht nur medizinisch aufhören, sondern auch sozial, wenn die Welt gewissermaßen beschließt, sich trotz allen Horrors davor nicht mehr zu ängstigen, und das normale Leben wieder aufnimmt. Signale dafür sind auch im Moment unübersehbar. 1919 hatten die Leute nicht nur genug vom Krieg, sie hatten ebenso genug von Restriktionen, Isolation und Masken. Sie hatten genug von einer Pandemie, die zum Glück ohnehin am Auslaufen war.
Antwort drei: Sie endete überhaupt nicht. Denn schließlich war das Virus keineswegs verschwunden. „Das Ende einer Pandemie ist nicht das Ende des Virus“, formuliert der Oxford-Impfexperte Andrew Pollard. Allerdings trafen mehrere Faktoren zusammen, die das Bedrohungspotenzial des Erreges sukzessive minderten. Erstens war er wie die Pest um die Welt gelaufen und hatte einen Großteil der empfänglichen Personen schlicht getötet. Zum Vergleich: Die Opferzahl von Covid-19 beträgt bei enorm größerer Weltbevölkerung bisher zehn Prozent der Grippetoten. Die Überlebenden hingegen hatten die Infektion überstanden und Immunität erworben. Vermutlich veränderte sich aber auch das Virus selbst: Es dürfte zu milderen Varianten mutiert sein, was auch nicht ungewöhnlich wäre: Evolutionäres Ziel ist es schließlich, möglichst viele Wirte zu infizieren, aber nicht, sie zu töten, erklärt Virologe Norbert Nowotny.
Kurz gesagt: Zunehmende Grundimmunität plus ein schwächeres, aber nach wie vor zirkulierendes Virus machten aus einem hoch gefährlichen Pandemieerreger ein saisonales Grippevirus. Erst dessen genetische Nachfahren lösten neue Pandemien aus: die Asiatische Grippe 1957 sowie die Hongkong-Grippe 1968 mit jeweils rund einer Million Toten.
Es spricht sehr viel dafür, dass die Coronaviruspandemie nach einem ganz ähnlichen Muster enden wird: in Form eines allmählichen Aussschleichens, eines Fade out. Das Virus ist gleichsam gekommen, um zu bleiben, es wird aber nach und nach zu einem lästigen saisonalen Krankheitserreger degradiert. „Ich denke, dieses Szenario ist das wahrscheinlichste“, meint der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch. Im Fachjargon würde man sagen: SARS-CoV-2 wird mit der Zeit endemisch werden – zu einer regelmäßig auftretenden, in einer Gesellschaft verankerten Krankheit ohne dramatische Auswirkungen. Es ist gleichsam die letzte typische Stufe eines Downgradings von der Pandemie über gelegentliche Epidemien bis zum endemischen Auftreten.
Bloß eine Pandemie von vielen
Dazu trägt wesentlich bei, dass eine immer höhere Zahl an Menschen mehrfach geimpft ist und Immunität erworben hat. Selbst wenn der Schutz nicht hundertprozentig ist und man sich trotzdem infiziert, erwirbt man Schutz vor einer schweren Erkrankung und trainiert zugleich die Körperabwehr im Umgang mit einem anfangs unbekannten Erreger. Der Organismus lernt somit durch verschiedene Maßnahmen, damit zurechtzukommen, ähnlich wie bei der Grippe. Aus evolutionärer Sicht ist das auch im Interesse des Virus, weil es seinen Fortbestand sichert. Jene, die Impfungen auch künftig verweigern, werden sich nach und nach unweigerlich anstecken und erwerben, sofern sie die Infektion überstehen, ebenfalls Immunität.
Dauerhafte Immunität wird es allerdings ebenso wenig geben wie eine Herdenimmunität. Dazu sind Coronaviren zu wandlungsfähig, wenn auch nicht so sehr wie die Grippe. Wir werden uns also vermutlich immer wieder anstecken, und wir werden die Möglichkeit haben, uns mittels einer Impfung vor bedrohlichen Verläufen zu schützen.
In absehbarer Zeit wird die Coronaviruspandemie jedenfalls eine von vielen sein, mit denen die Menschheit in ihrer Geschichte zu ringen hatte, somit nichts Ungewöhnliches und schon gar nichts Einzigartiges. Bald wird sich die Wissenschaft vielleicht eher mit der Frage befassen, wie die nächste Pandemie aussehen wird und wie wir uns darauf vorbereiten können. Hochgradig wahrscheinlich ist für Nowotny, dass es „sich wieder um ein respiratorisches Virus handeln wird, also um eine Atemwegserkrankung“. Denn diese Wandlungskünstler haben am ehesten das Potenzial, leicht eine große Anzahl von Menschen zu infizieren.